60 An Land

Im Hafen von Port Louis an Land zu gehen, ist ein Kinderspiel: Am Ende des Hafenbeckens von beträchtlicher Tiefe steigt man vom Schiff auf den Kai, als setzte man über einen Bach. Keine zehn Schritte weiter befindet man sich auf der Place du Gouvernement, dann geht man am Regierungspalast vorbei, lässt die Intendanz mit ihrem prachtvollen, unvergleichlichen Baum zur Rechten liegen, steigt die Rue du Gouvernement zum Champ de Mars hinauf, und kurz bevor man die Kirche erreicht, gelangt man gegenüber der heutigen Place du Théâtre zum Grand Hôtel des Étrangers.

Das Grüppchen, das sich vor dem Hotel einfand, bestand aus Surcouf mit Mademoiselle de Sainte-Hermine, René mit Jane am Arm sowie Bléas und einigen rangniedrigeren Offizieren. Die schönste Suite des Hotels wurde den jungen Damen gegeben, die als Erstes nach einer Näherin verlangten, um sich Trauerkleidung anfertigen zu lassen. Der Eindruck des Verlusts, den sie erlitten hatten, war noch lebhaft, doch die Begleitumstände des tragischen Geschehens, der Ausblick in die Unendlichkeit von Meer und Himmel und Renés zartfühlende Anteilnahme und interessante, fesselnde und abwechslungsreiche Konversation hatten als Balsam das Herzeleid der jungen Mädchen zwar nicht geheilt, aber gelindert.

Als René sie fragte, was sie zu tun beabsichtigten, erwiderten sie, sie wollten keinen Fuß aus dem Haus setzen, bevor sie ihre Trauerkleidung hätten; Trauerkleidung sei ihnen auf dem Schiff nicht vordringlich erschienen, doch in einer Stadt müssten sie sich schämen, in Kleidern umherzugehen, die ihren Kummer und ihre Trauer nicht anzeigten. Zugleich erklärten sie, dass ihr erster Ausgang der Pamplemousses-Gegend gelten solle.

Der Leser wird sich bei der Erwähnung dieses Namens denken können, dass sie den Hütten aus Paul und Virginie einen ehrfurchtsvollen Besuch abstatten wollten. Bernardin de Saint-Pierres Roman war mehr als zehn Jahre zuvor erschienen, doch in Hélène und Jane hatte die Lektüre dieser bezaubernden Idylle, die man nachgerade für eine modernisierte Fassung von Daphnis und Chloe halten könnte, einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen.

Paul und Virginie war eines der Werke, die eine Gesellschaft zweiteilen: Die einen werden zu seinen fanatischen Befürwortern, die anderen weisen es voller Abscheu von sich, und beide Parteien stehen nicht an, regelrechte Gefechte auszutragen.

Jeder weiß, dass der Verfasser, voller Zweifel an seinem Talent, im Begriff gewesen war, sein Buch gar nicht drucken zu lassen, nachdem er im Salon Madame Neckers daraus vorgelesen hatte und auf höfliches Desinteresse gestoßen war. Monsieur de Buffon hatte sich sichtlich gelangweilt, Monsieur de Necker hatte gegähnt, und Monsieur Thomas war eingeschlafen.

Das hatte Bernardin de Saint-Pierre dazu bewogen, seinen Roman nicht zu veröffentlichen. Es kam ihn schwer an, seine beiden Kinder im Stich zu lassen, doch er hatte sich zu diesem Entschluss durchgerungen und sich vorgenommen, das Manuskript zu verbrennen, dessen Vorhandensein ihn entsetzlich quälte, da es ihn an eine der finstersten Enttäuschungen seines Lebens erinnerte.

So stand es um Bernardin de Saint-Pierre, der noch immer zögerte, sein geliebtes Manuskript den Flammen zu überantworten, nachdem die erlesensten Geister seiner Zeit es verworfen hatten, als ihn eines Tages Joseph Vernet aufsuchte, der bekannte Maler, und ihn fragte, was ihn bedrücke, als er seine kummervolle Miene sah. Bernardin erzählte ihm alles und fand sich auf die drängenden Bitten seines Freundes bereit, ihm aus dem Manuskript vorzulesen.

Vernet lauschte mit unbeteiligter Miene bis zum Schluss. Bernardin hingegen wurde immer unsicherer und aufgeregter, bis seine Stimme merklich zitterte. Nach dem letzten Wort hob er den Blick. »Und?«, fragte er.

»Lieber Freund«, erwiderte Vernet und drückte ihn an sein Herz, »Sie haben da nichts weniger verfasst als ein Meisterwerk!«

Vernet urteilte weder als Kenner noch als geistreicher Mensch, sondern mit dem Herzen, und deshalb täuschte er sich nicht, sondern fällte das gleiche Urteil, das die Nachwelt fällte.

Seitdem haben zwei neue Romane, effektvoller geschrieben und gestaltet, den Erfolg von Paul und Virginie zu überschatten versucht, verfasst von einem ebenfalls höchst talentierten Mann, dessen Talent jedoch dem Bernardins völlig entgegengesetzt war: Ich meine Chateaubriands René und Atala. Diese Romane verschafften sich ihren Rang, doch Paul und Virginie behielt den seinen.

Und die Schauplätze, an denen sich diese schlichte Geschichte ereignet hatte, wollten Hélène und Jane de Sainte-Hermine unbedingt aufsuchen. Da die Näherin ihnen versprochen hatte, die Trauerkleidung am nächsten Tag genäht zu haben, kam man überein, die geheiligte Pilgerreise am Tag darauf zu machen.

René wollte zudem für seine jungen Freundinnen eine Lustpartie vorbereiten, die den elegantesten Ausflügen in die Wälder von Fontainebleau oder Marly in nichts nachstehen sollte.

Er ließ zwei Sänften aus Ebenholz und chinesischer Seide anfertigen. Für sich erstand er ein Pferd aus dem Kapland, für Bléas und Surcouf mietete er die besten Pferde, die zur Verfügung standen; und den Inhaber des Hotels beauftragte er, ihm zwanzig Schwarze zu besorgen, acht als Träger für die Sänften, zwölf als Träger der Vorräte. Speisen würde man am Ufer der Rivière des Lataniers, und schon am Vorabend ließ René einen Tisch, Tischwäsche und Stühle hinbringen.

Ein schönes Fischerboot mit allen Utensilien würde auf jene warten, die der Jagd den Fischfang vorzogen. Da René unschlüssig war, welchen Zeitvertreib er wählen solle, begnügte er sich damit, sein Gewehr mitzunehmen und sich darauf einzustellen, das zu tun, was seine zwei schönen Begleiterinnen tun wollten.

Der Tag des Ausflugs kam, prachtvoll, wie es die Tage dieses Breitengrades fast immer sind, und um sechs Uhr morgens versammelten sich alle im unteren Saal des Hôtel des Étrangers, bevor die Hitze unerträglich wurde.

Die Sänften und ihre Träger warteten auf der Straße; daneben schnaubten drei Pferde, vier Neger trugen auf dem Kopf Behältnisse aus Weißblech mit Lebensmitteln, und acht weitere Schwarze standen bereit, ihre Gefährten abzulösen. René ließ Surcouf und Bléas ihre Pferde aussuchen, und als mittelmäßige Reiter wie fast alle Seeleute entschieden sie sich für die Tiere, die ihnen am sanftmütigsten erschienen. Das Pferd aus dem Kapland blieb für René übrig. Bléas, kein übler Reiter, wollte sich René gewachsen zeigen, doch Renés Pferd, genannt »der Kaffer«, zeigte sich zwar ungnädig beim Besteigen, doch sobald René im Sattel saß, waren er und sein Reittier wie zu einer Einheit verschmolzen.

Auf der Île de France haben solche Ausflüge einen ganz eigenen Charme. Da die Wege zu jener Zeit sehr uneben waren, wurden die Frauen in der Sänfte befördert, und die Männer ritten; die Neger wiederum, die sich fast nackt bewegten, trugen an großen Feiertagen eine Art Badehose, die ihnen bis zum Knie reichte. Acht Mann trugen die Sänften, und sie marschierten los, einen großen Stock in der Hand, um das Gleichgewicht zu halten. Die vier Neger, die mit den Behältnissen betraut waren, in denen sich das Zubehör für die Mahlzeit befand, machten sich als Nächste auf den Weg, im Rhythmus zu einem kreolischen Lied eher trauriger als fröhlicher Natur.

Der Weg war bezaubernd: zur Rechten die sich allmählich verflachenden Bergketten im Nordosten der Insel, dann oberhalb des Pieter Both die Montagne du Pouce, deren Ersteigung noch niemand gewagt hatte, und danach ein kleines Tal, genannt Enfoncement des Prêtres, herrlich in der Hochebene gelegen, als hinge es in der Luft, ein begrüntes Amphitheater, an dem man sich nicht sattsehen konnte. Und unterwegs stieß man immer wieder auf Häuschen und Hütten farbiger Bewohner.

Dann überquerten die Reisenden den Lataniers-Fluss und erreichten Terre-Rouge, wo Bambushaine, Farbholzbäume und duftende Beerensträucher sie begrüßten. Immer wieder kreuzten ihren Weg Schwärme farbenprächtiger Papageien, Affen, die von Baum zu Baum turnten, und Hasen, die auf der Insel so zahlreich waren, dass die Inselbewohner sie mit Stöcken erschlugen und von Turteltauben und kleinen Wachteln, wie sie nur auf dieser Insel vorkommen, jagen ließen.

Zuletzt gelangte die Reisegruppe zu einem Stück einstmals kultivierten Landes, auf dem noch die Überreste zweier kleiner Hütten zu erkennen waren. Anstelle von Weizen, Mais und Süßkartoffeln bot sich dem Auge der Anblick eines ausgedehnten Blumenteppichs, hie und da unterbrochen von kleinen Erhebungen, die mit leuchtend bunten Blumen geschmückt waren und an Altäre erinnerten.

Im Norden sah man bis zu dem Berg namens Montagne de la Découverte, auf dem sich die Signalstation befand. Der Kirchturm überragte die dichten Bambushorste der weiten Ebene, und weiter hinten erstreckte sich ein Wald bis zum Inselufer. Richtete man den Blick geradeaus, sah man die Baie du Tombeau, ein wenig weiter rechts das Cap Malheureux und dahinter das offene Meer, auf dem einzelne bewohnte Inseln erkennbar waren, in deren Mitte Point-de-Mire wie eine Bastion aus den Wogen aufragte.

Das Grab, in dem Paul und Virginie ruhten, betreute ein alter Priester, der die Grabstätte in ein Paradies aus Blumen und Begrünung verwandelt hatte.

Es war das erste Anliegen der Besucher, den Grabstein dieser Ruhestätte aufzusuchen. Jeder verrichtete schweigend seine Andacht an diesem Grabmal, von dem die zwei jungen Mädchen sich nur schweren Herzens trennten. Die Männer, weniger poetisch gestimmt, sahen voller Vorfreude dem Wildreichtum der Insel und den Jagdfreuden entgegen, die er ihnen versprach. Einige der Träger dienten ihnen als Führer, und man kam überein, sich in einer Stunde am Lataniers-Fluss zu versammeln, wo die Mittagsmahlzeit bereit sein würde. René oblag es, über die beiden jungen Damen zu wachen. Jane hatte Bernardin de Saint-Pierres Roman mitgebracht, und René las am Grab der Heldin einige Kapitel daraus vor.

Die Sonne begann allmählich recht stark zu brennen, und die zwei Mädchen und ihr Ritter sahen sich genötigt, den schattenarmen Ort zu verlassen.

Unsere Touristen hatten sich kaum Zeit genommen, die Landschaft zu betrachten. Wer unterwegs in Armenien mit einem Mal auf das verlorene Paradies stieße, hätte kaum weniger Anlass zur Verblüffung als der Reisende, der sich zum ersten Mal in die Gegend mit Namen Pamplemousses verirrt. Alles, was sie zu sehen bekamen, weckte die ungeheuchelte Bewunderung der drei jungen Leute. Zum ersten Mal bekamen sie Zuckerrohrfelder zu sehen, bepflanzt mit den biegsamen, glänzenden, knotigen und faserigen Halmen von neun bis zehn Fuß Höhe mit ihren seidig spröden Blättern.

Neben den Zuckerrohrfeldern und gewissermaßen als ihre Ergänzung lagen Kaffeeplantagen, deren Beeren, wenn es nach Madame de Sévigné gegangen wäre, wie Racine längst aus der Mode gekommen wären, und die stattdessen in jenen Tagen seit einhundertzwölf Jahren Europa einen Sinnengenuss verschafften, wie Racine seit zweihundert Jahren den Liebhabern der Poesie geistigen Genuss verschaffte. Was die drei jungen Leute vor allem beeindruckte, war die Freigebigkeit, mit der die Natur an jedem Baum köstliche Früchte wachsen ließ. Sie brauchten nur die Hand auszustrecken, um Mandeln, Rosenäpfel oder Avocados zu pflücken. Von Weitem sahen sie ihre Begleiter, die am Lataniers-Fluss die Mittagsmahlzeit zubereiteten.

Kein Getränk hatte jemals köstlicher gemundet als die drei Glas Wasser, die aus diesem geschöpft wurden.

Die Jäger waren noch nicht zurückgekehrt; doch zehn Minuten darauf verrieten Gewehrschüsse ganz in der Nähe, dass sie nicht weit sein konnten.

Es war erst zehn Uhr vormittags, aber die frische und klare Luft hatte allen Reisenden großen Appetit gemacht. Außerdem war der Anblick des gedeckten Tischs nur allzu verführerisch: Die Seeleute waren bis zum Meer gegangen und hatten Muscheln und Meerestiere gesammelt, darunter kleine Austern, die – wie in Genua – an den Zweigen und Holzstücken serviert wurden, an denen sie hafteten.

Der Hotelier des Hôtel des Étrangers, der mit dem Hauptgang der Mahlzeit betraut war, hatte seine heilige Aufgabe vollendet erfüllt und ein halbes Lamm, ein Viertel von einem Hirschkalb und Hummer von ausgesuchter Frische bringen lassen.

Der Fischgang wurde mit unerhört großen, köstlich mundenden Fischen bestritten, von denen man sich in Frankreich keine Vorstellung machen kann.

Die besten Weine, die man auf der Insel hatte auftreiben können, lagerten zur Kühlung an den tiefen Stellen des Flusses.

Die Jäger brachten einen jungen Hirsch, einige Hasen und große Mengen Rebhühner und Wachteln. Die Köche sicherten sich diesen zusätzlichen Proviant für das Abendessen, denn den Reisenden hatte der Ausflug bisher so gut gefallen, dass sie wie aus einem Mund gerufen hatten: »Bleiben wir bis zum Abend!«

Dieser Vorschlag war auf keinen Widerspruch gestoßen, und man war übereingekommen, im Freien zu speisen, sich bis zwei Uhr in der Frische der Bäume am Fluss zu erquicken und danach zu Pferde aufzubrechen, um die Stelle der Küste zu besuchen, an der die Saint-Géran in Paul und Virginie gekentert war. Damit wäre die Pilgerfahrt vollendet, denn man hätte den Geburtsort, den Schauplatz des Kenterns und das Grab der Romanfiguren besichtigt.

Nie zuvor hatten René und seine Reisegefährten eine so üppige Vielfalt an Früchten gekostet, die sämtlich in Europa unbekannt waren. Die Neugier erhielt den Appetit wach und entschuldigte ihn, und so saß man bis um zwei Uhr zu Tisch.

Da die Schwarzen großzügig verpflegt worden waren und auch mit Arrak nicht gespart worden war, fanden sie sich pünktlich ein, um ihre Arbeit zu tun, da sie hofften, für gute Dienste weiterhin großzügig entlohnt zu werden.

Man machte sich wieder auf den Weg, der nun die Hochebene und Papayahaine verließ und in Dickichte führte, in denen die Neger immer wieder mit Macheten einen Pfad bahnen mussten. Die Träger gingen mit geschmeidigen Schritten, die trotz der schlechten Wege die jungen Damen in den Sänften kein bisschen durchschüttelten.

Nach etwa einer Dreiviertelstunde erreichten die Reisenden die Küste vor der Île d’Ambre, anders gesagt die Stelle, an der die Saint-Géran zwischen Festland und Insel Havarie erlitt.

Nichts an der Landschaft kündete von dem traurigen Ende der Pastorale von Bernardin de Saint-Pierre, doch die Bewegung, die unsere Reisenden ergriff, war darum um nichts geringer als die am Grab der Liebenden. Alle blickten gebannt und klopfenden Herzens zum Ort des Geschehens und fragten die Seeleute, wie es zu dem Unglück habe kommen können, als mit einem Mal an der Stelle, an der das Schiff gesunken war, Getöse vernehmbar wurde und die Wasseroberfläche wogte und spritzte.

Die Ursache war schnell erkannt: Zwei riesige Untiere kämpften im Wasser miteinander, ein Walfisch mittlerer Größe und sein Todfeind, der Schwertfisch. Man hätte meinen können, die zwei Gladiatoren des Meeres hätten für ihren Zweikampf den Augenblick abgepasst, in dem die Besucher das Meeresufer erreichten.

Es war ein langer und unerbittlicher Kampf. Der riesige Wal erhob sich fast aufrecht im Wasser, dräuend wie ein Kirchturm, und stieß zwei gewaltige Wasserfontänen aus, die nach und nach schwächer wurden und sich blutig färbten, bis sie als rosenfarbener Regen fielen und den nahen Sieg des kleineren der beiden Kombattanten verhießen. Der wendigere Schwertfisch verstand es in der Tat, den Wal zu attackieren, als besäße er die Gabe der Ubiquität, und stieß ihm seine Schwertspitze in die Seite, ohne dem Gegner Zeit zu lassen, sich zu wehren. Dann bäumte der Wal sich im Todeskampf auf und warf sich auf seinen Widersacher, den er wahrscheinlich erdrückte, denn dieser ward nicht wieder gesehen. Der Wal wiederum erstarrte nach einigen letzten Zuckungen und verschied, indem er ein lautes Heulen ausstieß, das auf merkwürdige Weise an den Schrei eines Menschen erinnerte.


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