117 In welchem Kapitel René in dem Augenblick die Fährte des Bizzarro findet, in dem er am wenigsten darauf rechnet

Es war in der Tat René, der mit seinem neuen Diener als Führer zum Berggipfel stieg, um zu sehen, ob es vielleicht einfacher wäre, die durch die Sturzbäche gegrabenen Rinnen und Furchen am Ursprung der Bäche zu überwinden als weiter unten am Berghang.

Und als sie am Fuß des Aspromonte ankamen, sah René, dass der Abstieg Reggio entgegen mit keinerlei Schwierigkeiten verbunden war und dass man innerhalb von acht Tagen eine Belagerungsbatterie bis auf eine Viertelkanonenschussweite vor die Stadt transportieren konnte.

René und sein Führer näherten sich Reggio bis auf eine Meile und vergewisserten sich, dass die Straße immer besser wurde; die gute Nachricht mußte dem General nur noch überbracht werden.

Es wurde zwar allmählich dunkel, und allein hätte René den Rückweg niemals gefunden, doch mit einem so erfahrenen Führer wie seinem neuen Diener gab es nichts zu befürchten. Folglich setzten sich beide an den Fuß eines Baums, ohne sich darum zu scheren, dass es dunkel wurde, und ohne sich mehr Deckung zu suchen als den grünen Vorhang, den der Wald bot, und machten sich behaglich an ihr Abendbrot.

Mitten während der Mahlzeit spürte René mit einem Mal die Hand seines Gefährten auf der Schulter, und als er aufsah, gebot dieser ihm mit dem Finger auf dem Mund Schweigen.

René schwieg und lauschte.

Schwere Schritte und Schleifgeräusche waren zu hören, als würden Menschen gegen ihren Willen fortgeschleppt, begleitet von erstickten Geräuschen, als versuchten sie zu protestieren.

Dann sahen sie zwei gefesselte und geknebelte Männer, die zu einem Baum gezerrt wurden, der ihnen als Galgen dienen sollte.

Das war der Grund für den Widerstand, den sie ihren Mördern boten, und für die erstickten Schreie, die sie zu äußern versuchten, denn dass die Männer, die sie zu dem Baum schleppten, sie dort aufhängen wollten, stand außer Frage.

René drückte den Arm seines Gefährten.

»Seien Sie unbesorgt«, flüsterte dieser, »ich kenne die Burschen.«

Die zwei Gefesselten wurden von fünf Henkern geschleppt; all ihr Sträuben war vergebens, denn sie konnten sich nicht wehren. Man legte ihnen die Schlinge um den Hals. Ein Mann, der wie ein Maultiertreiber aussah, stieg auf den Baum, knüpfte die zwei Seile an zwei Äste, und unter tatkräftiger Hilfe seiner Kumpane, die von unten schoben, während er von oben zog, waren die zwei armen Sünder innerhalb von zehn Minuten aufgeknüpft.

René, der eine so beschämende Todesart mit lebhaftestem Widerwillen mit angesehen hatte, war kein Laut entschlüpft.

Als die Zuschauer und Akteure der Hinrichtung sicher sein konnten, dass die Erhängten mausetot waren, trennten sie sich: Vier setzten ihren Weg nach Reggio fort, der Fünfte schickte sich an, allein in die Richtung zurückzugehen, aus der sie gekommen waren, als Renés neuer Diener aus dem Wald sprang und rief: »Orlando?«

Der Angerufene hatte sich nicht an der Hinrichtung beteiligt, sie jedoch mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Als er seinen Namen hörte, griff er nach seinem Dolch und drehte sich zu der Stimme um: »Ah«, sagte er, »du bist es, Tomeo; was zum Teufel tust du hier?«

»Ich tue nichts, ich habe deinem Tun zugesehen.«

»Du bist doch nicht etwa ehrbar geworden?«, fragte Orlando lachend.

»Da täuschst du dich; jedenfalls bemühe ich mich nach Kräften, es zu werden; aber was haben die beiden armen Teufel angestellt, denen ihr so grausam die Gurgel zugeschnürt habt?«

»Das waren zwei elende Wichte, die meine Unterschrift missachtet haben; ich hatte den Maultiertreibern, die du dort ihren Weg nach Reggio fortsetzen siehst, einen Passierschein gegeben, aber obwohl der Bizzarro und ich ausgemacht hatten, die Unterschrift des anderen zu respektieren, haben Männer aus seiner Bande die Maultiertreiber festgehalten und ausgeraubt; daraufhin sind sie zu mir gekommen und haben verlangt, dass die Räuber bestraft werden. ›Bringt mich zum Bizzarro‹, habe ich zu ihnen gesagt. Sie haben mich hingebracht. ›Gevatter‹, habe ich zu ihm gesagt, ›deine Männer haben meine Unterschrift missachtet, und jetzt muss ich ein Exempel statuieren, und zwar ein schreckliches Exempel.‹ Der Bizzarro hat sich von mir erzählen lassen, worum es ging, während er sich die Nase begoss. ›Urteile die Schuldigen ab, aber beeile dich, Gevatter; du weißt, dass ich es nicht schätze, beim Essen gestört zu werden.‹ Ich habe meine Maultiertreiber hergerufen, die an der Tür warteten, sie haben die Straßenräuber wiedererkannt, der Bizzarro hat sie mir überlassen, und den Rest hast du selbst gesehen.«

Unterdessen hatte René sich an den Waldrand vorgeschlichen und hatte mit angehört, was Orlando erzählte.

»Trinke einen Schluck mit uns, Gevatter!«, rief René ihm zu.

Orlando zuckte zusammen und drehte sich um; er erblickte einen Mann, der eine Flasche am Hals hielt.

Er sah zu seinem Kameraden, der ihm mit dem Blick bedeutete, dass er dem neuen Akteur, der sich auf der Szene eingefunden hatte, vertrauen konnte.

René reichte ihm die Flasche, nachdem er selbst die ersten Schlucke getrunken hatte, um den Banditen zu beruhigen, und fragte ihn über seinen Freund Bizzarro aus.

Orlando war mit dem Wein zufrieden, und da er keinen Grund sah, nicht weiterzusagen, was er über den Bizzarro wusste, gab er René bereitwillig alle Auskünfte, die dieser sich nur wünschen konnte. Da es immer später wurde und Renés Wissensdurst gestillt war, erinnerte er seinen Gefährten daran, dass sie weitergehen mussten.

Man leerte die Flasche, reichte einander die Hand zum Abschied und ging; an dem Baum blieben die verfluchten Früchte zurück, die in so kurzer Zeit seinen Ästen entsprossen waren.

Zwei Stunden später kehrte René in das Lager zurück.

Am nächsten Tag fand sich Graf Leo bei Tagesanbruch bei General Reynier ein.

Der General war bereits wach und saß sorgenvoll über einer Karte von Kalabrien im Bett.

»General«, sagte René lachend, »zerbrechen Sie sich nicht länger den Kopf über geographische Karten, ich habe einen Weg ausfindig gemacht, auf dem Ihre Kanonen so mühelos fahren werden wie auf einem Billardtisch. In fünfzehn Tagen werden wir Reggio beschießen, und in achtzehn Tagen werden wir die Stadt eingenommen haben.«

Der General sprang aus dem Bett. »Ich zweifle nicht an Ihren Worten, mein lieber Graf«, sagte er, »aber solche Dinge will man mit eigenen Augen gesehen haben.«

»Nichts leichter als das, General. Kleiden Sie sich an; ich werde meine fünfzig Mann zusammenrufen, und wenn der Ort, zu dem ich Sie führe, Ihnen zusagt, werden wir den Rest unserer Armee hinzuholen und lassen bei Scilla nur so viele Männer zurück, wie nötig sind, um die Stadt eingeschlossen zu halten.«

»Und wenn wir nur zu dritt gingen?«, fragte Reynier.

»Oh, was das betrifft, mein General«, sagte der junge Mann, »diese Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Mit meinen fünfzig Mann kann ich mich für Ihre Sicherheit verbürgen; wenn wir zu dritt aufbrechen wollen, kann ich mich aber nur dafür verbürgen, vor Ihnen zu fallen, und da damit niemandem gedient wäre, schlage ich vor, dass wir uns lieber an meinen ersten Vorschlag halten.«

Als General Reynier eine Viertelstunde später sein Quartier verließ, fand er die fünfzig Mann Graf Leos in Habtachtstellung vor, ihre Gewehre zu einer Pyramide zusammengestellt.

Der General begutachtete diesen Anblick.

»Mein lieber Graf«, sagte er zu René, »bei so einem Gefolge dürfte es wenig Sinn haben, unsere Expedition heimlich durchführen zu wollen. Kommen Sie herein und frühstücken Sie mit mir, während ich ein paar Flaschen Wein an Ihre Männer austeilen lasse.«

Nach einer halben Stunde waren alle zum Aufbruch bereit.

Tomeo nahm diesmal einen Weg, den auch die Pferde gehen konnten.

Gegen neun Uhr morgens erreichten sie den Gipfel des Aspromonte; man vergewisserte sich, dass man die Kanonen nur bis nach Maida zurückbringen musste, um von dort einen Weg zu finden, der zum Berggipfel führte, woraufhin man von Gipfel zu Gipfel weiterziehen konnte, bis man den Aspromonte erreichte.

Ein so erfahrener Mann wie General Reynier erkannte auf den ersten Blick, dass es keine andere Möglichkeit gab, die Belagerungsartillerie nach Reggio zu befördern, als diejenige, die sein junger Leutnant aus dem Hut gezaubert hatte.

Deshalb wurde einem Teil der Truppe befohlen, auf dem Berg zu biwakieren, während die übrigen Soldaten am Ufer zurückblieben, um eine Landung der Engländer zu verhindern.

Doch kaum sah René, dass die Ingenieure sich an die Arbeit machten und die Artillerie ihre Geschütze bewegte, bat er General Reynier um die Erlaubnis, sich vierzehn Tage von der Truppe zu entfernen.

»Falls es ein Geheimnis ist«, sagte General Reynier, »will ich nicht in Sie dringen; aber wenn es sich um etwas handelt, was Sie einem Freund anvertrauen können, würde ich gerne wissen, was Sie vorhaben.«

»Ach, Gott«, sagte René, »es ist nichts weiter. Sie müssen wissen, dass bei einem Essen im Hause des Ministers Saliceti die Rede auf einen Räuberhauptmann namens Il Bizzarro kam. Es wurden die abscheulichsten Geschichten über diesen Unmenschen erzählt, und die Herzogin von Lavello, die Tochter des Kriegsministers, hat sich von mir versprechen lassen, dass ich ihr seinen Kopf schicken werde. Dieses Versprechen ging mir nicht aus dem Sinn, doch erst gestern habe ich verlässliche Nachricht über den Aufenthalt dieses Mannes erhalten. Da er ein schlauer Bursche zu sein scheint, bitte ich Sie um vierzehn Tage, und dabei kann ich nicht einmal mit Bestimmtheit versprechen, ihn Ihnen nach diesen vierzehn Tagen an Händen und Füßen gefesselt zu bringen.«

»Was kann ich in dieser Zeit für Sie tun?«, fragte Reynier.

»Meiner Treu, mein General, Sie könnten die Güte haben, mir eine elegante Kiste aus Olivenholz oder aus Eichenwurzelholz schreinern zu lassen und mit den Initialen der Herzogin von Lavello zu versehen, damit wir ihr den Kopf des Don Bizzarro in einem Sarg schicken können, der ihrer würdig ist.«


Загрузка...