38 Chateaubriand

Frankreich hat sich gewaltig verändert, seit der Reisende es verlassen hatte; es gibt viele neue Dinge und vor allem viele neue Männer.

Diese neuen Männer heißen Barnave, Danton, Robespierre. Und es gibt Marat, gewiss, doch er ist kein Mann, kein Mensch, sondern ein wildes Tier. Mirabeau wiederum ist tot.

Unser Reisender lässt es sich nicht verdrießen und unterhält sich mit allen; er sucht all diese Männer auf, die unerschiedlichen Parteien verschrieben, aber ein und demselben Schafott geweiht sind.

Er besucht die Jakobiner, den Club der Aristokraten, der Literaten, der Künstler: Die ehrbaren Leute bilden die Mehrheit, und es gibt sogar vornehme Herren: La Fayette und die beiden Lameth sind Mitglieder des Clubs, Laharpe, Chamfort, Andrieux, Desaine und Chénier vertreten darin die Dichtung, wenn auch die Dichtung ihrer Zeit. Doch letzten Endes kann man von einer Zeit nicht mehr verlangen, als sie geben kann. David, der in der Malerei eine Revolution bewirkt hat, Talma, der auf der Bühne eine Revolution bewirkt hat, lassen fast keine Sitzung aus. An der Tür kontrollieren zwei Wächter die Karten: Der eine ist der Sänger Laïs, der andere ist der natürliche Sohn des Herzogs von Orléans.

Der Mann am Schreibtisch, der Mann in Schwarz, mit seinen eleganten Manieren und seinem düsteren Lächeln, ist der Verfasser der Gefährlichen Liebschaften, der Chevalier de Laclos.

Warum ist Crébillon der Jüngere nicht mehr am Leben? Er wäre dort Vorsitzender oder wenigstens zweiter Vorsitzender.

Ein Mann spricht an der Tribüne, mit schwacher, ein wenig kreischender Stimme, mit magerem, tristem Gesicht, einem etwas langweiligen, ein wenig abgenutzten olivfarbenen Rock, aber mit gepudertem Haar, mit weißer Weste und tadelloser Leibwäsche.

Es ist Robespierre, der Ausdruck der Gesellschaft, der sich mit ihr im Gleichklang bewegt und der an dem Tag, an dem er so unklug sein wird, ihr voranzugehen, in Dantons Blut ausrutschen wird.

Chateaubriand besucht die Cordeliers.

Sonderbares Schicksal dieser Kirche, die ein Club geworden ist!

Der heilige Ludwig, selbst ein Franziskaner, gründete sie nach einem revolutionären Staatsstreich. Ein hoher Baron, der Herr von Courcy, beging ein Verbrechen; der Gerichtsherr von Vincennes erlegte ihm eine Geldbuße auf, und mit diesem Geld wurden Schule und Kirche der Franziskaner errichtet.

An diesem Ort erklang im Jahr 1300 der Streit um das ewige Evangelium. Es wurde die Frage gestellt, die vierhundert Jahre später der Atheismus lösen sollte: »Weilt Jesus Christus nicht mehr unter uns?«

König Johann wird in Poitiers gefangen genommen. Der Adel, dezimiert und geschlagen, wird mit ihm gefangen genommen. Ein Mann bemächtigt sich im Namen des Volkes der königlichen Macht und errichtet im Kloster der Cordeliers oder Franziskaner sein Hauptquartier. Dieser Mann ist Étienne Marcel, der Vorsteher von Paris. »Wenn die Herren sich befehden, werden die braven Leute auf sie losgehen.«

Im Übrigen sind die Franziskanermönche selbst die würdigen Vorläufer jener, die später ihre Kirche einnehmen werden; als Sansculotten des Mittelalters sagten sie lange vor Babeuf: »Besitz ist ein Vergehen« und lange vor Proudhon: »Besitz ist Diebstahl.« Sie waren ihren Worten treu, denn sie ließen sich lieber verbrennen, als ihre Bettlerkleidung abzulegen.


Wenn die Jakobiner die Aristokratie sind, dann sind die Cordeliers das Volk – das umtriebige, tatkräftige, heftige Volk von Paris, das Volk, das aus seinen liebsten Schriftstellern sprach, aus Marat mit seiner Druckerei im Keller der Kapelle, aus Desmoulins, Fréron, Fabre d’Églantine, Anacharsis Cloots, aus den Rednern Danton und Legendre, den zwei Schlächtern, deren einer die Straßen von Paris zu Schlachthöfen machte.

Die Cordeliers sind der Bienenstock; die Bienen wohnen ringsum: Marat fast gegenüber, Desmoulins und Fréron in der Rue de la Vieille Comédie, Danton fünfzig Schritte entfernt, Passage du Commerce, Cloots in der Rue Jacob, Legendre in der Rue des Boucheries-Saint-Germain.

Chateaubriand sah und hörte sie alle: den schnarrenden Desmoulins, den stotternden Marat, den donnernden Danton, den fluchenden Legendre, den gotteslästerlichen Cloots, und sie machten ihm Angst.

Er beschloß, sich im Ausland den Vornehmen anzuschließen, die sich unter den Fahnen der Prinzen gesammelt hatten; zu seinem Unglück stand diesem Vorhaben im Weg, dass er kein Geld hatte.

Madame de Chateaubriand hatte als Mitgift nur Assignaten in die Ehe mitgebracht, und Assignaten besaßen mittlerweile weniger Wert als unbedrucktes Papier, das man wenigstens benutzen konnte, um eine Rechnung oder einen Wechsel auszustellen.

Schließlich fand sich ein Notar, der noch über etwas Geld verfügte und zwölftausend Francs herlieh. Monsieur de Chateaubriand steckte das Geld in eine Brieftasche und die Brieftasche in seine Tasche. Diese zwölftausend Francs waren seine Zukunft und die seines Bruders.

Aber der Mensch denkt, und Satan lenkt. Der künftige Emigrant begegnet einem Freund, erzählt ihm, dass er zwölftausend Francs mit sich führt. Der Freund ist Spieler, die Spielsucht ist ansteckend: Monsieur de Chateaubriand betritt eine Spelunke im Palais-Royal und verspielt zehntausendfünfhundert Francs des ihm anvertrauten Geldes.

Zum Glück gibt ihm das, was ihm den Verstand hätte rauben können, die Vernunft zurück. Der künftige Verfasser des Geistes des Christentums war kein Spieler von Natur aus. Die fünfzehnhundert Francs, die ihm geblieben sind, verwahrt er in seiner Brieftasche, er entflieht dem übel beleumdeten Ort, steigt in eine Droschke, kommt zu Hause an, sucht nach seiner Brieftasche, doch vergebens. Die Brieftasche liegt in der Droschke, Monsieur de Chateaubriand steigt zu eilig aus, die Droschke fährt weiter. Er läuft hinterher. Kinder haben die Droschke mit neuen Fahrgästen vorbeifahren sehen. Ein Dienstmann kennt den Kutscher, weiß, wo er wohnt, und nennt die Adresse.

Monsieur de Chateaubriand wartet vor der Wohnungstür auf den Kutscher, der um zwei Uhr morgens nach Hause kommt. Nach Monsieur de Chateaubriand hat er drei Sansculotten und einen Priester gefahren. Wo die Sansculotten wohnen, weiß er nicht, aber die Adresse des Priesters kennt er.

Es ist drei Uhr morgens, eine Zeit, zu der man einen ehrbaren Bürger nicht aus dem Schlaf reißen kann. Monsieur de Chateaubriand geht nach Hause, zu Tode erschöpft, und schläft.

Später am Tag weckt ihn der Priester, der ihm seine Brieftasche mit den fünfzehnhundert Francs bringt.

Am Tag darauf brechen Monsieur de Chateaubriand und sein älterer Bruder in Begleitung eines Dieners nach Brüssel auf; der Diener ist gekleidet wie sie und wird als Freund ausgegeben.

Der unglückselige Diener hatte drei Fehler: Er war zu ehrerbietig, andererseits zu vertraulich, und drittens träumte er laut. Seine Träume aber waren von kompromittierendster Art. Er wähnte ständig, man wolle ihn verhaften, und stand stets im Begriff, aus der Eilpost zu springen. In der ersten Nacht gelang es den Brüdern mit Mühe und Not, ihn zurückzuhalten; in der zweiten Nacht rissen sie die Tür der Kutsche weit auf, der arme Teufel sprang hinaus und rannte ohne Hut querfeldein davon, immer noch in seinem Traum befangen.

Die beiden Reisenden glaubten sich von ihm befreit, doch ein Jahr später kostete seine Aussage den älteren Bruder Monsieur de Chateaubriands den Kopf.

Die Brüder erreichten Brüssel, damals Treffpunkt der Royalisten. Von Brüssel nach Paris waren es vier bis fünf Tage Fußmarsch, für Pessimisten acht Tage. Die anwesenden Royalisten waren sehr erstaunt, dass die zwei Brüder kamen, statt zu warten. Man rechnete fest darauf, Paris einzunehmen, wozu also die Stadt verlassen? Und für den Neuankömmling gab es keinen Platz, auch nicht in dem Regiment von Navarra, in dem er vormals als Leutnant gedient hatte.

Bretonische Einheiten, vergleichbar den alten fränkischen Einheiten, wollten Thionville belagern. Sie waren weniger stolz als die Herren des Regiments von Navarra, begrüßten ihren Landsmann und nahmen ihn in ihre Reihen auf.

Wie man sieht, war Monsieur de Chateaubriand nicht dazu ausersehen, seinen Weg auf dem Feld der Ehre zu machen. Zum Kavalleriehauptmann befördert, so dass er in die Karossen des Hofes steigen konnte, nach dieser Beförderung wieder zum Unterleutnant geworden, marschierte er nun als einfacher Gefreiter der Belagerung von Thionville entgegen.

Als Monsieur de Chateaubriand Brüssel verließ, begegnete er Monsieur de Montrond, und beide erkannten im anderen den Geistesverwandten. »Woher kommen Sie, Monsieur?«, fragte der Städter den Soldaten. »Vom Niagara, Monsieur.« – »Und Sie gehen nun...?« – »Dorthin, wo man kämpft.« Die beiden verabschiedeten sich voneinander, und jeder ging seiner Wege.

Zehn Meilen weiter begegnet Monsieur de Chateaubriand einem Reiter. »Wohin des Weges?«, fragt ihn der Reiter. »Ich ziehe in den Kampf«, erwidert der Fußgänger. »Wie heißen Sie?« – »Monsieur de Chateaubriand, und Sie?« – »Friedrich Wilhelm.« Der Mann zu Pferde war der König von Preußen. Bevor er weiterritt, sagte er: »Monsieur, die Gesinnung des französischen Adels ist unverkennbar.«

Monsieur de Chateaubriand war aufgebrochen, um Thionville einzunehmen, wie er aufgebrochen war, um die Nordwestpassage zu finden; er hatte die Passage nicht gefunden, und er nahm Thionville nicht ein. Allerdings hatte er sich bei dem ersten Unternehmen den Arm gebrochen, während er beim zweiten durch einen brennenden Balken am Bein verletzt wurde.

Zur gleichen Zeit, zu der Monsieur de Chateaubriand diese Verletzung erlitt, wurde ein junger Bataillonskommandeur namens Napoleon Bonaparte bei der Belagerung Toulons durch einen Bajonettstich in den Oberschenkel verwundet.

Eine Kugel hatte es auf das Leben des royalistischen Freiwilligen abgesehen, doch sie stieß zwischen Bekleidung und Brust auf das Manuskript von Atala, das sie auffing. Als wäre es mit der Verletzung nicht genug, bekam Monsieur de Chateaubriand obendrein die Blattern, und zu diesen beiden Geißeln gesellte sich eine dritte, noch schlimmere: die Niederlage.

In Namur schlich der junge Emigrant durch die Straßen, von Fieberschauern geschüttelt, und eine arme Frau warf ihm eine zerlumpte Decke über die Schultern, die alles war, was sie besaß. Der heilige Martin wurde heiliggesprochen und gab dem Bettler doch nur seinen halben Mantel. Als der Kranke die Stadt verließ, stürzte er in einen Graben.

Die Einheit des Fürsten von Ligne kam vorbei; der Sterbende streckte einen Arm aus. Man sah, dass er noch nicht tot war, hatte Mitleid mit ihm, nahm ihn auf einem Packwagen mit und setzte ihn am Eingang von Brüssel ab. Die Belgier, die sich so gut darauf verstehen, die Vergangenheit zu nutzen, aber vom Himmel noch nicht mit der Fähigkeit begnadet wurden, in der Zukunft zu lesen, die Belgier, die nicht ahnen konnten, dass eines Tages das unerlaubte Nachdrucken der Werke, die dieser junge Mann veröffentlichte, drei, vier dieser Nachdrucker reich machen würde, die Belgier verschlossen dem armen Verwundeten ihre Türen.

Zu Tode ermattet legte er sich vor einer Herberge nieder und wartete. Die Einheit des Fürsten von Ligne war ihm begegnet: Vielleicht würde die Vorsehung ihn auch diesmal nicht im Stich lassen.

Man tut gut daran zu hoffen, selbst im Angesicht des Todes. Die Vorsehung ließ den Sterbenden nicht im Stich, sondern sandte ihm seinen Bruder.

Die beiden erkannten einander auf der Stelle und streckten einander die Arme entgegen. Monsieur de Chateaubriand der Ältere war reich, er trug zwölfhundert Francs bei sich und gab seinem Bruder die Hälfte. Er wollte ihn mitnehmen, doch zum Glück war unser Dichter zu krank, um ihn zu begleiten, und bat stattdessen einen Barbier um Unterkunft. Dort genas er, während sein Bruder nach Frankreich zurückkehrte, wo ihn das Schafott erwartete.

Nach langer Konvaleszenz genesen, brach Monsieur de Chateaubriand nach Jersey auf, von wo aus er nach Großbritannien zu gelangen hoffte. Er war der Emigration überdrüssig und wollte sich den Freischärlern der Vendée anschließen.

Ein kleines Schiff wurde gefunden, und zwanzig Passagiere teilten sich die Reisekosten. Unterwegs kam ein heftiger Sturm auf, die Reisenden mussten sich auf das Zwischendeck begeben, wo zum Ersticken wenig Luft war. Der Frischgenesene konnte sich nicht zur Wehr setzen, als andere Passagiere ihn fast erdrückten. Als man an der Insel Guernesey anhielt, fand man ihn ohnmächtig vor, kaum noch lebendig. Er wurde vom Schiff gebracht und an eine Mauer gesetzt, das Gesicht der Sonne zugekehrt, damit er friedlich seinen letzten Atemzug tun konnte. Die Frau eines Seemanns kam vorbei und holte ihren Mann zu Hilfe. Dieser und einige Matrosen trugen den Sterbenden in ein Haus und legten ihn in ein gutes Bett. Am nächsten Morgen brachte man ihn auf die Slup, die nach Ostende fuhr.

Als er Jersey erreichte, war er im Fieberwahn. Erst im Frühjahr 1793 fühlte der Kranke sich kräftig genug, seine Reise fortzusetzen. Er brach nach England auf in der Hoffnung, sich irgendeiner weißen Fahne anzuschließen. Doch stattdessen machte sich ein Brustleiden bemerkbar, und die Ärzte verschrieben ihm größte Schonung; sie erklärten, dass er, falls er größte Umsicht walten ließ, noch zwei bis drei Jahre zu leben hätte. Die gleiche Voraussage war ehedem Voltaire zuteilgeworden, und es ist nur recht und billig, dass Gott die Ärzte abermals zu Lügnern machte und uns das Leben des Verfassers des Geistes des Christentums erhielt.

Die Ärzte hatten Monsieur de Chateaubriand verboten, zum Gewehr zu greifen; stattdessen griff er zur Feder. Er schrieb seine Essais und verfasste den Entwurf für seinen Geist des Christentums. Und da diese zwei großen und einander so entgegengesetzten Werke ihren Autor nicht vor dem Hungertod gerettet hätten, fertigte er in seiner Freizeit Übersetzungen an, die mit einem Livre pro Seite bezahlt wurden.

Unter solchen Kämpfen verbrachte er die Jahre 1794 und 1795.

Ein anderer Mann kämpfte zu dieser Zeit gegen den Hunger: der junge Bataillonskommandeur, der Toulon eingenommen hatte. Der Vorsitzende des Kriegskomitees, Aubry, hatte ihn des Kommandos über die Artillerie enthoben; er war nach Paris gekommen, wo man ihm das Kommando über eine Brigade in der Vendée angeboten hatte, das er abgelehnt hatte; und während Chateaubriand Übersetzungen anfertigte, machte er sich Notizen über die Möglichkeiten, die Türkei gegen die europäischen Mächte zu unterstützen.

Gegen Anfang September hatte dieser Bataillonskommandant in seiner äußersten Verzweiflung beschlossen, in die Seine zu springen. Er war auf dem Weg zum Fluss, als er kurz vor der Brücke einem Freund begegnete. »Wohin gehst du?«, fragte ihn dieser. »Ich gehe ins Wasser.« – »Warum?« – »Weil ich nicht von der Luft leben kann.« – »Ich habe zwanzigtausend Francs, die kann ich mit dir teilen.« Und der Freund gibt dem jungen Offizier, der nicht ins Wasser geht, zehntausend Francs. Der Offizier begibt sich am 4. Oktober in das Théâtre-Feydeau, wo er erfährt, dass die Nationalgarde der Sektion Lepelletier die Truppen des Konvents unter dem Befehl von General Menou zum Rückzug gezwungen hat und dass ein General gesucht wird, der diese Blamage wettmacht.

Am nächsten Morgen erhielt General Alexandre Dumas um fünf Uhr morgens vom Konvent die Ordre, die Truppen zu befehligen. General Alexandre Dumas befand sich nicht in Paris, und Barras wurde an seiner Stelle zum General ernannt und ersuchte um die Erlaubnis, die er erhielt, den ehemaligen Bataillonskommandanten Bonaparte zu seinem Adjutanten zu machen.

Der 5. Oktober ist der 13. Vendémiaire.

Napoleon befreite sich durch einen Sieg aus der Anonymität, Chateaubriand würde sich durch ein Meisterwerk aus ihr befreien.

Die Geschehnisse des 13. Vendémiaire richteten zweifellos den Blick des Schriftstellers auf den General, und das Erscheinen von Der Geist des Christentums richtete seinerseits den Blick des Generals auf den Dichter.


Bonaparte hatte zuerst Vorbehalte gegen Monsieur de Chateaubriand. Eines Tages wunderte Bourrienne sich in seiner Gegenwart laut darüber, dass ein Mann seines Namens und seiner Verdienste auf keine der Listen gelangte, die Bonaparte sich vorlegen ließ, wenn er Stellungen zu vergeben hatte.

»Bourrienne, Sie sind nicht der Erste, der mir damit kommt«, erwiderte Bonaparte, »aber ich habe Ihren Vorgängern eine Antwort gegeben, die ihnen das Maul gestopft hat. Dieser Mann hat Vorstellungen von Freiheit und Unabhängigkeit, die sich nie und nimmer in mein System einfügen lassen würden. Lieber habe ich in ihm einen offenen Gegner als einen erzwungenen Freund. Außerdem werden wir später sehen. Ich werde ihn zuerst auf einem bescheidenen Posten erproben, und wenn er sich gut aufführt, werde ich ihn befördern.«

Diese Worte lassen keinen Zweifel daran, dass Bonaparte nichts von der wahren Bedeutung Chateaubriands ahnte. Doch bald darauf versah das Erscheinen von Atala den Namen Chateaubriand mit großem Glanz, was der Erste Konsul besorgt verfolgte, denn alles, was die Aufmerksamkeit von ihm ablenkte, weckte seine Eifersucht.

Auf Atala folgte Der Geist des Christentums. Bonaparte fand sich in seinen restaurativen Bestrebungen unversehens unterstützt durch ein Buch, das allerorten auf Begeisterung stieß, ein Buch, dessen unstreitiger Wert die Geister dazu anregte, sich wieder mit religiösen Gedanken zu beschäftigen.

Eines Tages besuchte Madame Baciocchi ihren Bruder und reichte ihm ein schmales Bändchen. »Lesen Sie das, Napoleon«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, dass es Ihren Beifall finden wird.« Bonaparte nahm das Buch in die Hand und warf zerstreut einen Blick darauf. Es war Atala. »Schon wieder ein Roman mit A«, sagte er. »Als hätte ich nichts anderes zu tun, als Ihre ganzen Eseleien zu lesen!«

Dennoch nahm er das Buch und legte es auf seinen Schreibtisch.

Als Nächstes bat ihn Madame Baciocchi, den Namen Monsieur de Chateaubriands von der Liste der Emigranten zu streichen. »Aha«, sagte er, »hat Monsieur de Chateaubriand Ihr Atala geschrieben?« – »Ja, Bruder. »- »Sehr gut, ich werde es lesen, wenn ich Zeit dazu finde«, und dann, an seinen Sekretär gewandt: »Bourrienne, schreiben Sie Fouché, er soll den Namen Monsieur de Chateaubriands von der Liste der Emigranten streichen.«


Ich sagte bereits, dass Bonaparte nicht allzu gebildet war und sich nicht sonderlich für die Literatur interessierte; dass er den Namen des Verfassers von Atala nicht kannte, bestätigt dies nur.

Der Erste Konsul las Atala, und das Buch fand sein Gefallen; als einige Zeit darauf Monsieur de Chateaubriand den Geist des Christentums veröffentlichte, war der erste unvorteilhafte Eindruck, den Bonaparte von ihm gehabt hatte, ganz und gar getilgt.

Am Abend der Unterzeichnung des Ehevertrags zwischen Mademoiselle de Sourdis und Hector de Sainte-Hermine waren Bonaparte und Monsieur de Chateaubriand einander zum ersten Mal begegnet. Bonaparte hatte im Verlauf des Abends das Wort an den Dichter zu richten beabsichtigt, doch der Abend fand ein so brüskes und absonderliches Ende, dass Bonaparte in den Tuilerienpalast zurückkehrte, ohne einen weiteren Gedanken an Chateaubriand verschwendet zu haben.

Die zweite Gelegenheit für ein Gespräch war der prunkvolle Empfang, den Monsieur de Talleyrand für die Infanten von Parma ausrichtete, die auf der Durchreise waren, um den Thron von Etrurien zu besteigen.


Lassen wir Monsieur de Chateaubriand selbst berichten, wie er den ersten elektrisierenden Kontakt mit dem Ersten Konsul empfunden hat:

»Ich stand in der Galerie, als Napoleon eintrat. Ich war angenehm überrascht, hatte ich ihn doch bisher immer nur von Weitem gesehen: Sein Lächeln war gewinnend und schön; sein Auge herrlich. Noch war sein Ausdruck frei von aller Scharlatanerie, noch lag nichts Theatralisches und Affektiertes in seinem Blick. Mein Geist des Christentums, das damals viel Aufsehen erregte, hatte auch Napoleon beeindruckt. Eine wunderbare Einbildungskraft belebte den so kalten Politiker. Er wäre ohne den Beistand der Muse nicht geworden, was er wurde; der Verstand führte die Ideen des Poeten aus. Alle großen Männer sind stets aus zwei Naturen gebildet, denn sie müssen sowohl Eingebung als auch Befähigung zum Handeln besitzen: Die Erstere entwickelt den Plan, die Zweite führt ihn durch.

Bonaparte wurde meiner ansichtig und erkannte mich; woran, weiß ich nicht. Als er sich auf mich zubewegte, wusste man nicht, wen er suchte; die Reihen öffneten sich nacheinander, und jeder hoffte, der Konsul würde vor ihm stehen bleiben. Es schien, als sei er etwas ungeduldig über dieses Missverständnis; ich versteckte mich hinter meinen Nachbarn; plötzlich erhob Bonaparte die Stimme und sagte zu mir: ›Monsieur de Chateaubriand. ‹ Ich stand allein vor ihm, denn die Menge trat ein wenig zurück und stellte sich alsbald im Kreis um die beiden Gesprächspartner. Bonaparte begrüßte mich ganz schlicht; ohne mir Komplimente zu machen, ohne müßige Fragen zu stellen, sprach er ganz unvermittelt über Ägypten und über die Araber, als hätte ich zu seinen Vertrauten gehört und als führte er eine bereits begonnene Unterhaltung weiter. ›Ich war immer betroffen‹, sagte er zu mir, ›wenn die Scheiks mitten in der Wüste auf die Knie fielen, sich nach Osten wendeten und mit ihrer Stirn den Sand berührten. Welches unbekannte Wesen beten sie so gen Osten gewendet an?‹

Bonaparte unterbrach sich und nahm ohne jeden Übergang einen anderen Gedanken auf: ›Das Christentum? Haben die Ideologen nicht ein astronomisches System aus ihm machen wollen? Meinen sie, wenn es wirklich so wäre, mich überzeugen zu können, das Christentum sei nichtig? Wenn das Christentum die Allegorie der Bewegung der Welträume ist oder die Geometrie der Sterne, dann können die freien Geister sich anstrengen, wie sie wollen, wider Willen haben sie dem Infamen noch genug Größe gelassen.‹

Und alsbald ging Bonaparte weiter. Da blieb ich wie Hiob in meiner Nacht – ›Und ein Hauch fuhr an mir vorüber; es standen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe. Da stand ein Gebilde vor meinen Augen, doch ich erkannte seine Gestalt nicht.‹

Meine Erdentage sind nur eine Folge von Visionen gewesen, unablässig haben sich Hölle und Himmel unter meinen Schritten oder über meinem Haupte geöffnet, ohne dass ich Zeit gehabt hätte, deren Finsternis und deren Helligkeit auszuloten. Ein einziges Mal bin ich am Ufer der beiden Welten dem Mann des vorigen und dem Mann des neuen Jahrhunderts begegnet: Alle beide schickten mich wieder in meine Einsamkeit zurück, der Erste mit einem wohlwollenden Wunsch, der Zweite mit einem Verbrechen.

Ich bemerkte, dass Bonaparte, während er sich in der Menge bewegte, mir tiefere Blicke zuwarf als jene, die er auf mich geheftet hielt, während er mit mir gesprochen hatte. Ich verfolgte ihn mit den Augen und dachte mir wie Dante: Chi è quel grande, che non par que curi L’incendio? Wer ist der Riese, der so unbekümmert daliegt, als könnte ihm kein Feuerregen etwas anhaben?«


Diese tiefen Blicke, die Bonaparte Chateaubriand zuwarf, hatten nichts Außergewöhnliches; in diesem Moment standen sich einfach zwei Männer gegenüber, die höchsten Ruhm erlangt hatten: Chateaubriand als Dichter, Bonaparte als Staatsmann.

Man war über so viele Ruinen gegangen, dass es einen danach verlangte, auf einem Denkmal auszuruhen, doch unter all den zerstörten Dingen war die Religion am gründlichsten vernichtet, zertreten, zu Staub zermalmt worden. Man hatte die Glocken eingeschmolzen, die Altäre umgestürzt, die Heiligenstatuen zerschmettert, die Priester erwürgt, man hatte sich falsche Götter ersonnen, unbeständige, vergängliche Götter, die vorbeigezogen waren wie ein Wirbelsturm der Ketzerei, der das Gras unter den Füßen verdorren lässt und die Städte verwüstet. Man hatte die Kirche Saint-Sulpice zum Tempel des Sieges und Notre-Dame zum Tempel der Vernunft erklärt. Es gab nur noch einen wahren Altar, das Schafott, und ein wahres Heiligtum, den Grève-Platz. Selbst große Geister schüttelten verleugnend den Kopf, und nur große Seelen gaben die Hoffnung nicht auf.

In dieser Atmosphäre kam Chateaubriands Geist des Christentums wie die erste Brise sauberer Luft nach einer Epidemie, wie ein Lebenszeichen nach dem Moderhauch des Todes.

War es nicht wahrhaft tröstlich, dass zur gleichen Zeit, als ein ganzes Volk vor den blutbeschmierten Gefängnistoren brüllte, auf der Place de la Révolution eine unermüdlich arbeitende Guillotine umtanzte und rief: »Es gibt keine Religion mehr, es gibt keinen Gott mehr!«, dass zu ebendieser Zeit ein Mann sich ganz dem Zauber einer Nacht in den amerikanischen Urwäldern überließ, auf dem Moos sitzend, den Rücken an einen einzeln stehenden Baumstamm gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf den Mond geheftet, dessen Schein auf ihn fiel, als verbände er ihn mit dem Himmel, und die Worte murmelte: »Es gibt einen Gott! Ihm huldigen die Lilien des Tals und die Zedern des Libanons; das Insekt summt seinen Lobgesang, der Elefant begrüßt ihn bei Tagesanbruch, die Vögel besingen ihn im Laub, der Wind murmelt seinen Namen im Wald, der Donner kündet dröhnend von seiner Gegenwart, der Ozean rauscht seine Unendlichkeit!

Der Mensch allein sagt: ›Es gibt keinen Gott!‹

Hat dieser Mensch denn niemals im Unglück den Blick zum Himmel erhoben? Hat sein Blick sich nie in die bestirnten Weiten verirrt, in denen die Welten wie Sandkörner gesät sind? Ich habe gesehen, und das genügt mir. Ich sah die Sonne an der Pforte des Sonnenuntergangs in purpurnen und goldenen Tüchern hängen und den Mond am entgegengesetzten Horizont wie eine silberne Lampe im azurblauen Osten aufsteigen.

Die zwei Gestirne mischten im Zenit ihr Bleiweiß und ihr Karmin; das Meer vervielfachte die östliche Szenerie in diamantenen Girlanden und wiegte den westlichen Prunk in Rosenwogen. Die ruhigen Wellen verliefen sich sanft vor meinen Füßen am Ufer, und die erste Stille der Nacht und das letzte Murmeln des Tages kämpften miteinander an den Hängen, den Flussufern und in den Tälern.

Du, den ich nicht kenne, Du, dessen Name mir so unbekannt ist wie Dein Aufenthalt, Unsichtbarer, Erschaffer unseres Universums, der Du mir den Instinkt verliehen hast, alles zu empfinden, und die Vernunft verweigert hast, alles zu verstehen, solltest Du nur ein Hirngespinst sein, der goldene Traum des Glücklosen? Wird meine Seele sich mit dem Rest meines Staubes auflösen? Ist das Grab ein Abgrund ohne Ausweg oder die Pforte zu einer anderen Welt? Hat die Natur nur aus grausamem Mitleid dem Menschenherzen die Hoffnung auf ein besseres Leben neben dem menschlichen Elend eingegeben?

Verzeihe mir meine Schwäche, Vater der Barmherzigkeit: Nein, ich zweifle nicht an Deiner Existenz, und ob Du mir eine Laufbahn der Unsterblichkeit vorherbestimmt hast oder ich nur vergehen und sterben werde, ich verehre Deine Beschlüsse schweigend, und Dein Insekt verkündet Deine Wahrheit!«

Es lässt sich denken, welche Wirkung eine solche Sprache nach den Verwünschungen eines Diderot, nach den theophilanthropischen Erörterungen eines La Revellière-Lépaux, nach den geifernden und bluttriefenden Tiraden eines Marat zeitigen musste.

So kam es, dass Bonaparte, über den Abgrund der Revolution gebeugt, von dem er den Blick noch nicht zu wenden wagte, den rettenden Engel festzuhalten suchte, der diese Nacht des Nichts mit einem ersten Lichtstrahl durchdrang. Und als er Kardinal Fesch nach Rom entsandte, ordnete er ihm den großen Dichter bei, den Adler anstelle der Taube, der wie diese beauftragt war, dem Heiligen Vater den Ölzweig zu überbringen!

Doch es genügte nicht, Chateaubriand zum Botschaftssekretär zu ernennen, er musste die Ernennung auch annehmen.


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