54 In See gehen

Acht Tage nach den soeben berichteten Ereignissen – anders gesagt gegen Ende Juli – drängten sich auf den Stadtmauern von Saint-Malo mit Blick auf das Becken im Landesinneren und mit Blick auf den Seehafen sowie auf den Felsen von Saint-Servan, die heute unter einer Straße verschwunden sind, zahlreiche Neugierige, die es nach einem Schauspiel gelüstete, das in Seehäfen jeden Tag aufs Neue geboten wird, ohne dass die Zuschauer seiner je überdrüssig würden; alle Schiffe im Hafen waren beflaggt, ebenso alle Häuser mit Hafenblick, und aus dem Becken im Landesinneren kam eine schöne Brigg von vierhundert Tonnen, geschleppt von vier Barken mit jeweils zwölf Ruderern; um sie anzuspornen, erscholl aus vielen Kehlen folgendes Seeräuberlied:


Auf Kaperfahrt zieht der Korsar

Die Losung heißt Sieg oder Tod

Gegen den Wind, Frankreich lebe hoch!


Beim Auslaufen aus Saint-Malo

Mit langen Riemen ward gepullt


Beim Auslaufen aus Saint-Malo

Mit langen Riemen ward gepullt

Gegen den Wind, und viel Glück!


Auf hoher See gebt Acht, Matrosen!

Die besten Schiffe sind die größten


Auf hoher See gebt Acht, Matrosen!

Die besten Schiffe sind die größten

Gegen den Wind, unsere Pinasse!


Unsere Pinasse läuft so geschwind

Fliegt schneller als ein fliegender Fisch

In diesem Augenblick gelangten die Barken und das Schiff, das sie schleppten, in das enge Fahrwasser, das Saint-Servan von Saint-Malo trennt, und unterhalb des Bugspriets wurde ein kunstvoll geschnitztes Skelett sichtbar, das seinen Grabstein anhob und in seinem Leichentuch dem Grab entstieg.

Das war die Revenant, die Kapitän Surcouf auf eigene Kosten hatte bauen lassen, um mit ihr die Meere zu befahren, diesen gewaltigen Schauplatz seiner Heldentaten, und im Atlantik und im Indischen Ozean sollte sie wie ein regelrechter Wiedergänger ihre Auftritte haben.

Als die auf den Felsen verstreute, auf den Mauern hockende und sich in den Fenstern drängende Volksmenge die Rudernden in den Schaluppen gewissermaßen auf Tuchfühlung vor sich sah, rief sie wie aus einem Mund: »Hoch lebe die Revenant! Hoch lebe ihre Mannschaft!«, und die Rudernden hoben ihre Riemen in die Luft, dann erhoben sie sich selbst und riefen: »Hoch lebe Surcouf! Hoch lebe Frankreich!«

Und während die Malouins sechzehn Zwölfpfünder zählten, deren Rohre aus den Stückpforten lugten, ein drehbares langes Geschütz von sechsunddreißig Pfund im vorderen Teil des Schiffs bewunderten und die Mündungen von zwei Vierundzwanzigpfündern bestaunten, die aus der Kapitänskajüte ragten, hatten die Matrosen sich wieder gesetzt und sangen weiter, während sie das Schiff bis zu seinem Platz im Hafen gegenüber von Surcoufs Haus schleppten.


Wir entern und wir kapern sie

Mir geht Paris nicht aus dem Sinn

Gegen den Wind, ihr Landratten!


Freibeuter haben mich reingelegt

Aufs Trockene gesetzt und eingelocht


Freibeuter haben mich reingelegt

Aufs Trockene gesetzt und eingelocht

Gegen den Wind! Ach und Weh!


Mit einem Schuh an einem Fuß

Bin ich an Bord zurückgekehrt


Mit einem Schuh an einem Fuß

Bin ich an Bord zurückgekehrt

Gegen den Wind! Halunkenbrut!


Die schlimmsten unter den Korsaren

Kreuzen nicht gegen Englands Fahne


Die schlimmsten unter den Korsaren

Kreuzen nicht gegen Englands Fahne

Gegen den Wind! Denn die Notare


Die Richter und die Advokaten

Das sind die blutrünstigsten Piraten!

Jetzt waren sie gegenüber der Porte de Dinan und Surcoufs Haus angekommen. In den Fenstern des Hauses sah man Surcoufs Ehefrau, sein Kind, seine Verwandten und Freunde; sie wirkten ungeduldig und nervös, denn das Schiff sollte zur Mittagsstunde ablegen. Bald würde es elf Uhr schlagen, doch von Surcoufs Mannschaft war weit und breit nichts zu sehen. Surcouf schickte seinen ersten Offizier Bléas in die Stadt, damit er herausfand, was die Männer anstellten, die sich bei Madame Leroux und in der Rue Traversière aufhielten. Bléas kam zurück und flüsterte ihm zu, wie Cäsar, der nach Spanien aufbrechen wollte und dem seine Gläubiger sich in den Weg stellten, sähen seine Leute sich von den Juden festgehalten, die ihnen auf ihre Vorschüsse Geld geliehen hatten und sie nun nicht ziehen lassen wollten, wenn sie ihre Schulden nicht beglichen. René stand in der Nähe; als er sah, dass Surcouf intervenieren wollte, bat er ihn, an seiner statt handeln zu können, um zu sehen, ob sich ein Vergleich zwischen Schuldnern und Gläubigern aushandeln ließe.

Wer noch nie ein Schiff unter solchen Umständen in See stechen sah, hat eines der sehenswertesten und merkwürdigsten Schauspiele verpasst, die man sich vorstellen kann.

Kaum haben die Matrosen im Kontor ihre Vorschüsse ausbezahlt bekommen, fallen Frauen und Gläubiger über sie her, um ihnen so viel zu entreißen, wie sie können; es muss gesagt werden, dass die Frauen dabei noch rücksichtsloser vorgehen als die Gläubiger: Die Schreie, die Tränen, das Gejammer der wehklagenden Gattinnen mischen sich in die Drohungen der Juden und übertönen sie; und mögen die Geldverleiher noch so geldgierig sein, gelingt es den Frauen doch fast immer, als Erste an ihr Geld zu kommen; zudem wissen die unseligen Raubvögel sehr wohl, dass nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch die Richter im Zweifelsfall den Frauen den Vorzug vor ihnen geben, und deshalb lassen sie es fast immer zu, wenn auch zeternd und mit großem Missvergnügen, dass die Familien zuerst zufriedengestellt werden; doch kaum ist die letzte Frau bezahlt, stoßen die Kormorane mit neuem Ingrimm wieder auf ihre Beute hernieder. Wenn nun die ersten Matrosen, mit denen die Juden zu tun haben, sich kulant zeigen und zahlen, dann ist ihr Beispiel doppelt wirksam, und die anderen lassen sich auch das Geld abnehmen, machtlos fluchend die einen, ergeben seufzend die anderen; wenn aber der erste Gläubiger nicht auf die Vernunft hören will und sich nicht mit der Hälfte des geforderten Betrags zufriedengibt (was ihm noch immer einen hübschen Profit einbringt), wenn der erste Schuldner unwillig ist, sich widerborstig zeigt und seine Gefährten aufwiegelt, bis zu guter Letzt Militär und Polizei eingreifen müssen, dann liefern sich der erboste Matrose und der unversöhnliche Gläubiger Wortgefechte, die denen homerischer Heroen in nichts nachstehen.

Und genau dies war geschehen. René sah sich mit einem wahren Aufruhr konfrontiert, und die Matrosen erkannten in René einen Verbündeten; mit dem Ruf: »Der Sekretär des Kommandanten!« und mit lautem Jauchzen begrüßten sie ihn. Ein Beutel in seiner Hand, mit Geldstücken prall gefüllt, stimmte wiederum die Gläubiger milde. René stieg auf einen Tisch und gab mit Zeichen zu verstehen, dass er sprechen wolle.

Auf der Stelle herrschte Ruhe, nein, absolute Stille, so dass man eines der Atome Descartes’ sich hätte bewegen hören können.

»Freunde«, sagte René, »der Kommandant wünscht nicht, dass beim ersten Mal, da er ein Schiff in seiner Heimatstadt ausrüstet, zwischen seinen Matrosen, woher sie auch stammen mögen, und seinen Landsleuten Streit entsteht.«

Und als er mitten unter den Köpfen, die sich ihm zuwendeten, den Kopf Saint-Jeans erblickte, jenes Seemanns, der ihm zum Dank für das Abendessen alles, was er wissen wollte, über Surcouf erzählt hatte, rief er: »Komm her, Saint-Jean!«, und dann, an Matrosen und Gläubiger gleichermaßen gerichtet: »Kennt ihr alle Saint-Jean?«

»Wir kennen ihn«, erwiderten Gläubiger und Matrosen.

»Er ist eine ehrliche Haut, oder?«

»O ja!«, riefen alle Matrosen wie aus einem Mund. »O ja! O ja!«

»Ja«, erwiderten die Juden etwas leiser und weit weniger freudig.

»Ihn will ich beauftragen, Eure Schulden zu begleichen. Er wird jedem Gläubiger fünf Prozent Zinsen bezahlen, egal, wann der Kredit eingeräumt wurde, so dass jene, die Geld für einen Monat oder zwei Wochen oder nur für eine Woche verliehen haben, Zinsen wie für ein ganzes Jahr erhalten.«

Unter den Juden wurde Gemurmel laut.

»Oh, entweder nehmen Sie an, oder Sie lassen es«, sagte René. »Hier ist das Geld« (er hob den Beutel hoch) »hier meine Tasche; wenn ich den Beutel eingesteckt habe, werden Sie ihn nie wiedersehen. Eins, zwei, drei...«

»Wir sind einverstanden!«, riefen die Juden.

»Saint-Jean, zahle die Schulden, und beeile dich; der Kommandant wird langsam ungeduldig.«

Saint-Jean war ein fähiger Buchhalter und ein schneller Rechner; nach einer Viertelstunde war alles erledigt: Der Betrag, den die Juden verlangten und der sich laut ihren Forderungen auf zweiundfünfzigtausend Francs belief, war mit zwanzigtausend Francs abgegolten, und die Juden, die unter ihren ungepflegten Schnurrbärten und über ihren spitzen Bärten lächeln mussten, gaben zu, dass sie nichts dagegen hätten, wenn all ihre Außenstände auf diese Weise eingetrieben würden.

René ließ ihnen eine Gesamtquittung ausstellen, die Saint-Jean aufsetzte, und zahlte ihnen zwanzigtausend Francs unter der Bedingung, dass die Schuldner ihre Freiheit erhielten. Die Türen wurden geöffnet, die Hindernisse aus dem Weg geräumt, und die Matrosen eilten so stürmisch und schnell wie ein Wirbelwind zur Porte de Dinan, um nicht zu spät zu kommen.

Zur Mittagszeit wollte Surcouf in See stechen, und bis dahin blieb nur noch eine Viertelstunde Zeit. Surcoufs Stirn glättete sich, als er seine Mannschaft herbeieilen sah.

»Ha, meiner Treu«, sagte er zu René, »ich weiß zwar, dass Sie es im Zweikampf mit Herkules aufnehmen können, im Pistolenschießen mit Junot, im Fechten mit Saint-Georges und im Trinken mit General Bisson, aber dass Sie in der Diplomatie ein zweiter Talleyrand sind, das wusste ich nicht; wie zum Teufel haben Sie das fertiggebracht?«

»Nun ja, ich habe für sie bezahlt«, erwiderte René gelassen.

»Sie haben für sie bezahlt?«, fragte Surcouf.

»Ja.«

»Und wie viel haben sie bezahlt?«

»Zwanzigtausend Francs, sehr günstig; sie hatten fünfzigtausend verlangt.«

»Zwanzigtausend Francs!«, wiederholte Surcouf.

»Ist es nicht üblich«, sagte René lachend, »dass der Neue zahlt, um seinen Einstand zu feiern?«

»Zweifellos«, sagte Surcouf im Selbstgespräch, »habe ich es mit dem Enkel Peters des Großen zu tun, der wie sein Vorfahre das Matrosengewerbe erlernen will.«

Und mit lauter Stimme wendete er sich an seine Mannschaft: »He! Ihr Hunde, ihr Bankrotteure, ihr denkt vielleicht, dass ihr es mir verdankt, mit heiler Haut den Händen eurer Gläubiger entronnen zu sein, aber da täuscht ihr euch. Wenn die Vorschüsse ausgezahlt sind, das weiß jeder, der mit mir gefahren ist, braucht keiner meiner Matrosen auch nur einen Sou von mir zu erwarten. Nein, euer neuer Kamerad René hat euch ausgelöst, um seinen Einstand zu feiern – zwanzigtausend Francs, ein teures Vergnügen, aber was soll man tun, wenn es ihm so gefällt; jedenfalls hoffe ich, dass ihr euch dankbar zeigen werdet, und falls er in Gefahr geraten sollte, alles tun werdet, um ihm zu Hilfe zu kommen. Und jetzt an Bord.«

Gegenüber seinen Fenstern hatte Surcouf eine Einschiffungsstelle errichten lassen, die bei Ebbe bis zum Wasserspiegel reichte; da die Flut eingesetzt hatte, waren die untersten Stufen bereits im Wasser verschwunden.

Zum Geräusch der Trommel, die sie an Bord rief, stiegen die Seeleute die Stufen hinunter und setzten mit Schaluppen, die jeweils zwölf Mann transportierten, zur Revenant über. Nach einer Stunde waren alle hundertvierzig Matrosen an Bord ihres Schiffs, und René, der als einer der Ersten an Bord gegangen war, sah sich von dankbaren Kameraden umringt. Nach den einfachen Matrosen kamen die Offiziere an Bord, wo sie von Pfeife und Trommel begrüßt wurden.

Im Handumdrehen war jedermann auf seinem Posten: der Kapitän an seiner Wachtbank, die Mastwächter in den Mastkörben, der Signalmaat neben der Kiste mit den Flaggen und Signalraketen. Dann begann der Zählappell. Die Mannschaft bestand aus insgesamt einhundertfünfundvierzig Mann, und Surcouf rechnete fest damit, sie in den ersten Häfen, in denen er einen Zwischenhalt machen würde, auf einhundertachtzig Mann zu vergrößern.

Nur Bras-d’Acier war nicht mitgekommen. Er hatte Surcouf erklärt, dass dieser keinen Fechtmeister mehr benötige, wenn er René an Bord habe.

Die Barken wurden vor das Schiff gespannt; ein Kanonenschuss und die an der Spitze des Großmasts gehisste Trikolore waren das Signal zum Auslaufen.

Da der Wind die Brigg nicht aus dem Hafen holen konnte, mussten die Ruderer sie dorthin schleppen, wo der Wind war; die Matrosen pullten, was das Zeug hielt, und sangen dazu, während Surcouf, der sich in diesen Gewässern wie in seiner Westentasche auskannte, dem Untersteuermann den Weg wies.

Als das Schiff auf der Höhe von La Roche-aux-Anglas angekommen war, wurde angehalten, und man hörte Surcouf seiner Mannschaft Befehle zurufen, die zugleich ein Abschiedsgruß an die Zuschauer zu Lande waren: »Gutes Wetter, schönes Meer, steife Brise! Ablegen und Kurs hinaus auf die offene See! Marssegel und Vorbramsegel hissen und Kurs aufs offene Meer!«

Die Segel fielen an den Masten herunter und blähten sich dann anmutig, das Schiff fuhr in die Fahrrinne der Petite Conchée, und zwei Stunden später war vom Land aus von der Revenant nichts mehr zu sehen als ein weißer Punkt, der immer kleiner wurde, bis er ganz verschwunden war.


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