93 Unstern

Lucas kletterte in die Wanten, und auf der Höhe von etwa zwanzig Fuß sah er, dass das Deck der Victory tatsächlich verlassen war.

Sofort ruft er seine Entermannschaft herbei; in weniger als einer Minute sind Back und Schanz der Redoutable voller Uniformierter, die sich auf der Poop, auf der Verschanzung und in den Wanten zum Entern bereitmachen.

Die Kanoniere der Victory lassen ihre Geschütze im Stich, um den neuen Angriff abzuwehren. Von einem Granatenhagel und Musketenfeuer empfangen, müssen sie sich ungeordnet hinter die erste Batterie zurückziehen.

Die Schnelligkeit der Victory ist ihre Rettung, und alle Versuche der französischen Matrosen, sie zu entern, sind zum Scheitern verurteilt. Kapitän Lucas befiehlt, die Haltetaue der Großrahe zu kappen und die Rahe als Brücke von Schiff zu Schiff zu legen.

Doch dem Seekadetten Yon und vier Matrosen ist es gelungen, sich über den Anker in den Schoten der Victory auf das Deck des Engländers zu ziehen. Die Entermannschaft hat gesehen, welchen Weg sie genommen haben, und will ihnen folgen, angeführt vom ersten Offizier der Redoutable, Leutnant zur See Dupotet.

Ein Mann, der sich vom Mastkorb des Besanmasts der Redoutable über das Tauwerk auf die Victory gehangelt hat, lässt sich wie ein Meteorit mitten unter sie fallen. Wird die Victory das unerhörte Schauspiel eines Admiralsschiffs bieten, das mitten im englischen Sieg von einem gegnerischen Schiff gekapert wird, obwohl jenes Schiff sechsundzwanzig Kanonen weniger an Bord hat? Doch in diesem Augenblick fegt eine entsetzliche Kugel- und Kartätschensalve über das Deck der Redoutable.

Abgefeuert hat sie die Temeraire, die sich nach erfolgreichem Durchdringen der gegnerischen Schlachtlinie unter den Bugspriet der Redoutable drängt.

Zweihundert Mann hat diese Breitseite zu Boden geschleudert.

Die Temeraire holt auf, bis sie im rechten Winkel zur Redoutable liegt, und versetzt ihr eine weitere Salve. Die französische Flagge ist weggeschossen, doch ein Mann, den kaum jemand in Kapitän Lucas’ Mannschaft kennt, eilt zu der Kiste mit Flaggen, ergreift eine neue Trikolore und versucht sie an die Rahe zu nageln.

Und als wären zwei Dreidecker nicht ausreichend, um einen Zweidecker in die Knie zu zwingen, gesellt sich ihnen ein drittes Schiff hinzu.

Die englische Neptune attackiert das Heck der Redoutable und feuert eine Breitseite ab, die ihren Fockmast und ihren Besanmast wegreißt. Auch die neue Flagge wird von dem Eisenhagel zerrissen, doch der Großmast bleibt stehen; derselbe Mann, der die Flagge an eine Rahe genagelt hatte, springt zum Großmast und nagelt eine weitere Flagge an die Großstenge. Dann bombardiert er die Temeraire mit einem Geschützhagel, der sie entmastet und fünfzig Männer tötet.

Eine neue Breitseite der Neptune reißt die Schiffswand der Redoutable auf, zerstört ihr Ruder und versetzt dem Schiffsrumpf an der Wasserlinie mehrere Einschüsse, durch die das Wasser sich in Sturzbächen in das Schiffsinnere ergießt.

Alle Offiziere sind verwundet, zehn von elf Seekadetten ringen mit dem Tod. Von sechshundertdreiundvierzig Mann Besatzung sind fünfhundertzweiundzwanzig nicht mehr kampffähig, dreihundert davon tödlich getroffen. Zuletzt trifft eine Kanonenkugel den Großmast, der umstürzt und die dritte Fahne mitnimmt.

Der Mann, der zweimal die Flagge ersetzt hat, sucht nach einer Stelle, wo er noch eine Fahne anbringen könnte, doch das Schiff ist völlig entmastet, und Lucas sagt zu ihm mit nach wie vor ruhiger Stimme: »Sinnlos, René, wir sinken.«

Die Bucentaure war in kaum weniger beklagenswerter Verfassung; sie hatte ihren Bugspriet in der Santissima Trinidad verfangen und mühte sich vergeblich, sich zu befreien; in ihrer schrecklichen Hilflosigkeit zuerst von der Victory und dann von vier weiteren Schiffen der Kolonne Nelsons unter Beschuss genommen, schossen die zwei Schiffe mit ihren mehr als zweihundert Kanonen und fast zweitausend Kombattanten aus ihren doppelten Battieren alles kurz und klein auf den vier gegnerischen Schiffen, die ihrerseits die Bucentaure und die Santissima Trinidad zu Wracks schossen.

Villeneuve, der auf seiner Poop stand, fand in der Hoffnungslosigkeit seiner Lage die Entschlusskraft, die ihm im Kampf gefehlt hatte. Im Gefechtsfeuer der Bucentaure, der Santissima Trinidad und der vier gegnerischen Schiffe wuchs Villeneuve zu ungeahnter Größe. Um sich herum sah er seine Offiziere einen nach dem anderen fallen; an seinen Standort gefesselt, musste er die vernichtenden Salven von hinten und von Backbord ertragen, ohne die Backbordgeschütze in Einsatz bringen zu können.

Nach einer Stunde des Gefechts oder eher des Todeskampfes sah Villeneuve seinen Flaggkapitän Magendi tot niederfallen. Leutnant Dandignon, der an seine Stelle getreten war, wurde verwundet und fiel, ihn ersetzte Leutnant Fournier. Großmast und Besanmast fielen nacheinander auf Deck, wo sie ein Werk der Zerstörung anrichteten. Die Flagge wurde am Fockmast gehisst, und in einer dichten Rauchwolke, die der schwache Wind um die brennenden Schiffe herum nicht zu zerstreuen vermochte, konnte der Admiral nicht mehr erkennen, was mit dem übrigen Geschwader geschah. Als die Rauchwolken kurz aufrissen und Villeneuve die nächsten Schiffe seines Geschwaders aumachen konnte – es waren zwölf, die unbeweglich im Wasser lagen -, ließ er die Signale am letzten Mast hissen, der ihm geblieben war, und befahl zu wenden und anzugreifen.

Dann wurde es wieder finster, er konnte nichts mehr erkennen, und um drei Uhr nachmittags fiel der dritte und letzte Mast seines Schiffs auf Deck und verursachte noch mehr Chaos.

Daraufhin wollte Villeneuve ein Boot zur See lassen; die Boote an Deck waren zerstört, die Boote an den Seiten des Schiffs waren durchlöchert, und die Boote, die das Wasser berührten, sanken bereits.

Das ganze Gefecht hindurch hatte Villeneuve keine Gefahr gescheut, sondern sich geradezu tollkühn Kanonenkugel, Säbelhieb oder Gewehrkugel ausgesetzt.

Das Schicksal sollte ihm den Selbstmord vorbehalten.

Das spanische Admiralsschiff, die Santissima Trinidad, musste sich, von seinen Begleitschiffen im Stich gelassen, nach vier Stunden des Kampfes ergeben, und der Rest des spanischen Geschwaders ließ sich von der Brise nach Cadiz treiben.

Unterdessen wurden auf der Victory jedes Mal Freudenrufe laut, wenn ein französisches Schiff sich ergab, und bei jedem Hurra fragte Nelson, der seine Verwundung vergaß: »Was ist passiert?«

Man sagte ihm den Grund der Freudenrufe, und der Verwundete zeigte sich sehr erfreut. Er litt unter brennendem Durst, verlangte oft zu trinken und bat darum, dass man ihm mit einem Papierfächer Luft zufächelte.

Da er Kapitän Hardy herzlich zugetan war, äußerte er wiederholt seine Besorgnis um das Leben dieses Offiziers; der Schiffskaplan und der Wundarzt versuchten seine Sorge zu zerstreuen. Sie ließen Kapitän Hardy Botschaft um Botschaft zukommen, um ihm mitzuteilen, dass Admiral Nelson ihn zu sehen wünsche, und als er nicht kam, rief Nelson ungehalten: »Sie wollen Hardy nicht rufen – nun, ich weiß, dass er gefallen ist.«

Eine Stunde und zehn Minuten nachdem Nelson verwundet worden war, kam Hardy in das Zwischendeck herunter.

Als der Admiral ihn erblickte, stieß er einen Freudenruf aus, drückte ihm liebevoll die Hand und sagte: »Nun, Hardy, wie steht der Kampf? Wie sieht es für uns aus?«

»Gut, sehr gut, Mylord«, erwiderte der Kapitän. »Wir haben bereits zwölf Schiffe genommen.«

»Ich hoffe doch, dass keines unserer Schiffe die Flagge streichen musste?«

»Nein, Mylord, kein einziges.«

Nachdem er in dieser Hinsicht beruhigt war, erinnerte Nelson sich an seinen Zustand, stieß einen Seufzer aus und sagte: »Ich bin ein toter Mann, Hardy, und mein Ende naht schnell. Bald wird alles vorbei sein. Treten Sie näher, mein Freund«, und mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Ich bitte Sie um eines, Hardy: Schneiden Sie mir nach dem Tod meine Haare für Lady Hamilton ab, und übergeben Sie ihr alles, was mir gehört hat.«

»Ich sprach soeben mit dem Wundarzt«, sagte Hardy. »Er hat berechtigte Hoffnung, Sie am Leben zu erhalten.«

»Nein, Hardy, so ist es nicht«, erwiderte Nelson. »Versuchen Sie nicht, mich zu täuschen. Mein Rückgrat ist gebrochen.«

Die Pflicht rief Hardy an Deck zurück, und er ging, nachdem er dem Verwundeten die Hand gedrückt hatte.

Nelson verlangte nach dem Wundarzt. Dieser war damit beschäftigt, Leutnant William Ruvers zu versorgen, dem ein Bein abgeschossen worden war. Dennoch eilte er zu seinem Admiral, nachdem er seine Helfer gebeten hatte, den Verband anzulegen.

»Ich wollte nur hören, wie es um meine alten Gefährten steht«, sagte Nelson. »Was mich betrifft, Doktor, benötige ich Ihre Dienste nicht mehr. Gehen Sie nur, ich sagte ja, dass ich im unteren Teil meines Körpers nichts mehr spüre, und dieser Teil ist schon jetzt eiskalt.«

Daraufhin sagte der Wundarzt zu Nelson: »Mylord, lassen Sie mich Ihre Gliedmaßen befühlen.«

Und er berührte die unteren Gliedmaßen, die empfindungslos und wie tot waren.

»Oh«, fuhr Nelson fort, »ich weiß sehr wohl, was ich sage: Scott und Burke haben mich schon so berührt, wie Sie es tun, und ich habe ihre Berührung so wenig gespürt, wie ich die Ihre spüre. Ich sterbe, Beatty, ich sterbe.«

»Mylord«, erwiderte der Arzt, »zu meinem größten Bedauern kann ich nichts mehr für Sie tun.«

Und nachdem er dies eingestanden hatte, wandte er den Kopf ab, um seine Tränen zu verbergen.

»Ich wusste es«, sagte Nelson. »Ich spüre, wie etwas sich in meiner Brust hebt.« Und bei diesen Worten legte er die Hand auf die Stelle, die er meinte.

»Gott sei gedankt«, flüsterte er, »ich habe meine Pflicht getan.«

Der Arzt konnte dem Admiral keine Erleichterung mehr verschaffen und kümmerte sich um andere Verwundete; doch Kapitän Hardy kam wieder, nachdem er Leutnant Hill mit der schrecklichen Nachricht zu Collingwood geschickt hatte, bevor er zum zweiten Mal das Deck verließ.

Hardy beglückwünschte Nelson zu dem unzweifelhaften und entscheidenden Sieg, den er im Angesicht des Todes davongetragen hatte. Er sagte ihm, soweit er es beurteilen könne, befänden sich mittlerweile fünfzehn französische Schiffe in englischer Gewalt.

»Ich hätte darauf gewettet, dass es zwanzig wären«, murmelte Nelson, doch dann entsann er sich der Windverhältnisse und der Vorboten des Sturms, die er auf dem Meer beobachtet hatte, und er rief: »Lassen Sie Anker werfen, Hardy! Lassen Sie ankern!«

»Ich nehme an«, sagte der Flaggkapitan, »dass Admiral Collingwood das Kommando über die Flotte übernehmen wird.«

»Nicht solange ich lebe«, sagte der Sterbende und stützte sich auf den Ellbogen. »Hardy, ich befehle Ihnen, Anker zu werfen, ich verlange es.«

»Ich werde es befehlen, Mylord.«

»Tun Sie es, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, so schnell wie möglich«, und dann flüsterte er, als schämte er sich dieser Schwäche: »Hardy, Sie werden meinen Leichnam nicht ins Meer werfen lassen, nicht wahr?«

»O nein, gewiss nicht, das dürfen Sie mir glauben, Mylord«, erwiderte Hardy schluchzend.

»Kümmern Sie sich um die arme Lady Hamilton«, sagte Nelson mit schwacher Stimme, »meine geliebte Lady Hamilton. Küssen Sie mich, Hardy!«

Der Kapitän küsste ihn weinend auf die Wange.

»Ich sterbe zufrieden«, sagte Nelson, »England ist gerettet.«

Kapitän Hardy verharrte einen Augenblick lang neben dem berühmten Verwundeten in schweigender Kontemplation; dann kniete er nieder und küsste ihn auf die Stirn.

»Wer küsst mich da?«, fragte Nelson, dessen Blick bereits vom Schatten des Todes umflort war.

Der Kapitän antwortete: »Ich bin es, Hardy!«

»Gott behüte Sie, mein Freund!«, sagte der Sterbende.

Hardy ging an Deck zurück.

Nelson sah den Schiffskaplan an seiner Seite und sagte zu ihm: »Ach, Doktor, ich war nie ein verstockter Sünder«, und nach einer Pause sprach er weiter: »Doktor, ich bitte Sie inständig, erinnern Sie sich, dass ich meinem Vaterland und meinem König die Sorge für Lady Hamilton und meine Tochter Horatia als Vermächtnis hinterlasse. Vergessen Sie Horatia nie.«

Sein Durst wurde immer stärker. Er rief: »Trinken... trinken... Fächer... fächern Sie mir... reiben Sie mich.«

Die letzten Worte richtete er an den Schiffskaplan Mr. Scott, der ihm etwas Erleichterung verschafft hatte, indem er ihm mit der Hand die Brust rieb, doch seine Stimme versagte immer wieder, als seine Schmerzen stärker wurden, und zuletzt musste er alle Kraft zusammennehmen, um ein letztes Mal zu sagen: »Dem Herrn sei Dank, ich habe meine Pflicht getan.«

Nelson hatte seine letzten Worte gesprochen.

Der Wundarzt kam zurück, denn Nelsons Butler hatte ihn aufgesucht und ihm gesagt, dass sein Herr im Begriff stehe, den Geist auszuhauchen. Mister Beatty ergriff die Hand des Sterbenden: sie war kalt; er fühlte seinen Puls: er war nicht zu spüren; zuletzt berührte er seine Stirn, und Nelson öffnete sein gesundes Auge und schloss es wieder.

Nelson hatte den letzten Atemzug getan; es war vier Uhr und zwanzig Minuten nachmittags; er hatte seine Verwundung drei Stunden und zweiunddreißig Minuten überlebt.

Es mag verwundern, mit welcher Genauigkeit ich den Tod Nelsons dokumentiere, doch es erschien mir nur recht und billig, einen der größten Feldherrn der Geschichte, wenn nicht als Historiker, so doch wenigstens als Romancier bis zum Grab zu begleiten. Die Einzelheiten habe ich in keinem Buch gefunden. Ich habe mir das Protokoll seines Todes verschafft, das der Wundarzt der Victory, Mister Beatty, und der Schiffskaplan Scott unterzeichnet haben.


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