42 Selbstmord

Pichegru, zu dem wir nun zurückkehren, hatte zu Anfang alles abgestritten; doch nachdem Moreaus Kammerdiener ihn als denjenigen wiedererkannt hatte, der seinem Herrn geheimnisumwitterte Besuche abstattete und mit Respekt begrüßt wurde – anders gesagt, entblößten Hauptes -, gab er das Leugnen auf und teilte das Schicksal Cadoudals.

Im Temple-Gefängnis wurde Pichegru eine Zelle im Erdgeschoss zugewiesen. Sein Bett stand mit der Kopfseite zum Fenster, so dass er die Fensterbank als Nachtschränkchen benutzen konnte und das Licht auf ihr abstellte, wenn er im Bett las; draußen vor dem Fenster war eine Wache postiert, die alles beobachten konnte, was sich in der Zelle abspielte.

Nur ein kleines Vorzimmer trennte Georges und Pichegru. Abends wurde ein Gendarm in dieses Vorzimmer eingeschlossen, und der Schlüssel wurde dem Concierge übergeben. Der Gendarm konnte durch das Fenster um Hilfe oder nach Verstärkung rufen. Die Wache am Hoftor hätte seine Botschaft dann an den nächsten Wachposten weitergegeben, und dieser hätte den Concierge verständigt.

Eine Zeit lang waren in Pichegrus Zelle zwei weitere Gendarmen postiert, die ihn keine Sekunde aus den Augen ließen. Zudem trennte seine Zelle nur eine Scheidewand von der Zelle Bouvets de Lozier, der versucht hatte, sich zu erhängen. Und drei oder vier Schritte entfernt lag an dem Flur zur Rechten Georges Cadoudals Zelle, die Tag und Nacht geöffnet war und in der zwei Gendarmen und ein Brigadier ein Auge auf den Gefangenen hatten.

Im Anschluss an Monsieur Réals Unterhaltung mit Pichegru verlangte Letzterer, dass die zwei Gendarmen, durch die er sich entsetzlich gestört fühlte, aus seiner Zelle entfernt würden.

Das Begehren wurde Bonaparte unterbreitet, der die Achseln zuckte. »Warum soll man den Mann unnötig irritieren?«, sagte er. »Diese Gendarmen sollen ihn nicht an der Flucht hindern, sondern daran, sich umzubringen; wer aber ernsthaft beabsichtigt, sich umzubringen, hat noch immer Mittel und Wege zu finden gewusst.«

Man hatte Pichegru Tinte und Papier überlassen, und er schrieb fleißig. Die gute Aufnahme, die seine Überlegungen zur Verbesserung von Guyana gefunden hatten, schmeichelte ihm sehr, und vermutlich sah er sich mit seiner doppelten Phantasie des Strategen und des Mannes der Zahlen und mit seinen Erinnerungen an die Erkundungsreisen und Jagdausflüge in das Landesinnere jener Küsten im Geiste schon an der Arbeit und ging ganz in ihr auf.

Bonapartes Befürchtung, Pichegru trage sich mit Selbstmordgedanken, war nicht unberechtigt.

Der Marquis de Rivière hat Monsieur Réal und Monsieur Desmarets erzählt, er sei eines Abends mit Pichegru in Paris herumgeirrt, und als sie vor lauter Furcht, nach Hause zu gehen oder auf der Straße aufgegriffen zu werden, nicht ein noch aus wussten, sei der General auf einmal stehen geblieben, habe sich eine Pistole an die Stirn gesetzt und gesagt: »Ach, wozu noch weiter herumlaufen, machen wir hier ein Ende.«

Monsieur de Rivière fiel ihm in den Arm, entriss ihm die Pistole und konnte ihn – wenigstens für den Augenblick – dazu bewegen, seine Selbstmordabsichten aufzugeben.

Er brachte ihn zu einer Dame in der Rue des Noyers, bei der er selbst Unterschlupf gefunden hatte. Und dort legte Pichegru seinen Dolch auf den Tisch und sagte: »Noch ein Abend wie dieser, und alles wird ein Ende haben.«


In seinen Erinnerungen aus der Revolutionszeit berichtet Charles Nodier eine merkwürdige Anekdote, die sich wie eine Vorahnung dessen ausnimmt, was sich zehn Jahre später im Temple-Gefängnis zutragen sollte.

Wie der ganze Generalstab Pichegrus trug der junge Nodier Krawatten aus schwarzer Seide, die sehr eng am Hals gebunden waren. Um sich von den merveilleux der Zeit mit ihrer ausladenden Krawatte im Stil Saint-Justs abzusetzen, pflegte der junge Mann seine Krawatte mit einem einzigen Knoten rechts zu knüpfen.

In Befolgung der Ordre Saint-Justs schlief man angekleidet. Pichegru und seine zwei Sekretäre nächtigten im selben Zimmer, jeder auf einer Matratze, die auf dem Boden lag. Pichegru ging stets als Letzter gegen drei, vier Uhr morgens zu Bett.

Eines Nachts, als Nodier ein Alptraum plagte, in dem indische Thags ihn erdrosselten, erwachte er, als er eine Hand spürte, die seinen Hals berührte und den Knoten seiner Krawatte lockerte. Er wurde völlig wach und sah den General neben seinem Lager knien. »Sind Sie es, General?«, fragte er. »Benötigen Sie mich?«

»Nein«, erwiderte Pichegru. »Im Gegenteil, du hast mich benötigt: Du hast schlecht geschlafen und hast gestöhnt, und es war nicht schwer, die Ursache dafür zu erkennen. Wer wie wir eine eng geknüpfte Krawatte trägt, muss darauf achten, sie zu lockern, wenn er zu Bett geht, denn wenn man diese Vorkehrung vergisst, kann einen der Schlag rühren oder gar der unerwartete Tod treffen. Die enge Krawatte beim Schlaf ist der sichere Weg zum Selbstmord.«


Bei Monsieur de Réals Besuch, als sie sich über die Kolonisierung Guyanas unterhielten, hatte Monsieur Réal wissen wollen, ob Pichegru Wünsche habe.

»Ja, Bücher!«, hatte Pichegru gesagt.

»Geschichtswerke?«

»O nein, wahrhaftig nicht! Die Geschichte hängt mir zum Halse heraus; lassen Sie mir Seneca bringen; mir ergeht es wie dem Spieler

»General«, hatte Monsieur Réal lachend erwidert, »der Spieler verlangt erst nach Seneca, wenn er die letzte Partie verloren hat; so weit sind Sie noch lange nicht.«

Zur gleichen Zeit bat Pichegru, dass man ihm ein Porträt zurückgebe, das ihm weggenommen worden und das ihm teuer war. Seneca wurde ihm gebracht, und Monsieur Desmarets wollte ihm das Porträt aushändigen lassen, als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es wie alle anderen Beweisstücke dem Gericht vorgelegt werden müsse.

Als Pichegru nur das Buch erhielt, verlangte er das Porträt. Man teilte ihm mit, warum er es nicht erhielt, doch die Antwort stellte ihn nicht zufrieden.

»Dann hat Monsieur Réal sich über mich lustig gemacht, als er mit mir über Cayenne sprach«, sagte er zum Kerkermeister. Und er wartete ungeduldig auf einen weiteren Besuch Monsieur Réals.

Unterdessen war der Herzog von Enghien entführt und verurteilt worden, und Monsieur Réal war mit Arbeit so überlastet, dass er keine Zeit fand, Pichegru einen zweiten Besuch abzustatten.

Daraufhin fasste dieser offenbar den Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Zuerst beklagte er sich über die Kälte; da es in seinem Zimmer einen Kamin gab, machte man Feuer. Zu diesem Zweck brachte man ein Bündel Reisig, damit das Feuer wieder entzündet werden konnte, wenn es erstarb.

Am übernächsten Tag fand die Wache, die morgens das Zimmer des Generals betrat, diesen reglos und still auf seinem Bett vor.

Sie rief seinen Namen – er war tot!

Eine Stunde nach dieser grausigen Entdeckung, gegen acht Uhr morgens, erhielt Savary, der im Tuilerienpalast wachhabender Offizier war, eine Nachricht des Offiziers der Elitegendarmerie, der an diesem Tag die Wachposten im Temple-Gefängnis befehligte. Die Nachricht besagte, General Pichegru sei tot in seinem Bett aufgefunden worden und man benötige ein Mitglied der Polizei, das den Sachverhalt bezeugte. Savary ließ die Nachricht sofort an den Ersten Konsul weiterleiten, und dieser ließ Savary rufen, da er dachte, jener wisse mehr. Als er sah, dass es sich nicht so verhielt, befahl er: »Informieren Sie sich unverzüglich. Zum Teufel! Das ist mir ein schöner Tod für den Eroberer Hollands!«

Savary verlor keine Sekunde, eilte zum Temple und kam gleichzeitig mit Monsieur Réal dort an, den der Oberrichter geschickt hatte, damit er ihm alle Einzelheiten berichtete.

Noch hatte niemand den Raum betreten, in dem die Wache den Toten gefunden hatte. Monsieur Réal und Savary wurden an das Bett des Toten geführt und erkannten ihn, obwohl sein Gesicht durch den Erstickungstod stark gerötet war.

Der General lag auf der rechten Seite und hatte seine Krawatte wie ein Seil um den Hals geschlungen; daran hatte er sich erhängt, indem er diesen Strang so eng wie möglich zusammengezogen hatte und dann ein Stöckchen von fünfzehn Zentimetern Länge aus dem Reisigbündel, dessen Überreste im Zimmer und im Kamin lagen, hineingesteckt und als Hebel benutzt hatte, mit dem er die Schlinge so lange zusammenschnürte, bis sein Geist sich zu trüben begann; dann hatte er den Kopf auf das Kissen sinken lassen, und unter dem Gewicht seines Halses hatte das Stöckchen die Krawatte daran gehindert, sich zu lockern. Der Atemstillstand hatte nicht auf sich warten lassen, und noch im letzten Moment hatte Pichegrus Hand das Stöckchen zu halten versucht.

Hinter ihm lag auf der Fensterbank ein aufgeschlagenes Buch, als hätte er in seiner Lektüre nur kurz innegehalten. Es war der Band Seneca, den Monsieur Réal ihm besorgt hatte; geöffnet war das Buch an der Stelle, an der Seneca schreibt: »Wer sich verschwören will, darf vor allem keine Angst vor dem Sterben haben.«

Wahrscheinlich war diese Stelle Pichegrus letzte Lektüre gewesen; seit über den Tod des Herzogs von Enghien gemunkelt wurde, hatte Pichegru angenommen, dass für ihn nur mehr die Aussicht bestand, sich entweder der Gnade des Ersten Konsuls anzuempfehlen oder zu sterben.

Auf der Stelle wurden alle verhört, die über diesen unerwarteten und befremdlichen Tod etwas sagen konnten, denn Savary dachte sich sofort, dass man diesen Tod Bonaparte anlasten würde.

Zuerst vernahm er den Gendarmen, der die Nacht in dem Vorzimmer verbracht hatte, das Georges von Pichegru trennte; dieser hatte nichts gehört bis auf einen hartnäckigen Hustenanfall des Generals gegen ein Uhr morgens, und da er nicht zu ihm gelangen konnte, nachdem er selbst eingeschlossen war, hatte er dieses Hustens wegen nicht das ganze Gefängnis wecken wollen. Daraufhin wurde der Gendarm verhört, der vor dem Fenster postiert war und alles sehen konnte, was in Pichegrus Zimmer vor sich ging; er hatte nichts bemerkt.

Monsieur Réal verzweifelte. »Dass es ein Selbstmord war, steht außer jeder Frage«, sagte er, »doch wir können tun, was wir wollen, es wird immer behauptet werden, der Gefangene wäre erdrosselt worden, weil man nichts gegen ihn in der Hand hatte.«

Und dies wurde in der Tat gemunkelt, wenn auch zu Unrecht. Diese Gerüchte waren für das Verfahren gegen Moreau von großem Nachteil.

In Wahrheit hatte Bonaparte keinerlei Grund, Pichegru etwas anzutun, denn ganz im Gegenteil hatte der Erste Konsul Pläne mit einem lebenden Pichegru, die seiner eigenen Beliebtheit nützen sollten. Indem Bonaparte nicht allein seinen ehemaligen Lehrer begnadigte, sondern ihn überdies in ehrenvollem Auftrag nach Cayenne schickte, konnte er den negativen Folgen einer Verurteilung Moreaus entgegenwirken. Und Pichegru brachte er nicht einen Bruchteil des Ressentiments entgegen, das er für Moreau empfand.

Zudem hätte er es kaum für opportun gehalten, in ebenjenem Augenblick, in dem die Öffentlichkeit ihm die Hinrichtung des Herzogs von Enghien so sehr verübelte, Öl ins Feuer zu gießen und Pichegru des Nachts in seiner Zelle von gedungenen Mördern erdrosseln zu lassen.

»Ach!«, sagte Bonaparte, als Réal zu ihm zurückkehrte, und schlug mit der Faust auf den Tisch, »wenn man bedenkt, dass er für die Kolonisierung Guyanas nichts weiter von uns verlangte als sechs Millionen Neger und sechs Millionen in Geld!«


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