86 Aufbruch

Am Tag darauf fand René sich um elf Uhr vormittags zum dritten Mal im Regierungspalast ein.

Diesmal wurde er nicht als Gast willkommen geheißen, sondern als Freund. Renés offenes, ungekünsteltes und großzügiges Wesen hatte den Gouverneur der Insel für ihn eingenommen, und nun kam ihm Monsieur Decaen mit ausgebreiteten Armen entgegen und befahl den Türstehern, niemanden vorzulassen.

»Diesmal wird man uns nicht stören, lieber Monsieur René; ich habe nicht vergessen, dass ich Ihnen einen Gefallen schuldig bin, der meine Dankesschuld mindern wird. Was wünschen Sie von mir?«

»Ich sagte es Ihnen bereits, General, ich wünsche mir eine Gelegenheit, ums Leben zu kommen.«

»Mein lieber Monsieur René«, sagte der General schulterzuckend, »kommen Sie wieder auf diesen Scherz zurück?«

»Ich scherze nicht im Geringsten«, sagte René, »sondern ich bin des Lebens so überdrüssig, wie man es nur sein kann; wäre ich verrückt oder verdrießlich genug, würde ich mir eine Kugel in den Kopf schießen, aber das wäre der lächerliche Tod eines Umnachteten, der niemandem etwas nützen würde. Stürbe ich dagegen für Frankreich, wäre mein Tod nützlich und ruhmvoll, und ich wäre ein Held. Machen Sie mich zum Helden, mein General, es wird nicht weiter schwierig sein.«

»Was brauchen Sie dafür?«

»Zuallererst brauche ich die letzten Neuigkeiten aus Frankreich. Ich habe von einer Koalition gegen Frankreich gehört. In Kalkutta war dies das Tagesgespräch. Wissen Sie, wie es in dieser Sache steht, und können Sie mir mehr darüber mitteilen?«

»Ich dachte, wir wären immer noch in Boulogne und damit beschäftigt, Flachboote zu bauen und durch den Nebel des Ärmelkanals London zu observieren.«

»Aber dass es Krieg geben wird, glauben Sie, General, oder?«

»Mehr als das, ich bin fest davon überzeugt.«

»Sehr gut! Und nicht ich preise mich Ihnen an, General, sondern mein Lob wird von Freunden gesungen, fast dürfte ich sagen, sogar von Feinden. Können Sie sich vorstellen, dass jemand wie ich, der weder Gott noch Teufel fürchtet, der vier Sprachen spricht, der bereit ist, auf Anweisung Wasser oder Feuer zu durchqueren, unserem Land von Nutzen sein kann?«

»Ob ich mir das vorstellen kann? Zum Henker, davon bin ich felsenfest überzeugt! Und wenn das meine Hilfe dabei sein soll, dass Sie sich um Ihr Leben bringen, dann verfügen Sie über mich.«

»Bliebe ich mit meiner Slup mit zwölf Kanonen hier, wäre ich von keinerlei Nutzen; ich stürbe unbekannt und unnütz, wie ich vorhin sagte. Fände ich aber Gelegenheit, die Fähigkeiten, die Gott mir gegeben hat, einzusetzen, dann könnte ich mir einen Namen machen, es zu etwas bringen und das Ziel erreichen, das Gegenstand all meines Bestrebens ist.«

»Nun gut, und wie kann ich Ihnen dabei helfen?«, fragte der Gouverneur.

»Sie können Folgendes tun: Sie können schriftlich festhalten, dass das Gute, das Sie über mich gehört haben, der Ruf der Tapferkeit, den ich mir in Indien erworben habe, Sie veranlassen, mich nach Frankreich zu schicken und mich zu empfehlen...«

»Dem Minister?«, unterbrach ihn der General.

»O nein! Auf gar keinen Fall, nein, im Gegenteil: dem Kapitän des erstbesten Kriegsschiffs, dem ich begegnen werde. Mit einer solchen Empfehlung von Ihnen wird jeder Kapitän mich freudig als Offizier an Bord nehmen. Auf diesen Rang habe ich ein Recht, denn unter Surcouf habe ich als erster Offizier kommandiert, und ich habe als Kapitän einer Kriegsslup die Fahrt nach Indien unternommen. Ich weiß wohl, dass mein Schiff nicht allzu groß ist, doch wenn mir mit einer Slup gelungen ist, was man mit einer Brigg bewerkstelligt, dann beweist das, dass ich mit einer Brigg leisten kann, was man mit einer Korvette vermag, und mit einer Korvette, was man mit einem Linienschiff vermag.«

»Das, worum Sie mich bitten, ist allzu unerheblich, mein lieber René«, sagte der General. »Ich würde gern etwas mehr für Sie tun. Zuerst werde ich Ihnen Ordre erteilen, nach Europa zurückzukehren, weil Sie dort Frankreich zu Diensten sein können, und ich werde Ihnen Empfehlungsschreiben für drei Kapitäne von Linienschiffen mitgeben, die gute Freunde von mir sind: Lucas, Kommandeur der Redoutable, Cosmao, Kommandeur der Pluton, und Infernet, Kommandant der Intrépide. Wo immer Sie ihnen begegnen werden, können Sie an Bord gehen und sich darauf verlassen, zehn Minuten später Ihren Platz in der Offiziermesse zugewiesen zu bekommen. Kann ich noch etwas anderes für Sie tun?«

»Ich danke Ihnen; indem Sie tun, was Sie sagten, machen Sie mich überglücklich.«

»Wie wollen Sie nach Frankreich zurückgelangen?«

»Dafür brauche ich keine Hilfe, mein General; die kleine Slup, die ich befehlige und die es mit dem schnellsten englischen Segelschiff aufnehmen kann, ist mein Eigentum; sie fährt unter amerikanischer, also neutraler Flagge. Ich spreche zu gut Englisch, um mich als Amerikaner ausgeben zu können, doch das würde nur einem Amerikaner auffallen. Ich werde in den nächsten Tagen aufbrechen und meinen Anteil an der Prise den achtzehn Männern hinterlassen, die mich nach Birma begleitet haben. Sie werden das Geld entgegennehmen, und sobald die Männer zur Île de France zurückkehren, einzeln oder zusammen, werden sie von ihnen ausbezahlt. Ein Einziger soll mehr erhalten, als ihm zusteht, nämlich François, der mit mir in Pegu war; er soll das Doppelte seines Anteils bekommen.«

»Sie werden uns zum Abschied besuchen, nicht wahr, Monsieur René?«

»General, diese Ehre werde ich haben, wenn ich Ihnen eigenhändig die Aufstellung dessen überbringen werde, wie viel jedem meiner Männer zusteht. Ich würde es mir nie verzeihen, abzureisen, ohne Madame Decaen meine Aufwartung gemacht und Monsieur Alfred meiner Freundschaft versichert zu haben.«

»Wollen Sie sie nicht gleich sehen?«, fragte der General.

»Ich will sie nicht stören«, erwiderte René.

Er verbeugte sich vor dem Gouverneur und ging.


Als René auf seinem Schiff ankam, erwartete ihn dort der Bankier Rondeau. Trotz aller Ungemach, die ihm am Vortag widerfahren war, hatte er nicht vergessen, dass es sein Gewerbe war, Geld zu verdienen, und er wollte René bitten, ihm seinen Prisenanteil zu verkaufen, was René ermöglichen würde, seine Mannschaft auszuzahlen, bevor er Port-Louis verließ.

René begriff, dass dies in der Tat weitaus bequemer wäre, als Männer mitzunehmen, die nach Port-Louis zurückkehren mussten, um ihren Anteil aus dem Verkauf der Prise und den Anteil, den ihnen ihr Kapitän zusätzlich schenkte, abzuholen.

René und Monsieur Rondeau vereinbarten, dass der Mannschaft ihre fünfhunderttausend Francs Prisengeld ausbezahlt würden und dass die vierhunderttausend Francs, die nach Abzug der hunderttausend Francs für die Armen blieben, unter Renés achtzehn Begleitern aufgeteilt würden, wobei François einen doppelten Anteil erhalten würde.

Monsieur Rondeau bot an, die Million unverzüglich zu bezahlen und einen Diskont von zwanzigtausend Francs zu berechnen.

René war einverstanden, gab dem Bankier eine Quittung über zwanzigtausend der dreihunderttausend Francs seines Guthabens bei ihm und ließ Madame Decaen auf der Stelle die hunderttausend Francs für die Armen überbringen, während er es Rondeau überließ, seine zweitausend Francs Wettschulden nach eigenem Ermessen zu begleichen; dann verabredete er sich mit seinen Männern für den nächsten Tag.

Am nächsten Tag fanden sich seine achtzehn Männer zur Mittagsstunde bei ihm ein.

Als Erstes erklärte René, er wolle ihnen im Voraus und vor Verkauf der Prise ihren auf fünfhunderttausend Francs geschätzten Anteil ausbezahlen. Dann fügte er hinzu, dass er hunderttausend Francs aus seinem eigenen Prisenanteil dem Gouverneur überlasse, der sie an invalide Seemänner, Witwen und Waisen verteilen werde; und unter dem Staunen und der Bewunderung, die sich in Freudenrufen Luft machten, deren Aufrichtigkeit unstreitig war, sagte er als Drittes, dass er seinen Kameraden zum Dank für ihre Treue und ihre Aufopferung die restlichen vierhunderttausend Francs überlasse und lediglich einen doppelten Anteil für François vorgesehen habe, der ihn zum Land des Betels begleitet hatte und dort mit ihm geblieben war.

Dann verkündete er, sie würden am übernächsten Tag mit ihm nach Frankreich aufbrechen, und forderte sie auf, ihren Ehefrauen so viel Geld wie möglich mitzubringen, was ein Leichtes sei, da jeder von ihnen mehr als sechzigtausend Francs besitze, wenn man die vorhergehenden Prisen einrechnete.

Sie alle hatten ihren Anteil erhalten, in französischem Gold oder in englischen Banknoten, und sie verließen René, beide Hände auf die Hosentaschen gedrückt, als fürchteten sie, ihr Gold oder ihr Papiergeld sei aus unerklärlichen Gründen in der Lage, sich aus eigenem Willen auf und davon zu machen.

Die Ankunft der Runner of New York war unauffällig gewesen, doch der Aufbruch ihrer Besatzung war ein ohrenbetäubendes Spektakel. Mit sechzigtausend Francs in der Tasche nach Hause zurückzufahren unter neutraler Flagge, was die Hoffnung erlaubte, den Heimathafen zu erreichen, ohne mit größeren Gefahren rechnen zu müssen als solchen, wie sie Wasser und Wetter den Seeleuten bereiten: Ein so unerhörtes Glück konnte nur mit den lärmendsten Freudenbezeigungen gewürdigt werden, und das wurde es.

Die Lawine, die sich von der Place du Théâtre zum Meer wälzte, lieferte noch Jahre später Gesprächsstoff in Port-Louis, und nicht wenige Ereignisse wurden auf den Tag datiert, an dem die Mannschaft der Runner of New York ihre Anteile ausbezahlt bekommen hatte.

Wie angekündigt fand René sich am übernächsten Tag im Regierungspalast ein, wo er sich mit ungeheucheltem Schmerz von der vortrefflichen Familie des Generals verabschiedete, die ihn wie ein Kind des Hauses aufgenommen hatte und hinter seiner makellosen Vornehmheit und dem schlichten Namen René ein verborgenes Geheimnis erahnt hatte, das René nicht enthüllen durfte, das jedoch tatsächlich bestand.

Dem Sohn des Hauses brachte René als Geschenk seine zweiläufigen Pistolen mit; er bat ihn, sie als Andenken anzunehmen, und demonstrierte dem jungen Mann die Treffsicherheit der Pistolen, indem er vier Kugeln abschoss, die auf zwanzig Fuß Entfernung von einer Messerklinge gespalten wurden.

Die Empfehlungsschreiben des Gouverneurs waren vorbereitet; als Lob übertrafen sie alles, was René sich hätte erhoffen können. General Decaen erteilte darin den Befehl – soweit es ihm zustand, denn als Gouverneur in Indien hatte er ein gewisses Mitspracherecht in Marineangelegenheiten -, den jungen Kapitän der Runner of New York auf dem ersten Kriegsschiff, dem er begegnete, als Offizier aufzunehmen.

Der Gouverneur erkundigte sich, wann der Anker gelichtet werden solle, und versprach, an den Quai zu kommen, um dort Abschied von der Mannschaft und dem Kapitän der Slup zu nehmen.

Der Anker sollte um Punkt drei Uhr gelichtet werden. Seit der Mittagsstunde drängten sich die Neugierigen auf dem Quai Chien-de-Plomb.

René hatte seinen Matrosen nicht befohlen, um zwei Uhr an Bord zu sein, sondern er hatte sie darum gebeten; er hatte hinzugefügt, er werde sich erkenntlich zeigen, wenn sie sich klaren Kopfes und kalten Blutes einfänden, so dass sie alle Manöver tadellos ausführen konnten. Er hatte den Ehrgeiz, das in keinem Seehafen der Welt je gesehene Schauspiel einer Schiffsbesatzung zu bieten, deren Mitglieder sechzigtausend Francs pro Mann mit sich führten, ohne dass ein einziger Betrunkener darunter war. Was er mit dem strengsten Befehl nicht erreicht hätte, erlangte er mit seiner freundschaftlichen Bitte.

René hatte seine Männer wissen lassen, welche Ehre ihnen der Gouverneur erwies, indem er ihrer Abfahrt beiwohnte, und sie hatten, ohne René einzuweihen, sechs Schleppkähne bestellt, die neben den Rudergängern Banner und Musikanten enthielten.

Der Gouverneur ließ seine Schaluppe an Renés Schiff anlegen, und als im Augenblick des Aufbruchs an Bord eine Salve abgefeuert wurde und die Kapelle den »Chant du départ« anstimmte, wurden auf ein Zeichen des Gouverneurs als Antwort auf die Salve vom Fort Blanc aus sechzehn Kanonenschüsse abgefeuert; dann glitt das Schiff langsam die Fahrrinne entlang, bis es nach einer Viertelmeile Segel setzen konnte; nun wurde aufgefiert, und das Boot des Gouverneurs legte an und nahm die Familie des Generals Decaen in Empfang, die es zum Quai Chien-de-Plomb zurückbrachte, begleitet von den sechs Kähnen mit Musikern.

Die Runner of New York nahm Kurs nach Süden und verschwand bald darauf in den ersten Abendnebeln.


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