48 Nach drei Jahren Kerkerhaft

Seit dem Gespräch des Polizeiministers mit dem Kaiser war keine Stunde vergangen, als der Gerichtsdiener, der vor Fouchés Tür wachte, verkündete, dass der Gefangene eingetroffen sei.

Fouché wandte den Kopf und sah durch die offene Tür den Grafen von Sainte-Hermine zwischen zwei Gendarmen.

Auf ein Zeichen des Polizeiministers trat der Graf von Sainte-Hermine ein.

Seit dem Tag seiner Festnahme, seit Fouché ihn hatte hoffen lassen, man würde ihn ohne Prozess erschießen, hatte er den Minister nicht wiedergesehen.

Eine Woche, zwei Wochen, einen ganzen Monat lang war Sainte-Hermine jedes Mal in der Hoffnung, man hole ihn zu seiner Hinrichtung, zur Tür seiner Zelle geeilt, wenn er hörte, dass der Schlüssel sich im Schloss drehte.

Dann begriff er, dass er sich wenigstens bis auf weiteres damit abfinden musste, am Leben zu bleiben.

Ihn ergriff die Furcht, man verschone ihn, um ihn in den Prozessen, die stattfinden würden, als Zeugen zu befragen.

Mehrere Monate verbrachte er in dieser Furcht, die sich zuletzt genauso verflüchtigte wie zuvor seine Hoffnung.

Bis dahin war ihm die Zeit nicht lang erschienen, denn ihn beschäftigten die zwei Empfindungen, die sich in seiner Seele ablösten.

Dann begann er sich zu langweilen und verlangte Bücher.

Sie wurden ihm gewährt.

Er verlangte Stifte, Zeichenpapier, mathematische Instrumente.

Sie wurden ihm gewährt.

Er verlangte Tinte, Schreibpapier, Federn.

Sie wurden ihm gewährt.

Und als die langen Winternächte kamen und es um vier Uhr nachmittags in seiner Zelle dunkel wurde, verlangte Hector eine Lampe, die ihm nach einigem Hin und Her gewährt wurde. Zwei Stunden täglich durfte er im Garten spazieren gehen, doch diese Gunst nutzte er nie, weil er fürchtete, erkannt zu werden. So lebte er drei Jahre lang.

Bei besonderen Menschen gibt es ein Alter, in dem das Unglück die körperliche Schönheit und die seelischen Vorzüge noch steigert.

Hector war ein wenig älter als fünfundzwanzig Jahre und von außergewöhnlichem Naturell. Während der langen Einsamkeit hatte sein Gesicht das jugendliche Aussehen verloren; die rosige Färbung seiner Wangen war einer bleichen Hautfarbe mit leicht bräunlichem Anflug gewichen; seine Augen wirkten größer, weil sie im Dunkeln zu sehen versuchten; sein Bart war gewachsen und umrandete sein Gesicht auf männliche Weise; sein Äußeres war von drei Eindrücken gekennzeichnet, die fast unmerklich ineinander übergingen: Nachdenklichkeit, Verträumtheit, Melancholie.

Dem Bedürfnis junger Menschen, ihre körperliche Kraft zu erschöpfen, war er mit gymnastischen Übungen begegnet; er hatte sich Kanonenkugeln unterschiedlichen Gewichts erbeten und hatte mit ihnen Gewichtheben geübt und zuletzt jongliert.

An einem Seil, das von der Decke hing, hatte er gelernt, nur mithilfe seiner Hände zu klettern. Und schließlich hatte er sich all die gymnastischen Übungen, die heutzutage zur Leibesertüchtigung eines jungen Mannes gehören, selbst ausgedacht, nicht um seine Erziehung zu vervollkommnen, sondern aus bloßer Langeweile.

Und während dieser dreijährigen Haft hatte Sainte-Hermine alles gründlich studiert, was man allein studieren kann – Geographie, Mathematik, Geschichte. In seiner Jugend hatte er sich für das Reisen begeistert, er sprach Deutsch, Englisch und Spanisch wie seine Muttersprache, und die Erlaubnis, Bücher zur Verfügung zu haben, hatte er weidlich genutzt und seine Reisen auf Karten unternommen, da er sie real nicht unternehmen konnte.

Insbesondere Indien, das den Engländern damals so hartnäckig streitig gemacht wurde von Haidar Ali und seinem Sohn Tipu Sahib, von dem Bailli de Suffren, von Bussy und Dupleix, hatte seine Aufmerksamkeit geweckt und war Gegenstand eingehender Studien geworden, ohne dass Hector sich hätte träumen lassen, dass diese Studien jemals einen Nutzen haben würden, da er sich zu ewig währender Haft verurteilt wähnte.

Er hatte sich an dieses Leben gewöhnt, und der Befehl, sich vor dem Polizeiminister einzufinden, war ein großes Ereignis in diesem Leben; geben wir zu, dass ein leises Gefühl der Furcht von seiner Seele Besitz ergriff, als er den Befehl befolgte.

Auf der Stelle erkannte Hector Fouché wieder, der sich nicht im Geringsten verändert hatte, abgesehen davon, dass er nun einen bestickten Anzug trug und Monseigneur genannt wurde. Anders verhielt es sich mit Hector de Sainte-Hermine: Um ihn wiederzuerkennen, musste Fouché zweimal hinsehen.

Vor dem Polizeiminister spürte Sainte-Hermine alle alten Gefühle in seinem Inneren wiederaufleben.

»Ach, Monsieur!«, sagte er und unterbrach als Erster ihre stumme Zwiesprache, »so haben Sie also Ihr Wort gehalten!«

»Verargen Sie mir wirklich, dass ich Sie gezwungen habe, am Leben zu bleiben?«, sagte Fouché.

Sainte-Hermine lächelte traurig.

»Nennen Sie das leben«, fragte er, »in einem Zimmer von zwölf Fuß auf zwölf Fuß mit vergitterten Fenstern und zwei Riegeln an jeder Tür eingesperrt zu sein?«

»In einem Zimmer von zwölf Fuß auf zwölf Fuß lebt es sich immer noch behaglicher als in einem Sarg von sechs Fuß Länge und zwei Fuß Breite.«

»Der Sarg mag noch so eng sein, aber im Tod kennt man den Frieden.«

»Würden Sie mich heute«, fragte daraufhin Fouché, »ebenso inständig anflehen, Sie sterben zu lassen, wie Sie es seinerzeit taten?«

Sainte-Hermine zuckte die Schultern. »Nein«, sagte er. »Damals war das Leben mir zuwider, heute ist es mir gleichgültig; Sie ließen mich rufen, heißt das nicht, dass mein Schicksal sich nun erfüllt?«

»Und warum sollte Ihr Schicksal sich erfüllen?«, fragte Fouché.

»Weil man mit dem Herzog von Enghien, mit Pichegru, Moreau und Cadoudal aufgeräumt hat und es, wie mir scheinen will, nach drei Jahren an der Zeit ist, auch mit mir aufzuräumen.«

»Mein lieber Monsieur«, erwiderte Fouché, »als Tarquinius seine Befehle Sextus bekanntgeben wollte, köpfte er nicht alle Mohnblüten in seinem Garten, sondern nur die höchsten.«

»Was soll ich dieser Antwort entnehmen, Monsieur?«, fragte Hector, dem das Blut in die Wangen stieg. »Dass mein Kopf zu niedrig ist, um es wert zu sein, dass man ihn abschlägt?«

»Ich wollte Sie keineswegs verletzen, Monsieur, aber Sie werden mir zustimmen, dass Sie weder ein Prinz von Geblüt sind wie der Herzog von Enghien noch ein siegreicher General wie Pichegru, noch ein großer Feldherr wie Moreau oder ein berühmter Partisan wie Georges.«

»Sie haben recht«, sagte Hector und senkte den Kopf, »ich bin ein Nichts neben jenen, die Sie genannt haben.«

»Aber«, fuhr Fouché fort, »alles, was die anderen sind oder waren, können Sie werden, ausgenommen Prinz von Geblüt.«

»Ich?«

»Gewiss doch. Hat man Sie in Ihrem Gefängnis behandelt wie jemanden, der seine Kerkerzelle nur verlassen wird, um den Tod zu erleiden? Hat man während Ihrer Gefangenschaft versucht, Ihren Geist zu erniedrigen, Ihre Seele zu zerbrechen oder Ihr Herz zu verderben? Haben Sie einen Wunsch gehegt, der Ihnen nicht erfüllt worden wäre? Hat Ihnen das nicht gezeigt, dass eine wohlwollende Macht über Sie wachte? Drei Jahre, wie Sie sie zugebracht haben, Monsieur, sind keine Bestrafung, sondern eine zusätzliche Erziehung, und vorausgesetzt, die Natur hat Sie dazu bestimmt, ein Mann zu werden, hätten diese drei Jahre Ihnen unter anderen Umständen gefehlt.«

»Aber schließlich«, rief Sainte-Hermine ungeduldig, »hat man mich zu einer Strafe verurteilt; worin besteht sie?«

»Darin, dass Sie als einfacher Soldat in die Armee eintreten.«

»Aber das ist eine Degradierung.«

»Und welchen Rang hatten Sie bei Ihren Wegelagerern inne?«

»Was meinen Sie?«

»Ich will wissen, welchen Rang Sie bei den Compagnons de Jéhu innehatten.«

Hector senkte den Kopf.

»Sie haben recht«, sagte er, »ich werde einfacher Soldat sein.«

»Und seien Sie ruhig stolz darauf, Monsieur: Marceau, Kléber, Hoche haben ihre Laufbahn als einfache Soldaten begonnen und wurden berühmte Generäle. Jourdan, Masséna, Lannes, Berthier, Augereau, Brune, Murat, Bessières, Moncey, Mortier, Soult, Davout und Bernadotte sind heute Marschälle Frankreichs und haben fast alle als einfache Soldaten angefangen; fangen Sie an wie diese und enden Sie wie sie.«

»Man wird anordnen, mich in den niedrigsten Rängen der Armee zu belassen.«

»Sie werden durch herausragende Taten Ihre Vorgesetzten zwingen, Sie zu befördern.«

»Ich werde gezwungen sein, einer Regierung zu dienen, der meine Familie ablehnend gegenüberstand und die ich ablehnen muss.«

»Monsieur, seien Sie ehrlich und gestehen Sie sich ein, dass Sie zu dem Zeitpunkt, als Sie im Wald von Vernon Postkutschen überfielen, noch gar keine Zeit gehabt hatten, eine eigene Haltung in diesen Dingen zu entwickeln; Sie haben Ihrer Familientradition gehorcht und nicht Ihrem eigenen Urteil. Seit Sie im Gefängnis sind, seit Sie die Geschichte der Vergangenheit und die Möglichkeiten der Zukunft betrachtet haben, muss Ihnen klar geworden sein, dass die alte Welt zu Trümmern zerfällt und auf diesen Trümmern eine neue errichtet wird. Alles, was die alte Welt bedeutete, was mit ihr zusammenhing, ist tot, ist einen gewalttätigen, unumkehrbaren, vom Schicksal vorherbestimmten Tod gestorben. Vom Thron bis zum niedrigsten Rang in der Armee, von den höchsten Staatsbeamten bis zu den bescheidensten Dorfbürgermeistern sieht man nur neue Gesichter; sogar in Ihrer eigenen Familie hat eine vergleichbare Trennung stattgefunden: Ihr Vater und ihre zwei Brüder gehörten der Vergangenheit an, Sie aber sind Teil der neuen Welt; und was Sie selbst in diesem Augenblick denken, gibt mir recht, davon bin ich überzeugt.«

»Ich muss gestehen, Monsieur, dass an dem, was Sie sagen, viel Wahres ist und dass Ludwig XVI. und Marie-Antoinette ebenso für die alten Geschlechter standen, zu denen sie zählten, wie Bonaparte und Joséphine, die beide unbedeutenderen Geschlechtern entstammen, die neue Zeit verkörpern.«

»Es freut mich, dass ich mich nicht getäuscht habe; Sie sind der intelligente Mann, für den ich Sie gehalten habe.«

»Darf ich, um die Schmach der Vergangenheit zu tilgen, meinen Dienst unter fremdem Namen antreten?«

»Ja; Sie dürfen Ihren Dienst nicht nur unter fremdem Namen antreten, sondern sogar die Art des Dienstes, den anzutreten Sie verurteilt sind, selbst wählen.«

»Danke.«

»Haben Sie eine Vorliebe?«

»O nein; welchen Weg ich auch gehe, ich werde zu dem Staub gehören, den der Wind aufwirbelt.«

»Warum sich vom Wind davontragen lassen, wenn man gegen ihn kämpfen kann? Soll ich Ihnen einen Rat geben, Monsieur, was die Wahl der Heeresgattung betrifft, in der Sie dienen wollen?«

»Geben Sie ihn, Monsieur.«

»Wir werden einen erbitterten Krieg mit England führen, einen Seekrieg; Sie können wählen, werden Sie Seemann.«

»Ich spielte mit dem Gedanken daran«, sagte Hector.

»In Ihrer Familie gibt es Seeleute: Fünf Ihrer Vorfahren, angefangen mit Hélée de Sainte-Hermine, Schwadronschef im Jahr 1734, haben hohe Positionen in der Marine bekleidet; der Bruder Ihres Vaters war Schiffskapitän – Sie wissen es selbst am besten, denn als Vierzehnjähriger haben Sie unter ihm als Steuermannsjunge und Seekadett gedient; Ihre seemännische Ausbildung ist also bereits zur Hälfte absolviert.«

»Da Sie so gut über alles informiert sind, was sich seit eineinhalb Jahrhunderten in meiner Familie ereignet hat, Monsieur, können Sie mir vielleicht auch sagen, was aus meinem Onkel geworden ist? In den drei Jahren meiner Gefangenschaft habe ich keine Kunde von der Welt gehabt.«

»Ihr Onkel, ein loyaler Untertan des Königs, hat anlässlich des Todes des Herzogs von Enghien um seine Entlassung nachgesucht und hat sich mit Ihren zwei Cousinen nach England zurückgezogen.«

»Wann soll ich mich an meinem Bestimmungsort einfinden?«

»Wie lange brauchen Sie, um zu Hause Ihre Angelegenheiten zu regeln?«

»Meine Angelegenheiten werden schnell geregelt sein, denn ich nehme an, dass mein Vermögen beschlagnahmt wurde.«

»Ihr Vermögen steht voll und ganz zu Ihrer Verfügung, und wenn Ihr Verwalter Sie nicht betrügt, werden Sie die Erträge von drei Jahren vorfinden, dreihundert Millionen Francs, was keine schlechte Ausstattung für einen Seemann ist.«

»Monsieur, aus allem, was Sie sagen, geht hervor, dass ich Ihnen viel verdanke, und doch habe ich Ihnen bislang mit keinem Wort gedankt. Bitte schreiben Sie meine Unaufmerksamkeit der unbegreiflichen Situation zu, in der ich mich wiederfinde, und nicht der Fühllosigkeit eines Undankbaren.«

»Ich halte Sie so wenig für undankbar, dass ich Ihnen einen Rat geben will, den ich bis zuletzt aufgespart habe, weil er der beste ist.«

»Sagen Sie ihn, Monsieur.«

»Treten Sie auf keinen Fall in die kaiserliche Marine ein.«

»Und wo soll ich Ihrer Meinung nach eintreten?«

»Nehmen Sie Dienst an Bord eines Kaperschiffs. Ein neues Gesetz hat die Korsaren den Marineoffizieren gleichgestellt; müssten Sie als einfacher Seemann dienen, fiele Ihnen die Disziplin an Bord eines Marineschiffs beschwerlich, doch an Bord eines Kaperschiffs, auf dem zwischen den Dienstgraden weniger streng unterschieden wird, können Sie sich ohne Weiteres mit dem Kapitän anfreunden und ihm vielleicht sogar einen Teil seiner Ausrüstung finanzieren; es steht ihm frei, Ihnen den Rang zu verleihen, den er Ihnen verleihen will, und wenn Sie von der irregulären Marine in die des Staates überwechseln, wird Ihnen die Dienstzeit seit Ihrem ersten Tag als Steuermannsjunge bei Ihrem Onkel angerechnet werden.«

»Aber Monsieur Fouché«, sagte Hector voller Erstaunen über so viel Wohlwollen seitens eines Mannes, der nicht unbedingt als wohlwollend galt, »was habe ich getan, um solche Aufmerksamkeit Ihrerseits zu verdienen?«

»Das weiß ich in der Tat nicht, und ich erkenne mich selbst nicht wieder«, sagte der Polizeiminister. »Ich weiß nur, dass ich bestimmte Männer, deren überragende Intelligenz mir auffällt, gerne schwierigen Situationen aussetze, denn sie gehen immer ehrenvoll und ruhmvoll aus ihren Prüfungen hervor. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergehen wird, aber eines Tages werden Sie mir danken, und zwar mit mehr Berechtigung als heute.«

»Monsieur«, sagte Sainte-Hermine mit einer Verbeugung, »schon heute bin ich Ihnen für alles verpflichtet, auch für mein Leben.«

»Vergessen Sie nicht, mir den Namen Ihres Schiffs mitzuteilen, wenn Sie an Bord gehen, die Nummer, die Ihnen in der Mannschaft zugeteilt wird, und das Pseudonym, unter dem Sie Ihren Dienst antreten; denn Sie sagten, wenn ich mich recht erinnere, Sie wollten unter fremdem Namen dienen.«

»Ja, Monsieur, der Name Sainte-Hermine ist tot.«

»Für alle Welt?«

»Für alle Welt und vor allem für diejenige, die ihn tragen sollte.«

»Bis er zusammen mit dem Titel eines Kommandanten oder Generals wiederauferstehen wird, nicht wahr?«

»Aber ich hoffe, dass die Person, die Sie erwähnten, bis dahin ihr Glück gefunden und mich vergessen haben wird.«

»Aber wenn sie mich, der ich in meiner Eigenschaft als Polizeiminister alles wissen muss, fragt, wie Sie gestorben sind, was soll ich ihr dann antworten?«

»Antworten Sie ihr, dass ich mit aller Achtung, die ich ihr schulde, und in ungeminderter Liebe zu ihr gestorben bin.«

»Monsieur sind frei«, sagte Fouché und öffnete beide Türflügel.

Die Gendarmen machten Platz.

Der Graf von Sainte-Hermine salutierte und ging hinaus.


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