96 Auf See

Sobald die Flüchtlinge über den Kutter verfügen konnten, war es ihre erste Sorge, ihn genau zu untersuchen, um sich seiner Ausstattung zu vergewissern. Er war mit Torf beladen und führte daneben nichts mit als hundert Erdäpfel, acht Kohlköpfe, zwei Fässchen Butter und zehn bis zwölf Wasserflaschen sowie ein völlig zerfetztes Großsegel, einen kaum besseren Klüver und ein noch übleres Vorstagsegel.

Unter Wahrung größter Sparsamkeit hatte man für allerhöchstens sechs Tage Lebensmittel an Bord; Brot gab es keines, weder an Bord noch im Haus der ursprünglichen Schiffseigner, denn das war und ist die Regel in Irland.

»Nun gut«, sagte René, »ich glaube, wir täten gut daran, uns sofort auf Diät zu setzen; gestern haben wir üppig zu Abend gespeist, heute Morgen haben wir gut gefrühstückt, und vor dem heutigen Abend müssen wir nichts zu uns nehmen.«

»Hmm, hmm«, ließen sich vereinzelte Stimmen vernehmen.

»Nichts da«, sagte René, »reißt euch zusammen, und über eine Sache wollen wir uns im Klaren sein: Keiner von uns wird vor acht Uhr abends Hunger haben.«

»Einverstanden«, sagte der Ire, »keiner von uns wird vor acht Uhr Hunger haben; und wer dennoch Hunger hat, wird sich den Bauch halten oder ein Schläfchen machen; wer schläft, kann vom Essen träumen.«

»Hoppla!«, sagte ein Matrose. »Finden Sie nicht, dass es im Augenblick am dringlichsten wäre, Feuer zu machen?«

»Ha«, sagte Sullivan, »an Torf wird es uns dafür jedenfalls nicht mangeln; die Sonne hat sich verkrochen und will offenbar nicht wiederkommen, es schneit unentwegt, was uns Wasser verschaffen wird, sofern wir den Schnee auffangen können, doch warum sollten wir uns nicht ein bisschen aufwärmen?«

Ein Kohlenbecken wurde angezündet, das man Tag und Nacht unterhielt.

Die Nachtkälte ist im Januar und im Februar an der englischen Küste und im Ärmelkanal geradezu unerträglich, und in diesem Fall ging es nicht nur um die Kälte, sondern auch um die Orientierung für die Navigation. Einen Kompass gab es, doch er war alt und verrostet, so dass man auf gröbste Fehlanzeigen gefaßt sein musste. Vergebens hatte man nach einem Log gesucht, um den zurückgelegten Weg zu messen; keine Instrumente halfen erkennen, mit welchem Wind man gefahren war oder fahren sollte, kein Öl und keine Kerzen erhellten das Kompasshäuschen; man wusste nur, dass es zuerst nach Süden und dann nach Osten zu segeln galt, doch dafür besaß man nur Renés kleinen Taschenkompass und kein anderes Licht als das des anfangs so verachteten Torfs.

René wurde als Kundigster von ihnen und als derjenige, dessen Mut man am meisten vertraute, einstimmig zum Kapitän gewählt.

Das Meer war stürmisch, der Wind wehte heftig und unberechenbar, und die Segel des Kutters waren zu Fetzen zerrissen; René befahl, alles Segeltuch, das man finden konnte, zusammenzutragen. Sullivan entdeckte eine Truhe, in der sich Segeltuch in recht gutem Zustand nebst einer Kerze befand, die dazu verwendet wurde, den Matrosen zu leuchten, während sie ein großes Segel zusammennähten.

Um acht Uhr abends war an alle die Ration aus zwei Kartoffeln, zwei Kohlblättern, etwas Butter und einem Glas Wasser ausgeteilt worden.

Da man nicht genug Segeltuch besaß, wurde beschlossen, auf das Vorstagsegel zu verzichten und das Segeltuch für das Großsegel zu verwenden; diese Umstellung brachte einen Zeitverlust von fünf Tagen mit sich. Sobald das Großsegel installiert war, fuhr man schneller und sicherer.

Die Kerze hatte man durch Kienspäne ersetzt, die mit Torf am Brennen gehalten wurden. Über den Kurs machte man sich keine Sorgen, denn mit Renés Taschenkompass konnte man ihn jederzeit korrigieren. Wenngleich die Flüchtlinge sich nicht gerade begeistert über die Verköstigung gezeigt hatten, sah man am vierten Tag, dass ihnen noch Nahrung für zwei bis drei Tage verblieb. Am Wasser hatte man gespart, so gut es ging, doch es war zum Kochen des Kohls benötigt worden, während die Kartoffeln im heißen Torf gebacken wurden.

Am fünften Tag sah man ein Schiff am Horizont. René rief seine Gefährten und zeigte ihnen das Schiff.

»Es ist ein Engländer oder das Schiff eines verbündeten Landes; wenn es englisch ist, kapern wir es; wenn es einer befreundeten Nation angehört, bitten wir um Hilfe, die man uns gewähren wird, so dass wir weiterfahren können. Die Standard, die wir mit der Revenant gekapert haben, hatte vierhundertfünfzig Mann Besatzung, und wir hatten nur hundertzwanzig Mann an Bord, sie hatte achtundvierzig Kanonen, und wir hatten nur sechzehn, und ausgehungert waren wir auch nicht. In den Wind, Ire, und auf ins Gefecht.«

Jeder nahm seine Segelmacherahle, und René ergriff seinen Gitterstab, doch das verbündete oder gegnerische Schiff, Kauffahrer oder Kriegsschiff, ergriff die Flucht vor dem Kutter, der auf eine weitere Verfolgung verzichten musste.

»Kann mir niemand einen Tropfen Wasser abgeben?«, fragte ein Matrose in jämmerlichem Ton.

»Gewiss doch, mein wackerer Junge«, sagte René.

»Und Sie?«, fragte ihn der Matrose.

»Ich«, sagte René mit einem Lächeln, um das ihn die Engel beneidet hätten, »ich bin nicht durstig.«

Und er gab dem Matrosen seine Wasserration.

Es wurde Abend, und die letzte Ration wurde ausgeteilt, die aus einer Kartoffel, einem Kohlblatt und einem halben Glas Wasser pro Mann bestand.

Seit Langem ist bekannt, dass die schlimmste aller Qualen notleidender Schiffsbesatzungen der Durst ist: Der Durst macht uns sogar dem engsten Freund gegenüber unbarmherzig.

Am Tag nach der letzten Ration hatte die Not unsere Flüchtlinge zu Rasenden gemacht; jeder hatte sich von den anderen abgesetzt, und alle Mienen waren bleich und abgezehrt. Unvermittelt ertönte ein Schrei, und einer der Matrosen sprang in seinem Fieberwahn ins Wasser.

»Aufbrassen und Rettungstaue auswerfen!«, rief René, der dem Matrosen hinterher ins Meer sprang.

Zwei Sekunden später kam René an die Wasseroberfläche zurück; er hielt den Matrosen im Arm und wehrte sich gegen dessen wilde Schläge. Er ergriff ein Tau, schlang es dem anderen um den Körper und verknotete es.

»Zieht jetzt!«, rief er.

Die anderen zogen den Matrosen an Bord.

»Und jetzt mich«, sagte René.

Mehrere Taue waren ihm zugeworfen worden, und er ergriff eines und war im nächsten Augenblick wieder an Bord des Kutters.

Renés zierlicher und zarter Körper schien als Einziger weder unter dem Hunger noch unter dem Durst zu leiden.

»Ach,«, sagte der Ire, »hätte ich doch nur etwas Blei zum Lutschen!«

»Meinst du, dass man mit Gold die gleiche Wirkung erreichen kann?«, fragte ihn René.

»Das weiß ich nicht«, sagte der Ire, »denn bisher war ich mit Blei vertrauter als mit Gold.«

»Lass uns sehen: Nimm dieses Goldstück in den Mund.« Der Ire sah die Münze an, ein Goldstück im Wert von vierundzwanzig Francs mit dem Bildnis Ludwigs XVI.

Seine Gefährten standen mit offenem Mund und ausgestreckten Armen da.

»Oh, das schmeckt gut, das kühlt«, sagte der Ire.

»Haben Sie gehört, Monsieur René?«, sagten die anderen und hechelten vor Gier.

»Hier«, sagte René, der die Goldstücke verteilte, »probiert selbst.«

»Und Sie?«, fragten sie.

»Ach, mein Durst ist nicht so unerträglich, ich werde mir dieses Mittel als letzten Ausweg aufsparen.«

Und wahrhaftig war diese eigentümliche Art der Erfrischung, welche die Matrosen sich für gewöhnlich mit einem Stück Blei im Mund verschaffen, mit einem Goldstück genauso wirksam. Sie beklagten sich zwar den ganzen Tag über, lutschten und kauten jedoch dabei ihre Louisdors.

Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch lichtete sich der Himmel im Süden. René, der die Nacht am Steurruder verbracht hatte, stellte sich auf die Zehenspitzen, und dann rief er unvermittelt: »Land!«

Dieser Ruf wirkte wie ein Zauberwort: Auf der Stelle waren die sieben Matrosen auf den Beinen.

»Steuern Sie steuerbords«, rief einer von ihnen, »denn das da ist Guernsey. Die Engländer kreuzen sicherlich vor den französischen Inseln, setzen Sie deshalb Kurs nach Steuerbord.«

Eine Drehung des Steuerrads entfernte das Schiff von der Insel und ließ es Kurs auf Kap Tréguir nehmen.

»Land!«, rief René abermals.

»Ah«, sagte der Matrose, »das ist Kap Tréguir, das sehe ich, da haben wir nichts zu befürchten; segeln Sie jetzt so eng an der Küste wie möglich, und in zwei Stunden sind wir in Saint-Malo.«

Der Ire, der seinen Posten am Steuerruder wieder eingenommen hatte, befolgte die Anweisungen gewissenhaft, und eine Stunde später ließ er zur Rechten die Felsklippen von Grand-Bé liegen, einer Halbinsel, auf der sich heute Chateaubriands Grabmal erhebt, und fuhr mit vollen Segeln in den Hafen von Saint-Malo ein.

Die Bauweise des Kutters verriet dessen englische Herkunft, doch an der Kleidung der Besatzung erkannte man sogleich, dass es sich um Matrosen handelte, die englischen Hulken oder englischen Kerkern entflohen waren.

An der Mole hielt der stellvertretende Vorsteher der Marineakademie das Schiff an und kam in einer Kriegsschaluppe, um es zu rekognoszieren.

Das Rekognoszieren war schnell erledigt; René berichtete alle Einzelheiten ihrer Flucht, und der Marineschreiber protokollierte seine Aussage.

Nachdem das Protokoll abgefasst und von René und den vier anderen schreibkundigen Matrosen unterzeichnet war, erkundigte sich René, ob im Hafen ein amerikanisches Schiff mit Namen The Runner of New York unter dem Kommando eines Kapitäns François bekannt sei.

Das Schiff lag nahe der Werft vor Anker; es war vor kaum zwei Wochen eingetroffen.

René erklärte, dass es sein Eigentum sei, wiewohl augenblicklich auf den Namen des Maats von Robert Surcouf eingetragen, und fragte, ob ihm gestattet sei, sich an Bord dieses Schiffs zu begeben.

Man erwiderte ihm, er könne tun und lassen, was ihm beliebe, nachdem seine Identität festgestellt war.

Während das Protokoll aufgesetzt wurde, hatte die Verfassung der bejammernswerten Flüchtlinge Mitleid in dem stellvertretenden Vorsteher der Marineakademie geweckt, und nachdem einige von ihnen gemurmelt hatten, sie würden verschmachten, und ohnmächtig geworden waren, hatte er acht Tassen Kraftbrühe und eine Flasche guten Weins herbeordert und den Wundarzt der Akademie rufen lassen.

Der Arzt traf zusammen mit der Nahrung ein, die von den armen Flüchtlingen so sehr ersehnt wurde und die ihnen nur behutsam eingeflößt werden durfte.

Der Arzt bestand darauf, dass sie die Kraftbrühe Löffel für Löffel zu sich nahmen, ohne Brot einzutunken, und dass sie den Wein in kleinen Schlucken tranken.

Nach einer Viertelstunde wollten die Matrosen René die Louisdors zurückgeben, doch er weigerte sich, sie zu nehmen, und sagte zu den Männern, sie stünden in seinem Dienst, bis sie eine bessere Arbeit fänden.

Als Nächstes erklärte René, er und seine Gefährten hätten den Kutter, auf dem sie gekommen waren, mit Gewalt irischen armen Teufeln entwendet, und er bat darum, dass der Wert des Schiffs geschätzt würde, damit er es den Besitzern ersetzen konnte.

Dies war umso einfacher, als René in einer Art Wandschrank im Schiff das Schiffspatent gefunden hatte, das die Adresse des Schiffseigners enthielt.

Der Kutter blieb daher vor dem Hafen liegen, während René und seine Gefährten, die ihre Kräfte allmählich wiedererlangten, in eine Barke sprangen.

»Auf, meine Freunde, so schnell ihr könnt!«, rief René. »Bringt mich zur Runner of New York. Für die Ruderer gibt es zwei Louis.«

»Ha!«, sagte einer der Rudernden, der René wiedererkannte. »Das ist Monsieur René, der für all meine Kumpane auf Monsieur Surcoufs Revenant ihre Schulden bezahlt hat. Hurra für Monsieur René!«

Und angespornt von der Aussicht auf doppelte Belohnung, riefen alle Rudernden aus voller Kehle: »Hurra!«

Bei diesem Geschrei kam die Mannschaft der Runner of New York an Deck, und auf der Poop erkannte René seinen Freund François, der mit dem Fernglas in der Hand Ausschau nach ihm hielt.

Kaum hatte François gerufen: »Kameraden, es ist der Patron! Hurra für Monsieur René!«, wurde das Schiff im Handumdrehen beflaggt, und ohne die Erlaubnis des Hafenkommandanten abzuwarten, feuerte die Mannschaft einen Salut von acht Kanonenschüssen ab. Dann kletterten alle die Wanten empor, schwenkten ihre Mützen und riefen: »Hurra, Monsieur René, hurra!«

François wartete oben an der Strickleiter mit ausgebreiteten Armen auf seinen Kapitän, als wollte er am liebsten ins Meer springen, um ihn so bald wie möglich in die Arme zu schließen.

Man kann sich denken, mit welcher Begeisterung René an Bord willkommen geheißen wurde. Seine Ruderer bezahlte er, wie sie es sich erhofft hatten, und seine Reisegefährten berichteten unterdessen jedem, der es hören wollte, alle Einzelheiten ihrer Flucht: wie René auf seine Wasserration verzichtet hatte, um sie ihnen zu geben, wie er alle dazu gebracht hatte, den Mut nicht sinken zu lassen, und dass er sie nun angestellt hatte, so dass sie bei ihm bleiben konnten, bis sich etwas Besseres fand.

Und damit jeder mitfeiern konnte, der mit René zu tun gehabt hatte, kamen einige Matrosen zu ihm und fragten, ob sie ihre Rationen mit den Ruderern teilen durften, die ihn an Bord gebracht hatten.

»Freunde«, sagte René, »sie werden nicht eure Ration mit euch teilen, sondern an meinem Festmahl teilhaben. Der Tag meiner Rückkehr ist ein Festtag, und jeder Matrose an Bord meines Schiffs darf sich als Offizier fühlen an dem Tag, an dem ich aus Englands Gefängissen zurückkehre.«

Nachdem er abermals Erfrischungen an seine Fluchtgefährten hatte austeilen lassen, ließ er den Koch rufen, um ihm den Speisezettel für das Festmahl zu diktieren.

Alles, was es in Saint-Malo an Feinem und Köstlichem gab, war an diesem Tag für die Mannschaft der Runner of New York und für ihren Kapitän bestimmt.


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