85 Die Armenkollekte

Mit militärischer Pünktlichkeit fanden sich Surcouf und René um halb vier in der Residenz des Gouverneurs ein.

René hätte lieber wenigstens eine Viertelstunde länger gewartet, doch Surcouf hatte ihm erklärt, dass der Gouverneur selbst um halb vier zu speisen pflege und auf Gäste, die nicht rechtzeitig erschienen, nicht gut zu sprechen sei.

René war der Ansicht, dass unter den gegebenen Umständen den Gästen eine gewisse Freizügigkeit eingeräumt sei, doch Surcouf war so unerbittlich, dass sie an die Tür der Gouverneursresidenz klopften, als Surcoufs Uhr halb vier anzeigte.

Die beiden Gäste wurden in den Salon geführt, wo niemand sie erwartete.

Madame Decaen beendete ihre Toilette, der General beendete seine Korrespondenz, und Monsieur Alfred Decaen war mit seinem Diener ausgeritten und noch nicht zurückgekehrt.

»Siehst du, mein lieber Surcouf«, sagte René und ergriff seinen Freund am Ellbogen, »ich war doch nicht der Hinterwäldler, für den du mich halten wolltest, und wir hätten sehr wohl noch eine Viertelstunde Zeit gehabt, bevor man uns der Unhöflichkeit gegenüber unseren Gastgebern bezichtigt hätte.«

Eine Tür wurde geöffnet, und der General trat ein. »Verzeihen Sie, meine Herren«, sagte er, »aber als vorbildlicher Mann des Schreibtischs hat Rondeau mich gebeten, bis um vier Uhr zu warten, denn zu dieser Stunde schließt er sein Büro, und in den zehn Jahren, die er seine Arbeit bei uns ausübt, war er immer der Letzte, der es verließ. Sie können nach eigenem Belieben hier auf ihn warten oder sich im Garten ergehen. Da kommt mein Sohn, der gerade vom Pferd steigt und sich umkleiden muss, bevor er sich zu Tisch begeben kann.«

Der General öffnete ein Fenster und rief: »Presto, presto! Wir erwarten dich auf der Terrasse am Meeresufer.«

Sie gingen in den Garten, wo man durch überdachte Alleen die Terrasse erreichte.

Es war ein bezaubernder Ort, der einen Blick von der Bête-à-Mille-Pieds bis zur Bucht von Grande-Rivière bot. An beiden Enden der Terrasse waren Zelte aufgebaut, das eine als Rüstkammer, mit Masken und Floretten verziert, das andere als Schützenzelt mit Schießscheiben, Puppen, Zielscheiben und allem, was man benötigt, um die kunstvollsten Schießkünste zu beweisen.

Der General und seine Gäste betraten wie zufällig die Rüstkammer.

»Hier sehen Sie sich in Ihrem Element, Monsieur René«, sagte der General, »denn Surcouf beteuerte, dass Sie nicht nur ein erstrangiger Fechter seien, sondern ein allen anderen überlegener Fechter.«

René verzog den Mund. »General«, sagte er, »mein Kommandant Surcouf bringt mir eine väterliche Zuneigung entgegen; hörten Sie auf ihn, wäre ich der hervorragendste Reiter, der kundigste Fechter und der beeindruckendste Pistolenschütze seit den Zeiten des Chevalier de Saint-Georges. Ich wagte nicht einmal zu bezweifeln, dass er alles versucht hätte, mich mit dem berühmten Mulatten zusammenzubringen, um mich über ihn triumphieren zu sehen. Leider sind die Augen eines Freundes ein verzerrendes Vergrößerungsglas, was die guten Eigenschaften betrifft, während die Untugenden bis zur Unkenntlichkeit verkleinert werden. Ich ziele wie jedermann, vielleicht etwas besser als die meisten derer, die erschossen werden, aber weiter reicht meine Überlegenheit nicht. Und was das Fechten betrifft, dürften meine Fähigkeiten einigermaßen eingerostet sein, da ich kein Florett mehr in Händen hielt, seit ich zur See fahre.«

»Weil du keinen Gegner gefunden hast, der deiner würdig gewesen wäre!«, widersprach Surcouf. »Geh mit gutem Beispiel voran!«

»Wie, Sie wollen nicht, Monsieur Surcouf?«, sagte der General. »Sie gelten doch als guter Fechter.«

»In Saint-Malo, mein General, in Saint-Malo! Und selbst dort habe ich meinen Ruf eingebüßt, als Monsieur das Florett ergriff.«

In diesem Augenblick kam Monsieur Decaens Sohn herein. »Komm her, Alfred«, sagte sein Vater, »und lass dir von Monsieur Surcouf eine Lektion erteilen. Du bildest dir ein, mit dem Degen umgehen zu können, und Monsieur Surcouf ist dafür bekannt. Nun, ich hoffe, dass er dir nun coram publico zeigen wird, was für ein Laffe du bist.«

Der junge Mann lächelte; mit der Zuversicht der Jugend holte er zwei Florette und zwei Masken, reichte ein Florett und eine Maske Surcouf und sagte: »Mein Herr, wenn Sie meinem Vater und vor allem mir den Gefallen erweisen wollten, um den er Sie bittet, wäre ich Ihnen unendlich verbunden.«

Surcouf sah sich beim Wort genommen und hatte keine andere Wahl, als die Herausforderung anzunehmen; er legte Hut und Rock ab, setzte die Maske auf, verneigte sich vor dem General und sagte: »Zu Befehl, mein General und Monsieur Alfred.«

»Meine Herren«, sagte der General und lachte, »Sie dürfen darauf rechnen, ein Duell zu erleben wie das zwischen Dares und Entellus. Oh, Monsieur Rondeau«, sagte er, »Sie kommen im rechten Augenblick! Meine Herren, ich darf Sie mit Monsieur Rondeau bekannt machen, der sich ebenfalls des Rufs eines unserer besten Schützen erfreut, denn hierzulande ist jedermann waffenkundig, sogar ein Bankier. Lieber Monsieur Rondeau, ich darf Ihnen Monsieur Surcouf vorstellen, den Sie seit Langem kennen, und Monsieur René, den Sie noch nicht kennen, der aber, wie mir scheint, geschäftliche Beziehungen mit Ihnen unterhält...«

»Oh«, sagte Monsieur Rondeau, »handelt es sich um Monsieur René de...«

»René ohne Titel«, fiel ihm René ins Wort, »was ihn nicht daran hindert, sich als zu Ihren Diensten zu erklären, wenn Sie gestatten.«

»Ich bitte Sie, Monsieur«, sagte Monsieur Rondeau, der die Daumen in die Armausschnitte seiner Weste steckte und den Bauch vorstreckte, »ich stehe zu Ihren Diensten, jedenfalls bis zum Betrag von dreihunderttausend Francs und sogar darüber hinaus.«

René verneigte sich. »Wir halten die anderen Herren auf«, sagte er. »Meine Herren, kreuzen Sie die Klingen.«

Surcouf und Monsieur Alfred Decaen gingen in Auslage, der eine so reglos wie eine Statue – es erübrigt sich zu sagen, dass dies Surcouf war -, der andere mit der Zuversicht und der Anmut der Jugend.

Trotz des unterschiedlichen Fechtstils – einerseits ernsthaft, streng, ein wenig starr, mit den einfachsten Paraden, andererseits mit immer neuen Ausfällen und Finten, mit Bein- und Handbewegungen und unnötigen Ausweichbewegungen, die Klinge abwechselnd im Terz und im Quart führend – war keiner der Kontrahenten dem anderen erkennbar überlegen.

Nach zehnminütigem Gefecht hatte der junge Mann Surcouf einmal getroffen, und Surcouf hatte ihn zweimal getroffen.

Alfred verneigte sich vor Surcouf, gab sich geschlagen und reichte das Florett dem Bankier.

Wie Monsieur Decaen gesagt hatte, war zu jener Zeit auf der Île de France jedermann waffenkundig, sogar ein Bankier. Monsieur Rondeau entledigte sich seines Überrocks, holte seine Brieftasche hervor, die er in die Hosentasche beförderte, und ging in Auslage.

Das Gefecht zwischen ihm und Surcouf war von größter Ausgewogenheit: Beide trafen den Gegner zweimal, und Surcouf nahm zuletzt die Maske ab und reichte sein Florett René.

»Mein lieber Surcouf«, sagte dieser, »du weißt, wie ungern ich vor Zuschauern fechte, besonders vor so sachkundigen Zuschauern wie diesen. Erlasse es mir, nach dir zu fechten, und erlaube mir, mich auf den Ruf zurückzuziehen, den ich dir verdanke und den ich nur demolieren würde, indem ich ihn aufrechtzuerhalten versuchte.«

»Meine Herren«, sagte Surcouf, »obwohl ich mit René so gut befreundet bin, habe ich ihn nur einmal fechten sehen, und damals gab er die gleichen Gründe an, es nicht zu tun, wie heute. Seien wir ihm also so gefällig, wie er es uns nicht sein will, und geben wir seiner Bescheidenheit nach. Zudem«, fügte er hinzu, »scheint mir, als hörte ich, dass man uns zu Tisch ruft.«

Ein Lächeln des Triumphs zeigte sich auf dem dicken Gesicht Monsieur Rondeaus, das aufblühte wie eine Pfingstrose.

»Wenn Monsieur«, sagte er, »mir nicht die Ehre erweisen will, die Klinge mit mir zu kreuzen, wollen wir es auf später verschieben.«

René verneigte sich, und Surcouf hängte Maske und Florett dort auf, wo er sie geholt hatte.

In der Tat war zum Essen gerufen worden, denn nun sah man Madame Decaen die ersten Stufen des Perrons hinunterkommen.

Die Herren begaben sich zum Haus; der Sohn Monsieur Decaens eilte wie ein Schüler, der seine Mutter seit dem Morgen nicht mehr gesehen hat, zu Madame Decaen und warf ihr die Arme um den Hals.

Man begrüßte einander, wechselte einige Artigkeiten, und als alle darauf warteten, dass der Kavalier für Madame Decaen benannt werde, sagte der General: »Monsieur René, reichen Sie Ihren Arm Madame Decaen.«

René verneigte sich, reichte Madame Deacen seinen Arm und führte sie in das Speisezimmer.

Wie üblich verlief der erste Gang unter dem ausschließlichen Geklirr von Gabeln und Löffeln auf den Tellern; dann lehnte Monsieur Rondeau sich zurück, seufzte tief und wohlig und sagte zu René: »Monsieur René, in der Pause des Theaterstücks gestern habe ich im Café de la Comédie ein Eis zu mir genommen, und da ich sah, dass Neugierige einen Mann umringten, habe ich zugehört, was dieser Mann zu erzählen hatte; offenbar war es ein Matrose, der aus Birma zurückkam. Er tischte so ungeheuerliche Lügenmärchen über seinen Kapitän auf, dass ich mir das Lachen nicht verbeißen konnte.«

»Und was hat er behauptet, Monsieur Rondeau?«, fragte René.

»Er hat behauptet, sein Kapitän hätte mit einem einzigen Hieb eines Entersäbels eine Boa zerteilt, die zwei Elefanten zu erdrücken drohte.«

»Und darüber mussten Sie lachen, Monsieur Rondeau?«

»Aber gewiss doch!«

»Ich kann Ihnen versichern, dass Sie es nicht zum Lachen gefunden hätten, wenn Sie dabei gewesen wären.«

»Halten Sie mich für einen Feigling, Monsieur René?«

»Das habe ich nicht behauptet, Monsieur, doch es gibt Dinge, deren Anblick die Tapfersten einschüchtert. Und derjenige, den Sie gestern hörten, der zwei Tigerjunge am Genick aus dem Dschungel mitgebracht hat und der wie ein Kind zu zittern begann, als er die abscheuliche Schlange erblickte – dieser Mann ist alles andere als ein Feigling, das kann ich Ihnen versichern.«

»Aber ein Scherzbold war er auf jeden Fall«, erwiderte Monsieur Rondeau, »denn er sagte, die Schlange wäre mindestens siebenundfünfzig Fuß lang gewesen.«

»Nicht er hat sie gemessen, ich war es«, erwiderte René gelassen.

»Also sind Sie sein Kapitän?«

»Ja, Monsieur, falls dieser Mann zufällig François heißt.«

»O ja, ja doch, so wurde er von den anderen genannt. Und die Schlange hat tatsächlich zwei Elefanten erdrosselt?«

»Dass sie sie erdrosselt hat, will ich nicht behaupten, aber ich weiß, dass die Knochen der Elefanten knackten, als würden sie von einem Jagdhund zerbissen, obwohl die Schlange in den letzten Zügen lag, denn ich hatte ihr bereits mit zwei Kugeln den Kopf zerschmettert.«

Madame Decaen warf ihrem Gast einen erstaunten Blick zu, und Alfred betrachtete ihn mit unverhohlener Neugier.

»Aber wenn Sie von meinem Freund René gehört haben«, sagte Surcouf, »dann haben Sie noch viel sagenhaftere Dinge zu hören bekommen. Am hiesigen Quai Chien-de-Plomb hat er sich vor den Augen aller einen Kampf mit einem Hai geliefert, der für den Hai ebenso schlecht ausging wie für die Boa.«

»Wie«, sagte Monsieur Rondeau, »Sie waren es, der den Hai entleibt hat, der den Matrosen verfolgte?«

»Ja, Monsieur, aber wie Sie wissen, ist so etwas nicht weiter schwierig; es erfordert nur ein wenig Geschick und ein scharfes Messer.«

»Der Mann hat noch eine andere Geschichte erzählt«, fuhr der wackere und ehrbare Monsieur Rondeau fort, der offenbar beschlossen hatte, sich zum Narren zu machen, koste es, was es wolle. »Er hat erzählt, sein Kapitän hätte auf einen Tiger angelegt, der zwanzig Fuß entfernt aus dem Dschungel kam, und bevor er schoss, hätte er gesagt: ›Auf Philipps rechtes Auge.‹ Ich weiß nicht mehr recht, ob es das rechte oder das linke Auge war, aber das macht nichts, denn der Matrose hatte den Sinn dieser Worte ebenso wenig verstanden wie ich.«

General Decaen brach in Gelächter aus.

»General«, sagte René, »seien Sie so gütig, Monsieur Rondeau die Geschichte des Aster zu erzählen; erzählte ich sie, liefe ich Gefahr, für einen Aufschneider gehalten zu werden.«

»Mein lieber Monsieur Rondeau«, sagte der General, »Aster war ein sehr gewandter Bogenschütze der Stadt Amphipolis, der von Philipp schlecht behandelt wurde; er verließ seine Heimat und ließ sich in Methone nieder, das bald darauf von Philipp belagert wurde. Aster aber wollte sich an Philipp rächen, und da er wollte, dass Philipp davon erfuhr, schrieb er auf einen Pfeil: ›Von Aster auf Philipps rechtes Auge.‹ In der Tat verlor Philipp nicht nur sein rechtes Auge, sondern dachte gar, er müsse an der Verletzung sterben. Und er ließ einen Pfeil in die Stadt schicken, auf dem stand: ›Wenn Methone fällt, wird Aster gehängt.‹ Der makedonische König nahm Methone ein und hielt sein Wort. Das ist die Geschichte, Monsieur Rondeau, und ich versichere Ihnen, dass sie zumindest historisch verbürgt ist.«

»Teufel auch, Teufel auch! Aber so eine Geschicklichkeit kann sich mit der Ihrigen messen, Monsieur René!«

»Ich sehe schon, Monsieur Rondeau«, sagte René, »dass Sie nicht lockerlassen und sich mit meiner Weigerung zu fechten nicht abfinden wollen. Nach dem Essen stehe ich zu Ihrer Verfügung, und wenn Sie sich mit meinen Bedingungen einverstanden erklären, will ich Ihnen mein Wort geben, dass Ihnen der Waffengang früher lästig fallen wird als mir.«

Von diesem Augenblick an unterhielt man sich wieder über andere Gegenstände; doch Madame Decaen und Alfred, die begierig darauf waren, Rondeau unterliegen zu sehen, beeilten sich, das Gespräch zu beenden, und schlugen vor, Café und Digestif in der Rüstkammer servieren zu lassen.

Man begab sich dorthin, und Monsieur Rondeau, dessen Bauch sich stärker zu runden begann, als seine Eitelkeit gutheißen konnte, trat voller Selbstvertrauen als einer der Ersten in den Raum.

»Was schlagen Sie vor, Monsieur René?«, fragte der General.

»Sagten Sie mir nicht, General, dass Madame Decaen die Schutzherrin der Armen sei?«, fragte René und verbeugte sich bei diesen Worten vor Madame Decaen. »Ich schlage deshalb vor, dass Monsieur Rondeau und ich jedes Mal, wenn einer von uns fünfmal getroffen wird, ohne zu parieren, tausend Francs bezahlen.«

»Oho!«, sagte Monsieur Rondeau und lachte unmäßig, »diese Wette kann ich halten.«

Monsieur Rondeau ergriff ein Florett, rieb die Klinge an seiner Schuhsohle, fuhr damit durch die Luft, bog sie, und da die Waffe ihm offenbar zusagte, ging er in Auslage.

René ergriff die erstbeste Waffe, salutierte und ging ebenfalls in Auslage. »Bitte sehr, Monsieur«, sagte er.

Monseur Rondeau führte schnell hintereinander drei Hiebe, die sein gutes Augenmerk und seine sichere Hand bewiesen, doch alle drei Hiebe parierte René mühelos.

»Nun bin ich an der Reihe«, sagte René.

Die Kombattanten gingen wieder in Auslage, und diesmal fielen die Hiebe wie drei Blitze.

»Eins, zwei, drei«, zählte René laut mit.

Jeder der Hiebe hatte Monsieur Rondeau touchiert.

René wendete sich zu den Zuschauern um, die einstimmig riefen: »Drei Treffer!«

»Nun wieder Sie, Monsieur«, sagte René, »doch ich sage Ihnen im Voraus, dass ich Paraden und Riposten nur mit geraden Stößen führen werde; ich sage es im Voraus, damit Sie mich nicht für raffinierter oder kundiger halten, als ich bin, und Sie sich nicht mit Ihren Paraden verkünsteln.«

Monsieur Rondeau verbiss sich ein Lächeln und sagte: »Ich bin bereit, Monsieur.«

In der Tat führte er zwei Hiebe, die René wie vorausgesagt mit zwei geraden Stößen als Riposten erwiderte.

Die zweite Riposte war unbestreitbar erfolgt, denn das Florett war an der Brust des Bankiers zerbrochen.

»Madame«, sagte René, der sich vor Madame Decaen verneigte, »Monsieur schuldet Ihnen tausend Francs für die Armen.«

»Ich bestehe auf meiner Revanche«, sagte Monsieur Rondeau.

»Mit Vergnügen«, erwiderte René. »Gehen wir in Auslage.«

»O nein, nicht mit dem Florett! Mit dem Florett sind Sie mir haushoch überlegen; versuchen wir es mit Pistolen.«

Alfred holte sogleich Pistolen herbei.

»Wir schießen mit jeder Pistole nur einmal, nicht wahr?«, sagte René zu Monsieur Rondeau. »Nicht dass man in Port-Louis denkt, die Insel würde belagert.«

»Einverstanden«, sagte Monsieur Rondeau. »Worauf wollen wir zielen?«

»Warten Sie«, sagte René, »das ist ganz einfach.«

Und ohne sich die Mühe zu machen zu zielen, ergriff er eine der Pistolen, feuerte und schoss die Kugel in den Stamm einer etwa fünfundzwanzig Schritt entfernten Palme.

»Sehen Sie das Einschussloch?«, fragte er Monsieur Rondeau.

»O ja, ganz deutlich«, erwiderte dieser und griff zu einer Pistole.

»Die Kugel, die dem Loch am nächsten kommt, hat gewonnen«, sagte René.

»Einverstanden«, sagte Monsieur Rondeau.

Er zielte so sorgfältig, dass man merkte, wie ernst er seine Revanche nahm, und seine Kugel traf den Baumstamm einen Fingerbreit neben der ersten Kugel.

»Ha!«, sagte der Schütze und wiegte sich in den Hüften, »gar nicht so übel für den Schuss eines Bankiers.«

René ergriff ebenfalls eine Pistole, zielte und schoss.

»Sehen Sie nach, meine Herren, und entscheiden Sie, wer am besten getroffen hat.«

General Decaen, Surcouf, Alfred und selbstverständlich Monsieur Rondeau liefen voller Neugier zu dem Baum, der als Zielscheibe gedient hatte.

»Ha, meiner Treu!«, rief Monsieur Rondeau. »Entweder sehe ich nicht richtig, oder Sie haben nicht einmal den Baum getroffen!«

»Sie sehen nicht richtig, Monsieur«, antwortete René.

»Wie das? Ich sehe nicht richtig?«, fragte Monsieur Rondeau.

»Ja, denn Sie suchen an der falschen Stelle. Sehen Sie im ersten Einschussloch nach.«

»Und dann?«, fragte Monsieur Rondeau.

»Da finden Sie eine Kugel.«

»So ist es.«

»Holen Sie sie heraus.«

»Hier ist sie.«

»Jetzt fassen Sie noch einmal hinein.«

»Wieso soll ich noch einmal hineinfassen?«

»Tun Sie es einfach.«

Monsieur Rondeau suchte und erstarrte vor Verblüffung.

»Sind Sie auf eine zweite Kugel gestoßen?«, fragte René.

»So ist es, Monsieur!«

»Richtig! Ich habe die zweite Kugel auf die erste gefeuert, denn näher als in dasselbe Loch konnte ich sie nicht schießen.«

Schweigen trat ein; sogar Surcouf musste diese schier unglaubliche Gewandtheit bestaunen.

»Wünschen Sie eine dritte Revanche mit dem Gewehr, Monsieur Rondeau?«, fragte René.

»Ha, meiner Treu, nein!«, erwiderte dieser.

»Dabei wollte ich Ihnen etwas ganz Einfaches vorschlagen.«

»Und was wäre das?«

»Eine der Fledermäuse, die über uns fliegen, mit dem Gewehr zu erlegen.«

»Sie schießen mit dem Gewehr auf Fledermäuse?«, fragte Monsieur Rondeau.

»Warum nicht?«, erwiderte René. »Ich schieße ja auch mit der Pistole auf sie.«

Und mit diesen Worten nahm er die vierte, noch nicht abgeschossene Pistole und holte eine Fledermaus aus der Luft, deren Pech sie in die Nähe der Rüstkammer geführt hatte.

Auch an diesem Abend kam René nicht dazu, dem Gouverneur der Île de France zu sagen, um welchen Gefallen er ihn bitten wollte.


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