55 Teneriffa

In nicht allzu weiter Entfernung zur Küste Marokkos erhebt sich gegenüber dem Atlasgebirge, zwischen den Azoren und den Kapverdischen Inseln, die Königin der Kanarischen Inseln, deren Gipfel sich in siebentausendfünfhundert Metern Höhe in den Wolken verliert, die ihn fast ständig umhüllen.

Die Luft ist in diesen herrlichen Breiten so klar, dass man den Berggipfel auf dreißig Meilen Entfernung erkennen kann, und von den Bergen der Insel sieht man Schiffe bis zu zwölf Meilen weit, während man sie andernorts bei sieben Meilen aus den Augen verliert.

Dort, im Schatten des gewaltigen Vulkans, inmitten der Inselgruppe, welche die Völker der Antike die Glücklichen Inseln nannten, dort, wo man den Blick gleichzeitig auf die Meerenge von Gibraltar, auf die Route der Spanier nach Nord- und Südamerika und auf die Route der Europäer nach Indien richten kann – dort hatte Surcouf einen Zwischenhalt eingelegt, um Wasser und frische Lebensmittel an Bord zu nehmen und um an die hundert Flaschen des zu jener Zeit begehrten Madeiraweins zu kaufen, dieses Lieblingssohnes der Sonne, der heute völlig aus der Mode gekommen ist und dem alkoholischen Gebräu Platz gemacht hat, das man Marsalawein nennt.

Von Saint-Malo bis Teneriffa waren die Wetterverhältnisse günstig gewesen, abgesehen von den unvermeidlichen Sturmwinden im Golf der Gascogne, und die Fahrt war gut verlaufen, wenn man die Fahrt eines Kaperschiffs gut nennen will, dem kein einziges Schiff begegnet, das zu jagen sich lohnen würde; zudem war man einer englischen Fregatte ausgewichen und hatte sich davon überzeugen können, dass die Revenant wendig und schnell war, denn hoch am Wind machte sie bis zu zwölf Knoten. Das gute Wetter hatte Surcouf erlaubt, sich seinen täglichen Übungen zu widmen, und eine große Zahl aufgehängter Flaschen waren von ihm und von René, der selten danebenschoss, geköpft worden.

Die Matrosen, die sich an Gewandtheit mit ihrem Anführer nicht messen konnten, hatten Renés Schießkünste mit Beifall bedacht, doch was die Herren Offiziere für ihn einnahm, und zwar uneingeschränkt, das waren die schönen Waffen, mit denen oder dank derer er seine Wunder an Geschicklichkeit vollbrachte.

Diese Waffen waren ein Gewehr mit gewöhnlichem Lauf für die Jagd auf Niederwild und ein Stutzen gleichen Kalibers mit gerieftem Lauf für die Jagd auf Hochwild oder um auf Menschen zu schießen in jenen Ländern, in denen der Mensch als schädliches Tier eingestuft wird. Zwei kleinere Futterale enthielten jeweils ein Paar Pistolen, gewöhnliche Duellpistolen und Gefechtspistolen mit übereinanderliegenden Läufen.

Außerdem hatte René sich eine Enteraxt anfertigen lassen, ohne jede Verzierung, aus schlichtem poliertem Stahl, doch von so hervorragender Härte, dass sie auf einen Hieb ein kleinfingerdickes Stück Eisen durchtrennte, als wäre es Schilf; seine Lieblingswaffe jedoch, die er mit besonderer Hingabe pflegte und an einer Silberkette um den Hals trug, war ein Dolch von türkischer Form, leicht gebogen, mit dem er einen Seidenschal in der Luft zerschneiden konnte, wie es die Araber von Damaskus mit ihren unvorstellbar scharfen Säbeln tun.

Surcouf war sehr zufrieden, René als seinen Sekretär an Bord zu haben, denn das erlaubte ihm, sich mit ihm zu unterhalten, so viel er wollte. Surcouf war von schwermütigem und gebieterischem Charakter und wortkarg, und um seine bunt zusammengewürfelte Mannschaft aus den verschiedensten Ländern und mit den verschiedensten Berufen in passivem Gehorsam zu halten, war er darauf bedacht, stets für Unterhaltung und Zerstreuung seiner Männer zu sorgen. An Bord der Revenant hatte er zwei Rüstkammern eingerichtet, die eine auf dem Back für die Offiziere, die andere auf der Schanz für diejenigen unter den Matrosen, die Neigung zum Fechten hatten. Er unterwies sie auch im Schießen, doch der Schießstand der Offiziere lag steuerbords und der jener rangniederen Offiziere und der Matrosen backbords.

Nur der erste Offizier Monsieur Bléas hatte jederzeit und in jeder Angelegenheit Zutritt zu Surcoufs Kajüte; die anderen Offiziere, sogar der Kapitänleutnant, durften nur mit einem wichtigen Anliegen unaufgefordert vorsprechen. René war von dieser Vorschrift ausgenommen, doch um keine Eifersucht unter seinen Gefährten zu wecken, nutzte er dieses Privileg so selten wie möglich, und statt Surcouf aufzusuchen, ließ er sich lieber von Surcouf besuchen. Die Kajüte des Kommandanten war von ausgesprochen militärischer Eleganz: Die zwei Vierundzwanzigergeschütze, die ganz eingezogen waren, wenn kein Feind in Sicht war, bestanden aus Kupfer, das wie Gold glänzte, auf Hochglanz poliert von dem Neger Bambou, der besonderes Vergnügen daran empfand, sich in den blanken Rohren zu spiegeln. Die Wandbespannungen waren aus indischem Kaschmir, geschmückt mit Waffen aus allen Ländern der Erde. Eine einfache Hängematte aus gestreiftem Segeltuch hing in dem Zwischenraum zwischen den zwei Kanonen und diente Surcouf als Bett, doch häufig warf er sich angekleidet auf das große Kanapee, das ebenfalls zwischen den Kanonen stand. Wenn zum Kampf gerüstet wurde, ließ er alle Möbelstücke, die beim Bedienen der Kanonen stören konnten, aus der Kajüte entfernen, und der Raum wurde den Kanonieren überlassen.

Wenn Surcouf auf Deck umherwanderte, richtete er das Wort fast nur an den wachhabenden Leutnant; alle machten ihm von sich aus Platz, und um sie nicht in ihrer Arbeit zu hindern, hielt er sich deshalb lieber auf dem Hackbord auf.

Wenn er in seiner Kajüte war, rief er seinen Neger Bambou, indem er auf ein Tamtam schlug; die Vibration war im ganzen Schiff zu vernehmen, und dem Grad der Heftigkeit dieser Vibration konnte man Surcoufs Laune entnehmen.


In dem irdischen Paradies am Fuß des Gipfels von Teneriffa, in dem Surcouf und seine Männer sich seit acht Tagen aufhielten, fügte der Kapitän den Freuden der Jagd und des Fischfangs ein weiteres Vergnügen hinzu: das Tanzen.

Unter dem schönen Himmel voller unbekannter Sterne kamen jeden Abend zu der Stunde, wenn die Bäume ihren balsamischen Duft verströmen und eine frische Brise vom Meer hereinweht, über den Rasen, der so weich wie ein Teppich war, aus den Dörfern Chasna, Vilaflor und d’Arico schöne Bäuerinnen in ihrer malerischen Kleidung herunter. Am ersten Tag hatte man nicht recht gewusst, welche Musik man wählen sollte, doch René hatte gesagt: »Besorgt mir eine Gitarre oder eine Geige, dann werde ich versuchen, mich meiner Tage als Wandermusikant zu erinnern.«

In einer spanischen Stadt braucht man nur die Hand auszustrecken, wenn man eine Gitarre haben will, und am nächsten Tag konnte René zwischen zehn Geigen und ebenso vielen Gitarren wählen; er ergriff die nächstbeste, und schon dem ersten Ton, den er anschlug, war seine Meisterschaft anzuhören. Tags darauf wurde das Orchester durch den Pfeifer und den Trommler verstärkt, die jeden Abend den Zapfenstreich bliesen und nun unter Renés Leitung mit ein paar hohen Tönen oder mit einem Trommelwirbel das spanische Instrument begleiteten.

Bisweilen geschah es, dass René Tanz und Tanzende vergaß und sich, von seinen Erinnerungen überwältigt, in eine melancholische Improvisation verlor; dann hielten die Tanzenden inne, Stille trat ein, und mit dem Finger auf dem Mund näherte man sich ihm; wenn er nach kürzerer oder längerer Zeit die Melodie beendete, sagte Surcouf leise im Selbstgespräch: »Meine Frau hatte recht, dahinter steckt irgendein Liebesleid.«


Eines Morgens wurde René durch Vorbereitungen zu einem Gefecht geweckt; auf der Höhe der Kapverdischen Inseln war wenige Meilen seewärts ein Schiff zu sehen, dem Schnitt seiner Segel nach zu schließen, ein Engländer. Bei dem Ruf: »Segel in Sicht!« war Surcouf an Deck gesprungen und hatte Befehl gegeben, Segel zu setzen. Zehn Minuten später stach die Revenant unter einer Wolke von Segeln, die jede Sekunde dichter wurde, und im Gelärme der Kampfvorbereitungen in See und nahm Kurs auf das englische Schiff. Keine fünf Minuten darauf kam René aus seiner Kajüte, den Stutzen in der Hand und seine doppelläufigen Pistolen im Gürtel.

»Nun«, sagte Surcouf, »es hat ganz den Anschein, als würden wir uns jetzt ein wenig amüsieren.«

»Endlich!«, sagte René.

»Sie wollen also dabei sein, sehe ich das richtig?«

»O ja, aber ich bitte Sie, mir einen Platz zuzuweisen, an dem ich niemandem im Weg bin.«

»Gut! Halten Sie sich in meiner Nähe, und nehmen wir uns jeder einen Matrosen, der unsere Gewehre lädt. – Bambou!«, rief Surcouf.

Sein Negerdiener kam angelaufen.

»Hole mir meine Donnerbüchse.« (Das war der Name seiner Doppelflinte, während sein Stutzen Spaßvogel hieß.) »Und«, fuhr er fort, »hole auch das Gewehr von Monsieur René.«

»Nicht nötig«, sagte René, »an meinem Gürtel habe ich den Tod von vier Männern, und in der Hand halte ich den eines fünften; für einen Amateur finde ich das ausreichend.«

»Was macht der Engländer, Monsieur Bléas?«, fragte Surcouf, der sein Gewehr lud, den ersten Offizier, der vom Hackbord aus die Fahrt des Engländers mit dem Fernrohr verfolgte.

»Er macht eine ganze Wendung, um uns auszweichen, mein Kommandant«, erwiderte der junge Offizier.

»Holen wir auf?«, fragte Surcouf.

»Wenn ja, dann so langsam, dass ich davon nichts bemerke.« »Holla!«, rief Surcouf. »Hisst Vorbramsegel und Beisegel! Setzt alle Segel der Revenant, auch den kleinsten Fetzen Segeltuch!«

Die Revenant pflügte durch die Wellen, und der Schaum, den ihr Kiel nun aufwirbelte, zeigte deutlich, dass sie wie ein Rassepferd die Sporen ihres Herrn gespürt hatte. Der Engländer wiederum setzte ebenfalls alle Segel und musste sich eingestehen, dass das Kaperschiff schneller war als er.

Daraufhin ließ Surcouf einen Kanonenschuss abfeuern, um das andere Schiff aufzufordern, seine Nationalität zu erkennen zu geben, und hisste die Trikolore. Die englische Flagge entfaltete sich am Mast des Engländers, und als die beiden Schiffe nur mehr halbe Gefechtsdistanz trennte, eröffnete der Engländer das Feuer mit seinen zwei hintersten Geschützen in der Hoffnung, das Kaperschiff zu entmasten oder eine Havarie zu bewirken, die es von seinem Kurs abbrachte, doch die Salven richteten nur wenig Schaden an und verwundeten nur zwei Männer. Eine dritte Salve war von einem unheimlichen und grauenerregenden Heulen begleitet, das sich René, der mit solchen Phänomenen noch nicht vertraut war, nicht erklären konnte.

»Was zum Teufel ist da eben über unsere Köpfe hinweggeflogen?«, fragte er.

»Mein junger Freund«, erwiderte Surcouf ebenso ruhig, wie René seine Frage gestellt hatte, »das waren zwei Kettenkugeln. Kennen Sie den Roman des Monsieur de Laclos?«

»Welchen?«

»Gefährliche Liebschaften

»Nein.«

»Nun, der Verfasser ist der Erfinder dieser gefährlichen Abtakelungsgeschosse, die Sie eben fast den Kopf gekostet hätten. Ist diese Bemerkung Ihnen unangenehm?«

»O nein, keineswegs; wenn ich tanze, will ich den Namen der Instrumente wissen, die das Orchester bilden.«

Daraufhin stieg der Kapitän auf seine Wachtbank, und als er sah, dass die Entfernung zu dem englischen Schiff halbe Gefechtsdistanz betrug, rief er: »Sechsunddreißiger klar zum Gefecht?«

»Jawohl, Kommandant«, erwiderten die Kanoniere.

»Was für Munition?«

»Drei Kartätschenladungen.«

»Klar zum Gefecht, Ruder nach Backbord!«

Und als er sah, dass sein Schiff auf der Fährte des Engländers war, befahl er: »Feuer!«

Die Kanoniere gehorchten, visierten den Engländer vom einen bis zum anderen Ende an, und ihre Geschosse bereiteten an seinem Deck Tod und Verwüstung.

Dann wies Surcouf den Rudergänger an, nach Steuerbord zu gehen, damit die Revenant aus dem Kielwasser des Engländers herausgelangte. »Rankommen lassen!«, rief er.

Und als sie sich nahe genug befanden, schoss Surcouf beide Läufe seiner Donnerbüchse ab, und von dem Mastkorb des Großmasts stürzten zwei Männer auf das Deck.

René sah, wie er sein Gewehr fallen ließ und die Hand ausstreckte. »Schnell, gib mir dein Gewehr!«

Wortlos reichte René ihm sein Gewehr.

Surcouf legte an und feuerte.

In der Kajüte des englischen Kapitäns, der sie sich näherten, hatte Surcouf einen Kanonier gesehen, der sich anschickte, eine lange Zwölfpfünderkanone abzuschießen, die auf Surcouf und die Offiziere in seiner Umgebung gerichtet war; bevor der Kanonier die Zündschnur anzünden konnte, war er tot.

Mit diesem Schuss hatte Surcouf sein eigenes Leben und das nicht weniger seiner Offiziere gerettet. Da man inzwischen auf Pistolenschussweite an den Engländer herangekommen war, erschoss René den englischen Kanonier, der die Zündschnur aufgehoben hatte und das Werk seines toten Kameraden fortsetzen wollte. Dann gab René seine weiteren drei Schüsse in Richtung der Mastkörbe des Großmasts und des Fockmasts ab und entsandte damit drei Todesboten. Die zwei Schiffe waren nurmehr zehn Schritte voneinander entfernt, Seite an Seite, als Surcouf rief: »Feuer Backbord!«

Ein Granatenhagel ergoss sich aus den Mastkörben der Revenant auf das Deck des Engländers, während sich die Marsgäste auf zwanzig Schritt ein Musketengefecht lieferten. Im selben Augenblick, in dem die Engländer ihre Steuerbordgeschütze zünden wollten, krachte eine gewaltige Salve der Revenant in ihr Schiff, riss die Verschanzung in Stücke, zerstörte fünf oder sechs Kanonen, stürzte den Großmast um und expedierte die Marsgäste der zwei Mastkörbe des Großmasts ins Meer hinaus.

Mitten in diesem Höllenlärm hörte man Surcouf rufen: »Entern, Leute, entern!«

Diesen Ruf wiederholten hundertfünfzig Stimmen, und Surcoufs Mannschaft schickte sich an, ihn in die Tat umzusetzen, als an Bord des englischen Schiffs ein anderer Ruf ertönte: »Wir ergeben uns!«

Der Kampf war beendet. An Bord des Kaperschiffs gab es zwei Tote und drei Verwundete, an Bord des Engländers waren zwölf Tote und zwanzig Verwundete zu beklagen.

Surcouf ließ den englischen Kapitän auf sein Schiff holen. Von ihm erfuhr er, dass er die Star of Liverpool gekapert hatte, die mit sechzehn Zwölfpfündern bewaffnet war. Angesichts ihres geringen Werts gab Surcouf sich mit einem Lösegeld zufrieden.

Das Lösegeld betrug sechshundert Pfund Sterling, die Surcouf zur Gänze als Prisengeld unter seinen Leuten verteilte, um sie zu noch besseren Leistungen anzuspornen; er selbst nahm nichts; um zu verhindern, dass der Engländer auf seiner Rückkehr ein schwächeres Schiff überfiel und seinen Zorn über die Niederlage an diesem ausließ, befahl Surcouf Monsieur Bléas, an Bord des englischen Schiffs zu überwachen, dass alle Kanonen über Bord geworfen wurden und alles Schießpulver ins Meer gestreut wurde.

Dann nahm die Revenant Kurs auf das Kap der Guten Hoffnung; die Mannschaft war stolz auf ihren Sieg, beglückt von den acht Tagen Urlaub auf Teneriffa und voller Vorfreude darauf, den Äquator mit einem so großzügigen Kameraden wie René zu überqueren, der es zweifellos nicht versäumen würde, seine Taufe großzügig zu begießen.

Doch im Logbuch der Revenant war bereits verzeichnet, dass ihre Besatzung an jenem Tag eine andere Aufgabe haben würde als die, dem alten Neptun ein groteskes Schauspiel über die Meeresgötter darzubieten.


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