19 Hector de Sainte-Hermine

Seit zwei Stunden währte Hectors Bericht. Claire weinte so hemmungslos, dass Hector innehielt, unschlüssig, ob er fortfahren solle. Er schwieg und befragte sie mit dem Blick; auch in seinen Augen standen Tränen.

»Oh, fahren Sie fort, ich bitte Sie!«, sagte Claire.

»Ich würde es mir als Gnade erbitten«, sagte er, »denn von mir war noch nicht die Rede.«

Claire reichte ihm die Hand. »Wie sehr haben Sie gelitten!«, flüsterte sie.

»Warten Sie ab«, sagte er. »Sie werden sehen, es liegt in Ihrer Hand, mich für alles zu entschädigen.


Valensolles, Jahiat und Ribier hatte ich nur flüchtig gekannt, doch durch meinen Bruder, ihren Komplizen und ihren Gefährten im Tod, war ich ihr Freund. Ich erhob Anspruch auf die Leichname und ließ sie bestatten. Danach kehrte ich nach Besançon zurück; ich ordnete meine Familienangelegenheiten und wartete. Worauf ich wartete, wusste ich nicht; auf etwas mir Unbekanntes, das mein Schicksal entscheiden würde.

Ich fühlte mich nicht verpflichtet, mein Schicksal zu suchen, sondern nur, mich ihm zu unterwerfen, sobald es sich zeigte.

Ich war auf alles gefasst.

Eines Morgens wurde mir der Chevalier de Mahalin angekündigt.

Diesen Namen hatte ich noch nie gehört, doch er berührte schmerzlich eine Saite in meinem Herzen, als wäre er mir bekannt.

Es war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, von untadeliger Haltung und ausgesuchter Höflichkeit. ›Monsieur le Comte‹, sagte er zu mir, ›Sie wissen vielleicht, dass die Compagnons de Jéhu, die so empfindlich getroffen und ihrer vier Anführer beraubt wurden, im Begriff sind, sich wieder zusammenzufinden; ihr Anführer ist der berühmte Laurent, der hinter dieser volkstümlichen Bezeichnung einen der aristokratischsten Adelsnamen ganz Südfrankreichs verbirgt. Ich frage Sie im Auftrag unseres Hauptmanns, der in unserer Truppe einen hochrangigen Platz für Sie vorgesehen hat, ob Sie einer der Unseren werden und so das Wort halten wollen, das Sie Ihrem Bruder gegeben haben.‹<

›Monsieur le Chevalier‹, sagte ich, ›es hieße lügen, wollte ich behaupten, dass ich für dieses Leben eines fahrenden Ritters recht große Begeisterung aufbrächte, doch ich habe mein Wort meinem Bruder verpfändet, wie er mir das seine verpfändet hatte; ich bin bereit.‹

›Soll ich Ihnen nur den Ort unseres Sammelns nennen‹, fragte der Chevalier de Mahalin, ›oder wollen Sie mich begleiten?‹

›Ich werde Sie begleiten, Monsieur.‹

Ich hatte einen Diener, der mein Vertrauen genoss, einen gewissen Saint-Bris, der schon unter meinem Bruder gedient hatte. Ihm übertrug ich die Verwaltung des Hauses und meiner Angelegenheiten. Ich ergriff meine Waffen, bestieg mein Pferd und ritt davon.

Unser Sammelort befand sich zwischen Vizille und Grenoble.

Nach zwei Tagen hatten wir ihn erreicht.

Laurent, unser Anführer, war seines Rufes wahrhaft würdig.

Er war ein Mensch, zu dessen Taufe Feen eingeladen waren, die ihm jede eine gute Eigenschaft zum Geschenk machte, doch die eine Fee, die vergessen wurde, hatte sich mit einem Charaktermangel gerächt, der alle Tugenden aufwog. Seiner überaus südländischen und folglich überaus männlichen Schönheit – denn südländisch bedeutet schwarze Augen, schwarze Haare, schwarzer Bart -, dieser überaus südländischen Schönheit gesellte sich ein bezaubernder Ausdruck von Güte und Herzlichkeit bei. Nach einer stürmischen Jugend sich selbst überlassen, hatte er keine solide Bildung erhalten, doch er besaß Lebensart, Ungezwungenheit, die Umgangsformen des Edelmannes, die durch nichts zu ersetzen sind, und jene unwiderstehliche Anziehungskraft, der man nachgibt, ohne zu wissen, warum. Zugleich aber war er von heftiger Wesensart und so aufbrausend, dass es jeder Beschreibung spottete; seine vornehme Erziehung half ihm, diese Unbeherrschtheit eine Zeit lang zu zügeln, doch unversehens brach sie sich immer wieder Bahn, und der zornentbrannte Laurent hatte nichts Menschliches mehr an sich. Dann zirkulierten die Worte: ›Laurent ist tobsüchtig, das wird Tote geben.‹

Die Justiz hatte sich mit Laurents Bande beschäftigt, wie sie es mit Saint-Hermines Bande getan hatte. Gewaltige Streitkräfte wurden eingesetzt; Laurent und einundsiebzig seiner Männer wurden gefasst und nach Yssingeaux geschafft, wo sie sich für ihre Taten und Untaten vor einem Sondergerichtshof verantworten sollten, der eigens im Departement Haute-Loire einberufen worden war, um über sie zu richten.

Doch zu jener Zeit weilte Bonaparte noch in Ägypten, und die Macht lag in zitternden Händen. Die Kleinstadt Yssingeaux empfing eine Garnison, nicht Gefangene. Die Anklage war kleinlaut, Zeugenaussagen waren ängstlich, die Verteidigung war tollkühn.

Laurent hatte die Verteidigung übernommen, und er beschuldigte sich aller ihnen zur Last gelegten Taten. Seine einundsiebzig Gefährten wurden freigesprochen, er allein wurde zum Tode verurteilt.

Er ging so sorglos in das Gefängnis zurück, wie er es verlassen hatte. Doch die überwältigende Schönheit, mit der die Natur ihn bedacht hatte, diese körperliche Empfehlung, wie Montaigne sie nennt, hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Alle Frauen betrauerten sein Los, und bei manchen hatte sich das Mitleid zu einem zärtlicheren Gefühl gesteigert.

Die Tochter des Gefängniswärters zählte zu Letzteren, ohne dass er dies wusste; zwei Stunden nach Mitternacht wurde Laurents Verlies geöffnet wie das des Piero de Medici, und wie das Mädchen aus Ferrara flüsterte ihm das Mädchen aus Yssingeaux die süßen Worte zu: Non temo nulla, bentivoglio! (Fürchte nichts, ich liebe dich!)

Diesen rettenden Engel hatte Laurent bisher nur durch die Gitterstäbe seiner Zelle gesehen, doch Herz und Sinne des Mädchens hatte er mit der ihm eigenen Anziehungskraft bezaubert.

Wenige Worte wurden gesprochen, Ringe wurden gewechselt, und Laurent war frei. Ein Pferd wartete im Nachbardorf, wo seine Verlobte sich ihm anschließen sollte. Der Tag brach an.

Während seiner Flucht hatte Laurent in der Morgendämmerung den Henker und seine Gehilfen das schauerliche Gerüst errichten sehen.

Die Hinrichtung war auf zehn Uhr vormittags festgesetzt worden; man hatte sich mit dem Termin beeilt, denn am Tag nach dem Urteilsspruch war Markttag, und man wollte die Hinrichtung in Anwesenheit möglichst vieler Bauern aus den umliegenden Dörfern abhalten.

Und als die ersten Sonnenstrahlen die fertig aufgebaute Guillotine auf dem Platz beschienen und sich herumsprach, wer der berühmte arme Sünder war, der sie besteigen sollte, dachte niemand mehr an den Markt, sondern alle Gedanken richteten sich auf die Hinrichtung.

Unterdessen wartete Laurent im Nachbardorf voller Unruhe – nicht ob des eigenen Schicksals, sondern um derjenigen willen, die ihn gerettet hatte und die nicht kam, aufgehalten durch einen zufälligen Umstand. Laurent verlor die Geduld und erkundete zu Pferde die Gegend um Yssingeaux, wobei er sich der Ortschaft immer mehr näherte, bis er zuletzt Opfer seiner Erregung wurde, die sich nicht mehr zügeln ließ, und jede Vorsicht über Bord warf: Er glaubte, diejenige, auf die er vergeblich wartete, sei bei ihrer Flucht überrascht worden und müsse nun möglicherweise als seine Komplizin die Strafe erleiden, die für ihn bestimmt gewesen war. Er reitet in die Stadt, treibt sein Pferd zum Galopp an, vorbei an den Menschengruppen und unter den erstaunten Ausrufen all derer, die den Gefangenen, dessen Guillotinierung sie beizuwohnen gedacht hatten, frei und zu Pferde sehen, kreuzt die Gendarmen, die ihn aus dem Gefängnis holen wollten, erreicht den Platz mit der wartenden Guillotine, macht die Gesuchte ausfindig, bahnt sich einen Weg zu ihr, hebt sie unter den Achseln hoch, wirft sie hinter sich auf das Pferd und verschwindet im Galopp unter dem Beifall all jener, die sich versammelt hatten, um seine Enthauptung zu beklatschen, und nun stattdessen seine Flucht und seine Rettung beklatschen.

So war unser Anführer, so war der Nachfolger meines Bruders, so war der Mann, unter dem ich das Waffenhandwerk erlernte.

Drei Monate lang führte ich dieses aufregende Leben, schlief im Mantel, das Gewehr in der Hand, die Pistolen im Gürtel. Dann verbreitete sich das Gerücht von einem Waffenstillstand. Ich kam nach Paris, nachdem ich versprochen hatte, bei der ersten Aufforderung zu meinen Gefährten zurückzukehren. Ich hatte Sie gesehen – verzeihen Sie, dass ich mir dieses Geständnis erlaube – und musste Sie wiedersehen.

Ich sah Sie wieder; und falls Ihr Blick zufällig auf mir verharrt haben sollte, entsinnen Sie sich gewiss meiner tiefen Traurigkeit und meiner Gleichgültigkeit oder beinahe Abneigung gegenüber allen Freuden und Vergnügungen.

Wie hätte ich in meiner unsicheren Lage, in der ich nicht dem eigenen Gewissen folgte, sondern einer schicksalhaften, absoluten, unausweichlichen Bestimmung, in der ich jederzeit bei einem Überfall auf eine Eilpost getötet oder verwundet werden konnte oder, schlimmer noch, gefangen genommen – wie hätte ich mich in dieser Lage erdreisten können, zu einem stillen und sanften jungen Mädchen, einer Blume jener Welt, in der sie erblüht und deren Gesetze sie befolgt, zu einem solchen Mädchen zu sagen: ›Ich liebe Sie, wollen Sie einen Ehemann, der sich selbst für vogelfrei erklärt hat und für den das größte Glück darin bestünde, kaltblütig mit einem Gewehrschuss getötet zu werden?‹

Nein, ich begnügte mich damit, Sie zu sehen, mich an Ihrem Anblick zu berauschen, mich überall dort einzufinden, wo Sie anzutreffen waren, Gott anzuflehen, den Waffenstillstand in einen Frieden zu verwandeln, ohne zu hoffen, dass er ein solches Wunder wirken würde!

Vor wenigen Tagen nun kündeten die Zeitungen von Cadoudals Ankunft in Paris und von seiner Unterredung mit dem Ersten Konsul; am selben Abend hieß es in denselben Zeitungen, der bretonische General habe sein Wort gegeben, nicht mehr gegen Frankreich zu kämpfen, wenn der Erste Konsul seinerseits nicht mehr gegen die Bretagne und ihn kämpfen werde.

Und am Tag darauf« – Hector holte ein Blatt Papier aus der Tasche – »am Tag darauf erhielt ich diesen Rundbrief von Cadoudals eigener Hand:


Da ein fortwährender Krieg mir Frankreich ins Unglück zu stürzen und mein Land zu zerstören schien, entbinde ich Euch von dem Treueschwur, den Ihr geleistet habt und auf den ich mich nur dann erneut berufen würde, wenn die französische Regierung das Wort bräche, das sie mir gegeben hat und das ich in Eurem Namen wie in meinem Namen angenommen habe.

Sollte sich hinter einem geheuchelten Frieden Verrat verbergen, würde ich abermals an Eure Treue appellieren, und auf Eure Treue, das weiß ich mit Gewissheit, wäre Verlass.

GEORGES CADOUDAL

Stellen Sie sich meine Freude vor, als ich diese ersehnte Beurlaubung erhielt. Ich war wieder im Besitz meiner selbst und nicht mehr von meinem Vater und meinen Brüdern einem Königshaus verpfändet, das ich nur durch die Hingabe meiner Familie und die Unglücksfälle kannte, die diese Hingabe über uns gebracht hat. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, ich besaß hunderttausend Francs Rente, ich liebte! Und dürfte ich annehmen, dass meine Liebe erwidert wird, stünde mir die Paradiespforte offen, die bis dahin der Würgeengel bewacht hatte. O Claire, Claire, deshalb sah ich so fröhlich aus auf dem Ball der Madame de Permon. Ich konnte Sie um dieses Gespräch bitten; ich konnte Ihnen gestehen, dass ich Sie liebe.«

Claire senkte den Blick und schwieg. Das war fast eine Antwort.

»Alles, was ich Ihnen soeben erzählt habe«, fuhr Hector fort, »ist über unsere Gegend hinaus nicht bekannt; in Paris weiß niemand davon. Ich hätte es Ihnen verschweigen können, doch das wollte ich nicht. Ich wollte Ihnen mein ganzes Leben erzählen, Ihnen erklären, welche Schicksalsfügung mich dazu gebracht hat, Ihnen endlich alles zu sagen und auf einen Freispruch aus Ihrem Mund zu hoffen, falls ich mich eines Vergehens oder gar eines Verbrechens schuldig gemacht haben sollte.«

»Oh, mein teurer Hector!«, rief Claire, überwältigt von der stummen Leidenschaft, die sie seit fast einem Jahr beherrschte. »O ja, ich verzeihe Ihnen, ich spreche Sie frei...«, und vergessend, dass ihre Mutter zusah: »Ich liebe Sie!«, und sie warf ihm die Arme um den Hals.

»Claire!«, rief Madame de Sourdis, weniger erzürnt als vor allem erstaunt.

»Mutter!«, erwiderte Claire errötend und vor Scham fast in den Boden versinkend.

»Claire!«, sagte Hector und ergriff ihre Hand. »Vergessen Sie nicht, dass alles, was ich sagte, nur für Ihre Ohren bestimmt war, dass es ein Geheimnis zwischen Ihnen und mir ist, dass ich von niemand anderem Vergebung erwarte, da ich niemand anderen liebe. Vergessen Sie das nie, und vergessen Sie vor allem nicht, dass ich erst dann wirklich leben werde, wenn Ihre Mutter die Frage, die ich Ihnen gestellt habe, beantwortet haben wird. Claire, Sie haben gesagt, dass Sie mich lieben, und ich stelle unser Glück unter den Schutz Ihrer Liebe.«

Und er verließ das Haus, ohne jemandem zu begegnen, so frei und fröhlich wie ein Gefangener, dem das Leben geschenkt wurde.

Madame de Sourdis erwartete ungeduldig ihre Tochter. Claires Unbesonnenheit, sich dem jungen Grafen von Sainte-Hermine in die Arme zu werfen, hatte sie aufs Höchste befremdet. Sie erwartete eine Erklärung.

Die Erklärung war kurz und unmissverständlich. Als das junge Mädchen vor seiner Mutter stand, fiel es auf die Knie und sagte nur die Worte: »Ich liebe ihn!«

Die Natur bildet unseren Charakter für die Epochen, die er zu durchleben hat. Die Epoche, die soeben durchlebt worden war, lieferte dafür ein schlagendes Beispiel; dieser angeborenen Willensstärke verdankten es Charlotte Corday und Madame Roland, dass die eine zu Marat, die andere zu Robespierre sagen konnten: »Ich hasse dich«, während Claire zu Hector sagen konnte: »Ich liebe dich

Ihre Mutter hob sie auf, hieß sie neben sich Platz nehmen und fragte sie aus, doch sie erfuhr nur Folgendes:

»Meine geliebte Mutter, Hector hat mir ein Familiengeheimnis verraten, das er seiner Ansicht nach vor aller Welt verbergen muss, mit Ausnahme jener, die er zu seiner Frau machen will; und diejenige bin ich. Er bittet Sie um die Gunst, ihm Gehör zu schenken, damit er Sie um meine Hand bitten kann, und ich wünsche es mir so sehnlich wie er; er ist ungebunden, er hat hunderttausend Francs Rente, wir lieben einander; die Entscheidung liegt bei Ihnen, Mutter, aber eine abschlägige Antwort würde ihn und mich ins Unglück stürzen!«

Nachdem sie all das entschieden und zugleich ehrerbietig gesagt hatte, verneigte Claire sich vor ihrer Mutter und trat einen Schritt zurück.

»Und wenn ich einverstanden bin?«, fragte Madame de Sourdis.

»Oh, Mutter!« rief Claire und warf sich ihr in die Arme. »Wie gütig Sie sind und wie sehr ich Sie liebe!«

»Und jetzt, da ich dein Herz beruhigt habe, setze dich, damit wir uns vernünftig unterhalten können«, sagte Madame de Sourdis.

Sie setzte sich auf ein Kanapee, und Claire nahm ihr gegenüber auf einem Kissen Platz, die Hände in den Händen ihrer Mutter.

»Mutter, ich höre Ihnen zu«, sagte Claire selig lächelnd.

»In Zeiten wie den unseren«, sagte Madame de Sourdis, »ist es unumgänglich, der einen oder anderen Partei anzugehören. Ich vermute, dass Hector de Sainte-Hermine der royalistischen Partei angehört. Gestern unterhielten wir uns mit deinem Patenonkel Doktor Cabanis, der nicht nur ein herausragender Heilkundiger ist, sondern auch ein überaus kluger Mann. Er hat mich zu der Freundschaft beglückwünscht, die Madame Bonaparte mir bezeigt, und lässt dir empfehlen, die Freundschaft zu ihrer Tochter zu pflegen, denn dort liegt seiner Ansicht nach die Zukunft.

Cabanis ist Hausarzt des Ersten Konsuls; er hält ihn für einen Mann mit weitgesteckten Zielen, der sich nicht mit dem zufriedengeben wird, was er bisher erreicht hat. Einen 18. Brumaire wagt man nicht um den Sessel eines Konsuls willen, sondern um den Thron zu erlangen.

Jene, die sich seinem Glücksflug anschließen, bevor die Wolke zerstoben ist, die uns die Zukunft verbirgt, werden mit ihm vom Wirbel seines Geschicks großen Dingen entgegengetragen. Er hat eine Vorliebe für große, für reiche Familien, die er um sich schart; in dieser Hinsicht gibt es an Sainte-Hermine nichts auszusetzen, er hat hunderttausend Francs Rente und kann seine Herkunft bis zu den Kreuzzügen zurückverfolgen; seine ganze Familie ist für die royalistische Sache gestorben, anders gesagt: Sie muss ihn nicht mehr kümmern. Er ist im richtigen Alter, um mit den politischen Ereignissen noch nichts zu tun zu haben. Er hat sich keiner Seite verpflichtet, sein Vater und seine Brüder sind für das alte Frankreich gestorben. An ihm ist es nun, für das neue Frankreich zu leben, indem er eine Position unter dem Ersten Konsul ausfüllt. Vergiss bitte nicht, dass ich diese Schritte in eine neue Richtung seiner Gefühle keineswegs zu einer Bedingung für eure Heirat mache. Es wäre mir eine große Freude, Hector auf unserer Seite zu sehen; doch wenn er sich dem verweigert, dann weil sein Gewissen es ihm gebietet, und das Gewissen des Menschen ist nur Gott Rechenschaft schuldig; der Ehemann meines Kindes und mein geliebter Schwiegersohn wird er dennoch sein.«

»Wann darf ich ihm schreiben, Mutter?«, fragte Claire.

»Wann du willst, mein Kind«, erwiderte Madame de Sourdis.

Claire schrieb am selben Abend, und am nächsten Tag klopfte Hector kurz vor der Mittagsstunde, das heißt so früh, wie irgend schicklich war, an die Tür des Stadtpalais.

Diesmal wurde er zu Madame de Sourdis geführt, die ihm die Arme wie eine Mutter entgegenstreckte.

Er drückte sie an sein Herz, als Claire die Tür öffnete und bei dem Anblick ihrer Umarmung ausrief: »O Mutter, ich bin so glücklich!«

Madame de Sourdis öffnete abermals die Arme und hielt beide Kinder an ihr Herz gedrückt.

Die Heirat war beschlossene Sache; nun musste mit dem jungen Grafen nur noch die Frage seiner Haltung zu dem Ersten Konsul erörtert werden.

Hector setzte sich auf das Kanapee zwischen Madame de Sourdis und Claire und hielt die Rechte und die Linke seiner Schwiegermutter und seiner Verlobten.

Claire erläuterte Hector die Ansicht Cabanis’ über Bonaparte und den Vorschlag ihrer Mutter. Hector betrachtete sie mit ungeminderter Aufmerksamkeit, während sie so wortgetreu wie möglich wiederholte, was Madame de Sourdis am Vorabend zu ihr gesagt hatte.

Als sie ausgesprochen hatte, verneigte Hector sich vor Madame de Sourdis und sagte zu Claire, die er noch eindringlicher ansah als zuvor: »Claire, versetzen Sie sich nach allem, was ich Ihnen gestern erzählt habe – und ich bedaure nicht, dass ich so weitschweifig war -, ganz und gar an meine Stelle und antworten Sie Ihrer Mutter an meiner statt. Ihre Antwort wird die meine sein.«

Das junge Mädchen überlegte für einen Augenblick; dann warf sie sich ihrer Mutter in die Arme. »Ach, Mutter!«, rief sie und schüttelte den Kopf. »Er kann nicht! Das Blut seines Bruders trennt sie.«

Madame de Sourdis senkte den Kopf; unstreitig erlitt sie eine spürbare Enttäuschung. Sie hatte sich für ihren Schwiegersohn eine hohe Stellung in der Armee erträumt und für ihre Tochter eine hohe Position bei Hofe.

»Madame«, sagte Hector, »glauben Sie bitte nicht, ich zählte zu jenen, die sich damit brüsten, das alte Regime auf Kosten des neuen zu rühmen, oder dass ich für die Verdienste des Ersten Konsuls blind wäre. Bei Madame Permon sah ich ihn neulich zum ersten Mal, und ich fühlte mich von ihm angezogen und nicht etwa abgestoßen. Ich bewundere seine Feldzüge von 1796 und 1797 als Meisterleistungen moderner Strategie und Feldherrnkunst. Weniger Begeisterung bringe ich dem Ägyptenfeldzug entgegen, das muß ich gestehen, denn er konnte kein glückliches Ergebnis zeitigen und war nur die Maske, die unermessliche Ruhmsucht kaschieren sollte. Bonaparte hatte gekämpft und gesiegt, wo Marius und Pompejus gekämpft und gesiegt hatten. Er wollte ein Echo wecken, das seit den Namen Alexanders und Cäsars verstummt war, und das war verlockend, doch ein teurer Traum, der sein Land hundert Millionen und dreißigtausend Männer kostete! Der letzte Feldzug, die Schlacht von Marengo, wurde aus privatem Ehrgeiz unternommen, um den 18. Brumaire zu legitimieren und um die ausländischen Regierungen zu nötigen, die französische Regierung anzuerkennen. Jedermann weiß, dass Bonaparte sich bei Marengo nicht mit Ruhm bedeckt hat, sondern nur Glück im Spiel hatte, denn als er im Begriff stand, die Partie zu verlieren, hielt er zwei Asse in der Hand – und was für Asse! -, Kellermann und Desaix. Der 18. Brumaire wiederum war ein Handstreich, dessen Gelingen den Anstifter keineswegs rechtfertigt. Denkt man sich ein Scheitern statt des Erfolgs, wäre dieser Versuch der Regierungsumstürzung nur eine Rebellion, ein Verbrechen an der Nation, und das hätte die Familie Bonaparte mindestens drei Köpfe gekostet. Der Zufall war ihm gewogen, als er aus Alexandria zurückkehrte, der Zufall war auf seiner Seite bei Marengo, die Kühnheit war in Saint-Cloud seine Rettung; doch kein besonnener und leidenschaftsloser Mann wird drei Blitzschläge für das Morgengrauen eines neuen Tages halten, mögen sie noch strahlend leuchten. Wäre ich völlig unbelastet von meiner Herkunft, wäre meine Familie nicht zutiefst verwurzelt in royalistischer Erde, dann stünde ich nicht an, mich der Karriere dieses Mannes anzuschließen, obwohl ich in ihm nichts anderes sehe als einen kühnen Abenteurer, der ein einziges Mal für Frankreich in den Krieg zog, während er die anderen Male Krieg im eigenen Interesse führte. Und um Ihnen zu beweisen, dass ich nicht voreingenommen bin, verspreche ich Ihnen, dass ich mich bei seinem ersten Unternehmen zum Wohle Frankreichs vorbehaltlos seiner Sache anschließen werde, denn bereitwillig räume ich ein, dass ich zu meinem eigenen Erstaunen, obwohl ich seinetwegen den Tod meines Bruders beklagen muss und trotz seiner Fehler Bewunderung für ihn empfinde und ihn unwillkürlich schätze; das macht der Einfluss, den besondere Naturen auf die Menschen ihrer Umgebung ausüben und dem ich unterliege.«

»Ich verstehe«, sagte Madame de Sourdis, »doch um eine Sache will ich Sie bitten.«

»Sie können mich um nichts bitten, ich habe Ihnen zu gehorchen.«

»Gestatten Sie, dass ich die Einwilligung des Ersten Konsuls und Madame Bonapartes zu Claires Eheschließung einhole? Ich bin mit Madame Bonaparte freundschaftlich so eng verbunden, dass ich es tun muss. Alles andere wäre unhöflich.«

»Sicherlich, doch unter der Bedingung, dass wir darauf verzichten, wenn sie sie verweigern.«

»Wenn sie sie verweigern, können Sie Claire entführen, und ich werde Ihnen die Entführung verzeihen und Sie besuchen, wo Sie auch weilen mögen, doch seien Sie unbesorgt, sie werden sie nicht verweigern.«

Und so wurde Madame de Sourdis erlaubt, den Ersten Konsul und Madame Bonaparte um ihre Einwilligung zu der Heirat von Mademoiselle Claire und dem Grafen Hector de Sainte-Hermine zu bitten.


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