116 Der eiserne Käfig


René zog die ausgebreitete Landkarte zu sich heran.

»Lassen Sie mich die Straßen studieren«, sagte er. »Ich will keinen Führer nehmen, der mich verraten könnte.«

Der General wies mit dem Finger auf das Dorf Li Parenti, fast verborgen inmitten eines dunklen Fleckens, der einen Wald darstellte; dennoch waren auf dem dunklen Flecken eine deutlich eingezeichnete Straße und ein kaum sichtbarer Pfad zu erkennen.

»Ich darf Ihnen verraten«, sagte der General, »dass sich in dem Dorf an die tausend Männer aufhalten; Sie können es daher mit nur fünfzig Mann unmöglich angreifen; ich werde Ihnen hundert Mann und einen Hauptmann mitgeben, die der Straße folgen und das Dorf von dort aus angreifen werden, während Sie sich über den Pfad anschleichen und den Hügel hinter dem Dorf erklimmen, und sobald Sie die Spitze der Kolonne erblicken, geben Sie mit einem Schuss das Signal zum Angriff.«

»Steht es mir frei, an diesem Plan etwas zu verändern?«, fragte René.

»Was Sie wollen: Ich schlage Ihnen nur einen ungefähren Plan vor.«

Am Abend dieses Tages, als General Reynier aufbrach, um Cotrone den Gnadenstoß zu versetzen, nahm René in Begleitung seiner hundertfünfzig Soldaten den Weg zum Dorf Li Parenti.

Als sie fünf Meilen von dem Dorf entfernt die Stelle erreichten, wo der Pfad von der Straße abzweigte, fragte René den Hauptmann, ob er ihm seine vier Tamboure überlassen könne, die er nicht allzu dringend zu benötigen schien. Der Hauptmann war einverstanden.

Die zwei Truppen trennten sich, René riet dem Hauptmann, nicht zu schnell zu marschieren, da er und seine fünfzig Männer auf unwegsamerem Gelände einen weiteren Weg zurücklegen mussten.

Gegen vier Uhr morgens, als im Osten der Himmel aufzuhellen begann, erreichte René die höchste Stelle der Hügelkette, die sich hinter dem Dorf erhob.

Daraufhin schickte er einen seiner Männer quer durch das Dorf und dem Hauptmann entgegen. Der Mann hatte Ordre, einen Schuss in die Luft abzugeben, sobald das Detachement sich nur mehr einige hundert Schritte vor dem Dorf befinden würde.

Der Bote entfernte sich auf dem Weg, der vor dem Trüppchen vorbeiführte und an einem schroffen Abgrund entlang verlief.

Nicht lange, und ein Gewehrschuss ertönte: das vereinbarte Signal.

Sofort befahl René seinen vier Tambouren, einen Trommelwirbel zum Sturmangriff zu schlagen, und seinen Männern befahl er, »Tod oder Sieg!« zu rufen.

Dann überrannten sie das Dorf wie eine Lawine und schlugen mit den Gewehrkolben die Türen der Häuser ein.

Die ersten Türen wurden von innen geöffnet, und einer der ersten Dorfbewohner, der zu fliehen versuchte, eine Frau in den Armen, war Taccone.

Als René sah, wie schnell und mühelos der Brigant davonlief, zweifelte er nicht daran, Taccone vor sich zu haben; er fürchtete jedoch, dass eine Kugel, die er ihm in den Rücken schoss, auf der anderen Seite des Körpers austreten und die Frau tödlich verwunden konnte; deshalb senkte er den Lauf seines Stutzens, bevor er abdrückte.

Taccone stürzte und wälzte sich auf dem Weg, und die Frau, die er im Sturz losgelassen hatte, rutschte dem Abgrund entgegen.

Ein schrecklicher Schrei ertönte und verriet, dass das arme Geschöpf hinuntergestürzt war.

Taccone erhob sich, entschlossen, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen; das erste Mal im Verlauf seiner langen Laufbahn als Bandit war er verwundet worden; er schleppte sich zu einem Baum, an den er sich lehnte, und wartete, die Waffe in der Hand.

Seine Körperkraft und sein Mut waren so legendär, dass niemand gewagt hätte, sich auf einen Zweikampf mit ihm einzulassen.

René hätte ihn ohne Weiteres mit einem Gewehrschuss erledigen können, doch er wollte ihn nicht töten, sondern fassen.

»Leben lassen! Leben lassen!«, rief er und stürzte sich auf Taccone, ohne sich darum zu kümmern, dass er dem Banditen eine prächtige Zielscheibe bot.

Doch schneller als der Brigant handelte der Bote, der zurückgekehrt war, aus dem dichten Gebüsch hinter dem Baum hervorsprang und Taccone das Bajonett in die Brust stieß.

Taccone schrie auf, sackte zu Boden und ließ seine Waffe aus der Hand gleiten; als der andere jedoch näher trat und sich bückte, um ihm den Kopf abzuschneiden, der tausend Dukaten wert war, richtete Taccone sich auf wie eine Schlange, die emporschnellt, umfasste den Soldaten mit beiden Armen, stieß ihm einen Dolch, den er in der Hand verborgen hatte, zwischen die Schultern, und die beiden Männer hauchten in einer Umklammerung des Hasses, die wie eine brüderliche Umarmung aussah, gleichzeitig ihr Leben aus.

René ließ zu, dass seine Männer Taccone den Kopf abschnitten und danach das Dorf Li Parenti plünderten und in Brand steckten.

Solche Unternehmungen interessierten ihn nicht; er stöberte das Wildschwein auf und erlegte es. An seinem Fleisch konnten sich die anderen gütlich tun.

Am nächsten Tag kehrte er nach Catanzaro zurück. Reynier kam nach der Einnahme Cotrones ebenfalls zurück und sah den Kopf des Taccone in einem eisernen Käfig über dem Stadttor von Catanzaro.

Sobald er angekommen war, ließ er René rufen.

»Mein lieber Graf«, sagte er, »beim Betreten der Stadt erfuhr ich das Neueste von Ihnen; über dem Tor hängt ein Kopf, der Ihre Taten verkündet; ich wiederum habe Briefe des Königs erhalten, die beweisen, dass er uns nicht im Stich lässt; er wird uns Marschall Masséna mit zwei- bis dreitausend Mann schicken; außerdem sind der deutsche Admiral und Konteradmiral Cosmao allem Anschein nach aus Toulon aufgebrochen; sie werden in Kalabrien zwischenlanden und in Korfu in Garnison gehen.«

General Reynier täuschte sich mit diesen Hoffnungen.

Während Cosmao und der Deutsche Toulon verließen, machte sich eine neue englische Flotte von Messina aus auf, um Ischia einzunehmen, wie Capri eingenommen worden war.

König Joseph behielt Masséna in Neapel und begnügte sich damit, dem kommandierenden General in Kalabrien eine Brigade seiner Garde und zwei neu gebildete Regimenter unter dem Befehl General Salignys zu schicken, das Regiment La Tour d’Auvergne und das Regiment Hambourg; dank der Landstraße, die inzwischen von Lagonegro zum Lager in La Corona führte, stand Neapel nun in Verbindung zu den Truppen General Reyniers, und auf dieser Landstraße konnte man Artillerie und Munition nach Kalabrien bringen.

Nunmehr ging es darum, Scilla und Reggio einzunehmen, wo die Engländer Garnisonen eingerichtet hatten, die zur Hälfte mit Engländern, zur Hälfte mit Aufständischen bemannt waren.

Napoleon verlangte ungeduldig die Rückeroberung der zwei Städte, denn eine Expedition nach Sizilien war undenkbar, solange diese Städte in englischer Hand waren.

Man machte sich auf, um Scilla einzunehmen.

René hatte gebeten, mit seinen Scharfschützen an der Spitze der Kolonne sein zu dürfen; dies wurde ihm umso bereitwilliger gewährt, als es seinen fünfzig Mann bisher gelungen war, keinen unnötigen Schuss abzugeben und mit jedem Schuss zu treffen.

Man richtete sich auf den Bergen von Scilla ein und sandte Kundschafter aus, und es kam nur zu kleinen Scharmützeln zwischen Schützen und einzelnen Räuberbanden, die den Wald unsicher machten.

Eine dieser Begegnungen hatte einen Zwischenfall zur Folge, der für Renés weiteres Leben nicht unerheblich war: Ein Dutzend Gefangene war gemacht worden, und da es sich um unverbesserliche Banditen handelte, hatte man kurzen Prozess mit ihnen gemacht, und das Erschießungspeloton lud die Gewehre, um sie zu füsilieren.

René kam mit seinen Scharfschützen vorbei, als er hörte, dass jemand ihn bei dem Namen Graf Leo rief.

Der Ruf ertönte aus der Gruppe gefangener Banditen.

René ging hin, und als er sich nach dem Mann umsah, der seinen Namen gerufen hatte, trat einer der Räuber einen Schritt vor und sagte: »Verzeihen Sie, Herr Graf, doch bevor ich sterbe, wollte ich Ihnen Adieu sagen.«

René, dem Stimme und Gesicht undeutlich bekannt vorkamen, sah den Mann aufmerksam an und erkannte den Räuber aus den Pontinischen Sümpfen, der ihm als Müller verkleidet und mit einer Augenbinde als Führer gedient hatte, bis sie am Tag der Schlacht von Maida in Sichtweite der französischen Armee gelangt waren.

»Oha, zum Henker«, sagte René, als er erkannte, welches Schicksal dem Banditen bevorstand, »ich glaube, du hättest Dümmeres tun können, als mich anzusprechen.«

Dann ging er zu dem Leutnant, der das Erschießungskommando befehligte, und nahm ihn beiseite: »Kamerad«, sagte er zu ihm, »könnten Sie mir den Gefallen tun, mir diesen Mann zu überlassen, der mich eben angesprochen hat? Oder muss ich mich an General Reynier wenden, damit er sich an Sie wendet?«

»Meiner Treu, Herr Graf«, sagte der Leutnant nonchalant, »einer mehr oder weniger wird für König Joseph wohl kaum einen großen Unterschied machen; und wenn Sie mich um diesen Mann bitten, dann haben Sie dafür sicher keinen unedlen Beweggrund; nehmen Sie ihn als Zeichen unserer Bewunderung für Ihre Vaterlandsliebe und Ihre Tapferkeit.«

René drückte dem Leutnant die Hand.

»Darf ich Ihren Männern ein Geschenk machen?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte der Leutnant. »Meine Männer würden sich einhellig dafür aussprechen, Ihnen den Galgenvogel zu schenken, und einhellig dagegen, ihn Ihnen zu verkaufen.«

»Schon gut«, sagte René, »Freunde, ihr seid wackere Männer.«

»Bindet den Mann los«, befahl der Offizier seinen Soldaten.

Der Bandit sah voller Verblüffung, wie ihm geschah.

»Auf«, sagte René, »folge mir.«

»Wohin Sie wollen, mein Offizier, ich bin zu allem bereit.«

Und voller Freude schloss der Bandit sich René an.

René und sein Gefangener entfernten sich von der Stelle, wo René den Briganten befreit hatte.

»So«, sagte René, »da sind die Berge, dort sind die Wälder; entscheide selbst, welche Richtung du einschlagen willst; du bist frei.«

Der Bandit dachte kurz nach; dann schüttelte er den Kopf und stampfte mit dem Fuß auf und rief: »Ach, zum Teufel, nein! Ich bleibe lieber Ihr Gefangener. Dem Tod habe ich allmählich oft genug ins Gesicht geblickt – ob in Form einer Pistole, einer Seilschlinge oder eines Dutzends Gewehre -, und er ist eine so garstige alte Vettel, dass ich auf eine nähere Bekanntschaft gerne verzichte. Behalten Sie mich bei Ihnen, ich werde Ihr Führer sein, Sie wissen, dass ich die Wege kenne; benötigen Sie vielleicht einen Diener? Dann werde ich Ihr Diener sein, ich werde mich um Ihre Waffen und um Ihr Pferd kümmern. Aber von Wald und Bergen habe ich genug!«

»Gut, abgemacht!«, sagte René. »Ich nehme dich mit, und wenn du dich gut beträgst, wie ich hoffe, dann wirst du belohnt und nicht bestraft werden.«

»Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte der Bandit, »und wenn ich Ihnen Ihre Güte nicht gebührend vergelte, soll es nicht an mir liegen.«

Sie erreichten die Stelle, an der sie anhalten wollten: auf dem Gipfel eines Berges, von wo aus man ein riesiges Panorama überblickte, das von Reggio di Calabria über die Küste Siziliens und Scilla bis zu den Liparischen Inseln reichte und in der Ferne bis zu den dunstigen Umrissen der Insel Capri.

Von dieser Stelle an war der Weg für die Artillerie nicht mehr passierbar, denn die reißenden Bäche des Aspromonte-Massivs unterbrachen ihn immer wieder.

General Reynier beriet sich mit seinen Offizieren; jeder schlug eine andere Lösung vor, und keine war praktikabel; doch ein Entschluss musste umso dringender gefasst werden, als man sich dem Feuer aus den Geschützen sizilianischer Kanonenboote ausgesetzt sah, die vor dem Ufer kreuzten; einige dieser Boote waren sogar vor Anker gegangen, und sie zielten so gut und schossen so fleißig, dass General Reynier sich genötigt sah, seine Zwölfergeschütze aufstellen zu lassen.

Nach einer halben Stunde brachte das sorgfältig ausgerichtete Feuer dieser Geschütze die Geschütze auf den gegnerischen Schiffen zum Schweigen und leerte ihre Decks; da sie keine Anstalten trafen, sich vom Ufer zu entfernen, forderte man sie mit lauten Rufen auf, sich zu ergeben.

Zur großen Verwunderung aller zeigte sich niemand an Deck, um auf die Aufforderung zu antworten, die dreimal wiederholt worden war.

Der Befehl, die Kanonenboote zu versenken, war gerade erteilt worden, als René zu General Reynier trat und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Wahrhaftig«, sagte der General, »da mögen Sie recht haben.«

Und René, der sich mit seinem Banditen unterhalten hatte, streifte Rock und Hemd ab und sprang ins Wasser, um den Kommandanten der Boote aufzufordern, sich zu ergeben.

Der Kommandant hatte auf die Aufforderungen General Reyniers nicht geantwortet, weil sie auf Französisch erfolgt waren und er sie als Engländer nicht verstanden hatte.

René hatte den Grund für das Schweigen erraten; er schwamm bis auf halbe Schussweite an die Boote heran und rief der Besatzung auf Englisch zu, sie solle sich ergeben.

Sogleich senkten sie ihre Flagge; jedes der Boote war mit zwanzig Mann besetzt und mit einer Kanone vom Kaliber vierundzwanzig bestückt.

General Reynier ging dem jungen Mann entgegen, der triefend zurückkehrte.

»Sie sind ein kluger Kopf, René«, sagte er zu ihm, »ziehen Sie sich um, und helfen Sie uns dann, ein Mittel zu finden, unsere Artillerie in Reichweite von Reggio zu bringen.«

»General«, sagte René, »ich war vorhin damit beschäftigt, nach diesem Mittel zu suchen, und wenn Sie mich für zwölf oder fünfzehn Stunden beurlauben, hoffe ich, mit guten Neuigkeiten wiederzukommen.«

»Gehen Sie«, sagte Reynier. »Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es besser ist, Sie schalten und walten zu lassen, als Sie um Ratschläge zu bitten.«

Zehn Minuten später schlichen zwei Bauern, die von Pizzo zu kommen schienen, in einer Entfernung von fünfzig Schritten an General Reynier vorbei auf die Berge zu. Da er sie für Spione hielt, befahl er, sie zu ergreifen, doch einer der beiden Bauern lüpfte seinen Hut, und der General erkannte René.


Загрузка...