91 Der kleine Vogel

Zwei Monate vor der Zeit, die wir erreicht haben, war Nelson felsenfest davon überzeugt gewesen, seine militärische Laufbahn ein für alle Mal beendet zu haben. Er hatte sich mit Lady Hamilton in die herrliche Landschaft von Merton zurückgezogen. Lord Hamilton war gestorben, und das einzige Hindernis eines Ehebunds der zwei Liebenden war die Existenz von Mrs. Nisbett, die Nelson einige Jahre zuvor geheiratet hatte.

Wie gesagt hatte Nelson nicht die Absicht, noch einmal in See zu stechen; der Triumphe überdrüssig, des Ruhmes müde, mit Ehrungen überhäuft, versehrt und verstümmelt, verlangte es ihn nur noch nach Einsamkeit und Frieden.

In der Hoffnung, beides in Merton zu finden, hatte er alles, was ihm lieb und teuer war, von London auf seinen Landsitz bringen lassen.

Die schöne Emma Lyon war sich der Zukunft gewisser denn je, als ein Blitzschlag sie aus ihren süßen Träumen riss.

Am 2. September 1805, keine zwölf Tage nach Nelsons Heimkehr, wurde um fünf Uhr morgens in Merton an die Tür geklopft. Nelson, der vermutete, dass es sich um eine Botschaft der Admiralität handelte, sprang aus dem Bett und ging den Besucher empfangen.

Es war Kapitän Blackwood (»schwarzes Holz«); er kam in der Tat von der Admiralität und brachte die Nachricht, dass die vereinigten Flotten Frankreichs und Spaniens, die Nelson so lange verfolgt hatte, im Hafen von Cadiz festsaßen.

Nelson, der Blackwood erkannte, rief: »Blackwood, ich wette, Sie bringen mir Neuigkeiten von den vereinigten Flotten und die Nachricht, dass ich sie vernichten soll.«

Nichts anderes sollte Blackwood ihm mitteilen, denn nichts anderes erwartete man von ihm.

Alle Zukunftsträume Nelsons hatten sich in Luft aufgelöst; er sah nichts anderes mehr vor sich als den kleinen Winkel der Erde oder eher des Meeres, der die vereinigten Flotten Frankreichs und Spaniens barg, und freudestrahlend sagte er immer wieder zu seinem Besucher: »Blackwood, Sie können sich darauf verlassen, dass ich Villeneuve einen Denkzettel verpassen werde, den er so bald nicht vergessen wird.«

Zuerst hatte er nach London abreisen und den Feldzug vorbereiten wollen, ohne Emma gegenüber auch nur ein Wort von der neuen Aufgabe zu verlieren, die ihm übertragen worden war.

Erst im letzten Augenblick wollte er ihr alles sagen. Doch da sie mit ihm zusammen das Bett verlassen hatte und ihr aufgefallen war, wie geistesabwesend er sich seit dem Gespräch mit Blackwood zeigte, führte sie ihn in einen Winkel des Gartens, den er ganz besonders liebte und den er seine Wachtbank nannte.

»Was beschäftigt Sie, mein Freund?«, fragte sie ihn. »Irgendetwas macht Ihnen Sorgen, und Sie wollen es mir nicht sagen.«

Nelson zwang sich zu einem Lächeln. »Was mich beschäftigt, ist, dass ich der glücklichste Mensch der Welt bin. Welche Wünsche sollte ich noch haben, der ich Ihre Liebe genieße und inmitten meiner Familie lebe? Ich würde weiß Gott keinen roten Heller dafür geben, dass der König mein Onkel wäre.«

Emma fiel ihm ins Wort. »Ich kenne Sie, Nelson«, sagte sie, »und Sie müssen sich keine Mühe geben, mich zu täuschen. Sie wissen, wo die gegnerische Flotte sich befindet, Sie betrachten sie als Ihre Beute, und Sie wären der unglücklichste aller Menschen, wenn ein anderer als Sie den tödlichen Schlag gegen sie führte.«

Nelson sah sie an, als wollte er sie etwas fragen.

»Nun denn, mein Lieber«, fuhr Emma fort, »vernichten Sie diese Flotte und beenden Sie, was Sie so gut begonnen haben; dieser letzte Schlag wird Sie für die zwei Jahre voller Mühen entschädigen, die Sie hinter sich haben.«

Nelson sah seine Geliebte noch immer schweigend an, doch auf seiner Miene begann sich eine Dankbarkeit abzumalen, die in Worten kaum auszudrücken gewesen wäre.

Emma sagte: »Mag der Schmerz Ihrer Abwesenheit mich noch so heftig treffen, bieten Sie Ihre Dienste Ihrem Vaterland an, wie Sie es stets getan haben, und brechen Sie unverzüglich nach Cadiz auf. Ihre Dienste wird man dankbar annehmen, und Ihr Herz wird seinen Frieden wiederfinden. Sie werden einen letzten und glorreichen Sieg erringen, und Sie werden in der glücklichen Gewissheit zurückkehren, hier Frieden und Würde vereint vorzufinden.«

Nelson sah sie noch immer schweigend an, doch nach einigen Sekunden rief er mit nassen Augen: »Hochherzige Emma! Gute Emma! Ja, du hast in meinem Herzen gelesen, ja, du hast meine Gedanken erraten. Ohne Emma gäbe es keinen Nelson. Du hast mich zu dem gemacht, der ich bin; noch heute werde ich nach London aufbrechen.«

Die Victory, mit dem optischen Telegraphen herbeibeordert, befand sich noch am gleichen Abend auf der Themse, und am nächsten Tag wurde alles für die Abreise vorbereitet.

Die Liebenden blieben noch zehn Tage lang zusammen. Die letzten fünf Tage verbrachte Nelson fast ausschließlich bei der Admiralität; am 11. September besuchten sie ein letztes Mal ihr geliebtes Merton, verbrachten den ganzen Tag des 12. Septembers ungestört und übernachteten dort.

Eine Stunde vor Tagesanbruch stand Nelson auf und ging in das Zimmer seiner Tochter, beugte sich über ihr Bett und betete leise und tränenreich, was ihn sehr erleichterte.

Nelson war ausgesprochen religiös.

Um sieben Uhr morgens verabschiedete er sich von Emma; sie begleitete ihn zu seinem Wagen; dort drückte er sie lange an sein Herz; sie weinte heftig, versuchte jedoch, durch die Tränen zu lächeln, und sagte: »Kämpfen Sie nicht, ohne den kleinen Vogel gesehen zu haben.«

Um einen Menschen zu ermessen, muss man ihn nicht in seiner Größe beurteilen, sondern in seinen Schwächen.

Dies ist die Legende von Nelsons kleinem Vogel: Als Emma Lyon zum ersten Mal den »Helden des Nils« erblickte, wie Nelson damals genannt wurde, kam er wie gesagt gerade von der Seeschlacht von Abukir zurück. Sie wurde ohnmächtig, als sie ihn umarmte. Nelson ließ sie in seine Kabine bringen, und als sie wieder zu sich kam, flog ein kleiner Vogel zum Fenster herein und setzte sich Horatio auf die Schulter.

Als Emma die Augen aufschlug, die vielleicht nie ganz geschlossen gewesen waren, fragte sie: »Was ist das für ein kleiner Vogel?«

Nelson lächelte und antwortete: »Das, gnädige Frau, ist mein guter Geist. Als dieser Baum geschlagen wurde, um zu einem Schiffsmast zu werden, war in seinen Zweigen ein Nest bengalischer Finken; jeder meiner Siege wurde mir von einem Besuch dieses bezaubernden kleinen Sängers angekündigt, wo ich mich auch befand. Zweifellos harrt meiner abermals ein Sieg, denn sonst würde der kleine Vogel mich nicht besuchen.

Aber der Tag, an dem ich mich in den Kampf begebe, ohne ihn am Vortag oder am Tag der Entscheidung gesehen zu haben, wird mein Unglück besiegeln, dessen bin ich mir gewiss.«

Und wahrhaftig verkündete ihm der kleine Vogel seinen schönsten Sieg, den Sieg über Emma Lyon.

Bei der Bombardierung Kopenhagens hatte ihn der Gesang des Vögleins geweckt, ohne dass er hätte sagen können, wie der Vogel in seine Kajüte gelangt war.

Deshalb hatte Emma nun zu ihm gesagt, er solle nicht kämpfen, ohne den kleinen Vogel gesehen zu haben.

Am nächsten Morgen hatte Nelson Portsmouth erreicht, und am 15. September war er in See gestochen.

Das Wetter war jedoch so schlecht, dass die Victory trotz Nelsons Ungeduld genötigt war, zwei ganze Tage in Sichtweite der englischen Küste zu kreuzen.

Diese Verzögerung erlaubte Nelson, vor seiner endgültigen Abreise der Geliebten zwei Briefe zukommen zu lassen, die voller Zärtlichkeit an sie und an ihre Tochter gerichtet waren, in denen sich jedoch auch traurige Vorahnungen bemerkbar machten.

Als das Wetter zuletzt günstig war, konnte er den Ärmelkanal verlassen, und am 20. September um sechs Uhr abends erreichte er die englische Flotte vor Cadiz, die aus dreiundzwanzig Linienschiffen unter dem Kommando Vizeadmiral Collingwoods bestand.

Am selben Tag war Nelsons sechsundvierzigster Geburtstag.

Am 1. Oktober schrieb er Emma in dem nachfolgend abgedruckten Brief, dass er sich mit Collingwood vereinigt hatte und dass ihn eine der nervösen Störungen quälte, die ihn immer wieder heimsuchten, seit er von einer Schlange gebissen worden war.

Sein Brief lautet:


1. Oktober 1805

Meine vielgeliebte Emma,

es ist mir ein Trost, zur Feder zu greifen und Ihnen ein paar Zeilen zu schreiben, denn gegen vier Uhr morgens hatte ich einen meiner schmerzhaften Krämpfe, der mir jede Kraft geraubt hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass einer dieser Anfälle mich eines Tages das Leben kosten wird. Doch der Anfall ist vorbei und hat nur ein Gefühl großer Schwäche hinterlassen. Seit sieben Uhr abends war ich mit Schreiben beschäftigt, und vermutlich hat die Erschöpfung den Anfall ausgelöst.

Am 20. September habe ich spätabends die Flotte erreicht und konnte mich erst am nächsten Morgen mit den anderen besprechen. Meine Anwesenheit wurde nicht nur vom Kommandanten der Flotte, sondern offenbar von jedem einzelnen Besatzungsmitglied begrüßt, und als ich den Offizieren meinen Schlachtplan dargelegt habe, war es für sie wie eine Offenbarung, die sie in Begeisterungsstürme ausbrechen ließ. Einige haben sogar Tränen vergossen. Es war etwas Neues, etwas Besonderes, etwas Einfaches, und wenn wir diesen Plan gegen die französische Flotte zur Anwendung bringen können, sollte der Sieg uns gewiss sein: ›Sie weilen inmitten von Freunden, die Ihnen vorbehaltlos vertrauen!‹, riefen alle Offiziere. Mag sein, dass es den einen oder anderen Judas unter ihnen gibt, doch die Mehrzahl ist zweifellos glücklich, dass ich sie anführe.

Soeben erhielt ich Briefe des neapolitanischen Königspaars als Erwiderung auf meine Briefe vom 18. Juni und vom 12. Juli. Kein Wort an Sie! Dieses Königspaar würde wahrlich sogar die personifizierte Undankbarkeit erröten machen! Abschriften dieser Briefe lege ich meinem Brief bei, der bei erster Gelegenheit nach England abgehen wird und Ihnen sagen wird, wie sehr ich Sie liebe.

Der kleine Vogel hat sich noch nicht gezeigt, aber ich habe keine Zeit vergeudet.

Mein verstümmelter Körper weilt hier; mein ganzes Herz weilt bei Ihnen.

H. N.

Genau einen Monat nachdem Nelson zu Collingwoods Flotte gestoßen war, erhielt Admiral Villeneuve wie gesagt von der französischen Regierung den Befehl, in See zu stechen, die Meerenge zu durchqueren, Truppen an der Küste Neapels abzusetzen und in den Hafen von Toulon zurückzukehren, nachdem er zuvor das Mittelmeer von allen englischen Schiffen befreit haben würde.

Die vereinigte Flotte aus dreiunddreißig Linienschiffen, achtzehn französischen und fünfzehn spanischen, zeigte sich erstmals am Sonntag, dem 20. Oktober, um sieben Uhr morgens bei leichtem Wind.

Am Vormittag desselben Tages schien das Seegefecht unmittelbar bevorzustehen, und Nelson schrieb zwei Briefe, einen an seine Geliebte, den anderen an Horatia.


Meine teuerste und vielgeliebte Emma, soeben erfuhr ich, dass die gegnerische Flotte den Hafen verlassen hat; der Wind ist sehr schwach, und ich habe wenig Hoffnung, sie vor dem morgigen Tag einzuholen; möge der Kriegsgott unsere Mühen mit einem überwältigenden Sieg krönen. Siegreich oder tot, ich vertraue darauf, dass mein Name Ihnen und Horatia nur umso teurer werden wird, denn ich liebe Sie beide mehr als mein Leben.

Beten Sie für Ihren Freund

NELSON


Dann schrieb er an Horatia:


An Bord der Victory, 19. Oktober 1805

Mein geliebter Engel, ich bin der glücklichste Mensch der Welt, seit ich Ihr Briefchen vom 19. September erhielt. Es freut mich sehr, dass Sie ein braves Mädchen sind und dass Sie meine teure Lady Hamilton gern haben, die Sie abgöttisch liebt. Geben Sie ihr einen Kuss von mir. Die vereinigte gegnerische Flotte verlässt den Hafen von Cadiz, soweit ich weiß; deshalb beeile ich mich, Ihren Brief zu beantworten, meine liebe Horatia, denn Sie sollen wissen, dass ich immer an Sie denke. Ich vertraue darauf, dass Sie für mein Seelenheil beten, für meinen Ruhm und für meine baldige Rückkehr nach Merton.

Empfangen Sie, mein liebes Kind, den Segen Ihres Vaters.

NELSON

Am nächsten Tag fügte er seinem Brief an Emma folgendes Postskriptum hinzu:


20. Oktober, morgens

Wir erreichen den Eingang der Meerenge; vierzig Segel sollen in der Ferne zu sehen sein. Ich nehme an, dass es dreiunddreißig Linienschiffe und sieben Fregatten sind, und da der Wind sehr kalt ist und das Meer sehr unruhig, glaube ich, dass sie vor Einbruch der Nacht in den Hafen zurückkehren werden.

Und als Nelson zuletzt die vereinigte gegnerische Flotte erblickte, schrieb er in sein privates Notizbuch:


Möge der Allmächtige, dem ich auf den Knien huldige, im Interesse des unterdrückten Europas England einen umfassenden und überwältigenden Sieg schenken, und möge er uns die Gnade gewähren, dass keine Verfehlung der siegreich Kämpfenden den Sieg schmälert. Was mich betrifft, empfehle ich mein Leben meinem Schöpfer an. Möge der Segen des Herrn auf meinen Bestrebungen ruhen, treu meinem Land zu dienen. Ihm allein überantworte ich die heilige Sache, zu deren Verteidigung mich zu berufen er die Gnade hatte. Amen! Amen! Amen!«

Und nach diesem Gebet in seiner Mischung aus Mystik und Begeisterung, die zu manchen Zeiten unter der rauen Schale des Seefahrers sichtbar wurde, setzte er sein letztes Testament auf:


21. Oktober 1805,

im Angesicht der vereinigten Flotte Frankreichs und Spaniens in etwa zehn Meilen Entfernung zu uns.

In Anbetracht des Umstands, dass Emma Lyon, Witwe Sir William Hamiltons, weder vom König noch von der Nation je die erheblichen Dienste gedankt wurden, die sie dem König und der Nation geleistet hat, erinnere ich ausdrücklich daran, dass es Lady Hamilton erstens im Jahr 1799 gelang, sich Kenntnis von einem Brief des Königs von Spanien an seinen Bruder, den König von Neapel, zu verschaffen und zu erfahren, dass der König von Spanien England den Krieg zu erklären beabsichtigte, woraufhin der Premierminister Sir John Jervis den Befehl erteilen konnte, die spanischen Arsenale und die spanische Flotte zu vernichten, sofern sich Gelegenheit dazu bot, und wenn nichts dergleichen geschehen ist, dann trägt daran Lady Hamilton kein Verschulden; dass zweitens die britische Flotte unter meinem Kommando kein zweites Mal nach Ägypten hätte zurückkehren können, wenn nicht Lady Hamilton ihren Einfluss auf die Königin von Neapel dahingehend verwendet hätte, dem Gouverneur von Syrakus den Befehl erteilen zu lassen, unserer Flotte zu gestatten, sich in den Häfen Siziliens mit allem zu versehen, was sie benötigte, so dass ich auf diesem Weg alles erhielt, was ich brauchte, und die französische Flotte vernichten konnte.

Deshalb lege ich es meinem König und meinem Vaterland anheim, Lady Hamilton für ihre Dienste zu belohnen und für ihren Unterhalt aufzukommen.

Außerdem empfehle ich meine Adoptivtochter Horatia Nelson dem Wohlwollen der Nation, und ich wünsche, dass sie künftig den Namen Nelson tragen wird.

Dies sind die einzigen Gunstbeweise, um die ich den König von England bitte, nun ich im Begriff stehe, mein Leben für mein Vaterland einzusetzen. Möge Gott meinen König und mein Vaterland und alle, die mir teuer sind, in seine Obhut nehmen!

NELSON

Die Vorkehrungen, die Nelson traf, um die Zukunft seiner Geliebten zu sichern und zu festigen, beweisen hinlänglich, dass ihn Todesahnungen beschäftigten. Um seinem Testament noch mehr Nachdruck zu verleihen, rief er Hardy, seinen Flaggkapitän, und Blackwood, den Kapitän der Euryalus, der ihn in Merton abgeholt hatte, herbei und ließ sie das Testament als Zeugen unterschreiben. Beider Namen finden sich im Bordbuch neben Nelsons Namen eingetragen.


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