110 König Joseph


Als die zwei jungen Männer am nächsten Tag ihr Mittagessen beendeten, brachte ihnen ein reitender Bote folgende Depesche des Kriegsministers:


Herr Graf,

ich erwarte Sie heute gegen drei Uhr nachmittags, um Sie seiner Majestät vorzustellen, die gestern Abend meine kühnsten Wünsche vorwegnahm, indem sie den Wusch äußerte, Sie kennenzulernen. Nach der Rückkehr aus dem Königspalast werden wir zu Abend speisen. Ich werde Sie meiner Tochter vorstellen, der Herzogin von Lavello, die Sie kennenzulernen wünscht.

Ich bitte Sie, Ihrem Freund Hauptmann Manhès, dessen Adresse mir nicht bekannt ist, die nachfolgende Einladung zu übermitteln, die Sie beide, wie ich hoffe, zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags in meinem Haus versammeln wird.

René reichte Manhès den zweiten Teil des Schreibens, woraufhin dieser erwiderte, er werde sich wie sein Freund geehrt fühlen, der Einladung des Ministers Folge zu leisten.

König Joseph, das Familienoberhaupt, der sein Erstgeburtsrecht Napoleon abgetreten hatte, weil er dessen herausragende Fähigkeiten anerkannte, war vierunddreißig Jahre alt, von sanfter und wohlwollender Miene und von ebenso friedfertigem Charakter, wie sein nächstjüngerer Bruder streitlustig war. Er war der Erste der Brüder Napoleons, denen dieser einen Thron verlieh, doch man darf nicht vergessen, dass Joseph – ob als Herrscher oder als schlichter Bürger – von allen Brüdern Napoleons immer derjenige blieb, der seinem Bruder die größte Treue und Hingabe bewies.

Es gibt kaum eine merkwürdigere Lektüre als die acht oder neun Bände der Briefe, die Napoleon und Joseph wechselten und in denen Joseph stets Sire und Eure Majestät schreibt, während Napoleon ausnahmslos mit Mein Bruder antwortet.

Viele dieser Briefe sind Ratschläge, einige sind Befehle, und es ist befremdlich zu sehen, dass Napoleon, der nie einen Fuß nach Neapel gesetzt hatte, das Königreich Neapel sowohl topographisch als auch moralisch besser zu kennen scheint als Joseph, der sich an Ort und Stelle befindet; Napoleons Ermahnungen betreffen in erster Linie Josephs allzu große Gutherzigkeit; Napoleon will kein Wanken in der Festigkeit des Königs, er will auf keinen Fall Gnade für die Banditen und ebenso wenig für jene, die sie unterstützen, ob Zivilisten oder Priester.

So kam es, dass der Marquis von Rodio, von Ferdinand und Caroline mit diesem Titel versehen, der unter Josephs Herrschaft den Partisanenkrieg fortgesetzt hatte, in Apulien bewaffnet ergriffen wurde; vor ein Kriegsgericht gebracht, behauptete er, er hätte sich als Kriegsgefangener ergeben, und wurde freigesprochen. Doch auf höheren Befehl wurde ein zweites Gericht einberufen, das ihn verurteilte. Der König war abwesend. Saliceti ließ den Marquis füsilieren.

Da Joseph bedauert hatte, dass ihm keine Möglichkeit geblieben war, Gnade walten zu lassen, schrieb ihm Napoleon anlässlich dieses Verfahrens einen langen Brief, dem wir folgende Passage entnehmen:


Wenn Sie die Neapolitaner unbedingt mit den Korsen vergleichen wollen, dann vergessen Sie nicht, dass bei der Eroberung des Niolo vierzig Rebellen an den Bäumen aufgehängt wurden und dass ein solches Schreckensregime herrschte, dass niemand sich mehr zu rühren wagte. Piacenza hatte bei meiner Rückkehr von der Grande Armée aufbegehrt, und ich hatte Junot hingeschickt, der vorzugeben versuchte, es handelte sich nicht um einen Aufstand, und mich mit französischem Geschwätz beruhigen wollte; ich befahl ihm, zwei Dörfer niederzubrennen und die Anführer des Aufstands zu erschießen, unter denen sich sechs Priester befanden. Das geschah, Ruhe kehrte ein und wurde bis heute bewahrt.

Sie sehen selbst, welchen Schrecken die Königin verbreitet; ich will Ihnen nicht raten, ihrem Beispiel zu folgen, doch es steht außer Frage, dass sie mächtig ist. Wenn Sie Tatkraft und Energie beweisen, werden weder die Kalabresen noch sonstwer auf dreißig Jahre hin aufmucken.

Ich beende meinen Brief, wie ich ihn begonnen habe. Als König von Neapel und Sizilien werden Sie drei oder vier Jahre Frieden genießen. Wenn Sie als Faulenzer herrschen wollen, wenn Sie nicht mit fester und entschlossener Hand regieren wollen, wenn Sie auf die Meinung des Volkes hören wollen, das nie weiß, was es will, wenn Sie es nicht fertigbringen, die Missstände und das althergebrachte Unrecht abzuschaffen, die Ihnen nur Steine in den Weg legen, und wenn Sie nicht Steuern erheben, die Ihnen erlauben, Franzosen, Korsen, Schweizer und Neapolitaner in Dienst zu nehmen und Schiffe auszurüsten, dann werden Sie tatenlos gewesen sein, und in vier Jahren werden Sie mir nicht etwa von Nutzen sein, sondern mir schaden, denn Sie werden mich meiner Mittel berauben. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen sage: Die Zukunft Ihres Königreichs hängt von Ihrem Auftreten nach Ihrer Rückkehr aus Kalabrien ab. Geben Sie keinen Pardon. Lassen Sie mindestens sechshundert Aufständische über die Klinge springen. Sie haben wesentlich mehr meiner Soldaten ermordet. Lassen Sie die Häuser von dreißig Großbauern abbrennen und ihren Besitz an die Armee verteilen. Lassen Sie alle Dorfbewohner entwaffnen, und geben Sie fünf oder sechs jener größeren Dörfer zum Plündern frei, die besonders unbotmäßig waren.

Wenn Kalabrien sich aufgelehnt hat, was verbietet Ihnen dann, die Hälfte des Besitzes dieses Landes zu nehmen und an die Armee zu verteilen? Es wäre eine Einnahmequelle, die Ihnen einerseits von großem Nutzen wäre und andererseits als abschreckendes Beispiel für die Zukunft dienen würde. Mit Weichheit und Nachgiebigkeit wurde noch kein Staat verändert und reformiert; so etwas erfordert außerordentliche Maßnahmen und Tatkraft. Da die Kalabresen meine Soldaten gemeuchelt haben, werde ich persönlich das Dekret erlassen, mit dem ich zugunsten meiner Armee die Hälfte der Erträge ihres Landes beschlagnahme; wenn Sie sich jedoch partout in den Kopf setzen wollen, dass sie sich nicht aufgelehnt hätten und Ihnen nie andere als freundschaftliche Gefühle entgegengebracht hätten, dann wird Ihre Güte nichts als Schwäche sein und Frankreich Schaden zufügen.

Sie sind zu gutmütig!

In der Tat war Joseph, wie bereits ausgeführt, von großer Güte; und er war keine vier Jahre lang König von Neapel, sondern nur zwei Jahre.


Kaum war Saliceti dem König angemeldet worden, wurde er mitsamt seinem Schützling vorgelassen.

Manhès, der seinem Reisegefährten nichts davon gesagt hatte, dass er bei der Audienz anwesend sein werde, stand neben König Joseph.

»Monsieur«, sagte Joseph zu Graf Leo, nachdem er die Komplimente Salicetis und Leos ehrerbietige Verbeugung erwidert hatte, »gestern erfuhr ich durch Ihren Reisegefährten Manhès, Ordonnanzoffizier bei meinem Schwager Murat, wie Sie mit den sechs Briganten verfahren sind, die Sie in den Pontinischen Sümpfen überfallen wollten. Zu dieser Tat kann ich Ihnen nur gratulieren; doch abends erfuhr ich von Saliceti, dem Sie offenbar durch einen engen Freund empfohlen wurden, dass Sie hergekommen sind, um in der Armee zu dienen. Für diesen Entschluss schulde ich Ihnen mehr als Glückwünsche, ich schulde Ihnen Dankesworte.«

»Sire«, erwiderte Graf Leo, »seine Exzellenz der Minister hat Ihnen sicherlich gesagt, dass es mir nicht um eine militärische Karriere zu tun ist; was Sie mir geben, genügt mir, sei es noch so gering. Ob Sie mich zum einfachen Soldaten oder zum Offizier machen, sobald ich das Gewehr oder den Degen in der Hand habe, wird es an mir sein, mich Ihrer Gunst würdig zu erweisen, und ich werde mein Bestes tun.«

»Monsieur«, ergriff der König das Wort, »Saliceti sagte mir, Sie hätten in der Marine gedient.«

»Ich war Korsar, Sire, im Dienst eines der berühmtesten Korsaren unseres Landes, des Malouins Surcouf.«

»Ich habe auch gehört, Sie seien bei Trafalgar zugegen gewesen. Wie kamen Sie dorthin, wenn Sie an Bord eines Kaperschiffs dienten?«

»Da ich wusste, dass eine große Seeschlacht bevorstand, habe ich meine Dienste Kapitän Lucas, dem Kommandanten, angeboten, dem General Decaen, der Gouverneur der Île de France, mich ebenso warm empfohlen hat wie mein verehrter Patron Surcouf, woraufhin Kommandant Lucas mir an Bord seiner Redoutable die Stelle des dritten Leutnants geben konnte, die gerade nicht besetzt war.«

»Und an Bord der Redoutable haben Sie laut Saliceti nicht nur wie ein Löwe gekämpft, sondern es gilt sogar als äußerst wahrscheinlich, dass Sie der Schütze sind, dessen Kugel Nelson getötet hat.«

»Damit habe ich mich nie gebrüstet, Majestät: zum einen, weil ich es nicht mit Gewissheit sagen könnte, und zum anderen, weil Nelson ein so großer Feldherr war, dass ich mich fast schämen müsste, mich seines Todes zu rühmen.«

»Und haben Sie Kapitän Lucas nicht nach Ihrer Rückkehr aus dem englischen Gefängnis wiedergesehen?«

»So ist, Majestät.«

»Hat Kommandant Lucas Sie nicht meinem Bruder gegenüber erwähnt?«

»Diese Ehre hat er mir erwiesen.«

»Und mein Bruder hat Ihnen nicht nur keinerlei Belohnung zuerkannt, sondern Sie nicht einmal in Ihrem Rang bestätigt?«

»Sire, wollte ich darauf antworten, müsste ich entweder mich oder Ihren Bruder kompromittieren. Wenn Sie zu befehlen geruhen, dass ich mich selbst kompromittiere …«

»Nein! Genug«, sagte König Joseph und berührte lächelnd Graf Leos Schulter, »all diese Dinge werden Sie mit Saliceti besprechen, den ich zum Kriegsminister ernannt habe; in dieser Eigenschaft wird er alles für Sie tun, was Sie wünschen.« Und mit einem Nicken zum Abschied: »Wenn Sie mit ihm nicht zufrieden sind, kommen Sie zu mir und sagen Sie es.«

»Ich beklage mich nie«, erwiderte René.

»Apropos«, sagte Joseph und hielt ihn zurück, denn René wollte den Raum verlassen, nachdem die Audienz beendet war, »ich weiß, dass Sie ein großer Jäger sind; mit Jagdpartien wie in Indien, wo es Tiger und Panther zu erlegen gibt, kann ich nicht aufwarten, aber in den Wäldern von Asproni gibt es viele Wildschweine, und wenn Ihnen ein so bescheidenes Wild nicht zu harmlos ist, wird Saliceti Ihnen so viele Jagdausflüge ermöglichen, wie Sie nur wünschen können.«

René verneigte sich zum Dank und verließ den Raum.

Manhès blieb zurück, bedeutete seinem Freund aber mit dem Blick und mit einer Handbewegung, dass er ihm folgen werde.

Manhès blieb, weil er erfahren wollte, welchen Eindruck sein Kamerad auf König Joseph gemacht hatte; seine fröhliche Miene, als er sich zu René gesellte, verriet, dass der Eindruck ganz hervorragend war.

In der Tat hatte die Tür sich kaum hinter Manhès geschlossen, als König Joseph das kleine Heft aus der Tasche zog, in dem er die Dinge notierte, die er nicht vergessen wollte, und schrieb mit Bleistift hinein: »Daran denken, persönlich Reynier oder Verdier den jungen Mann zu empfehlen, der mir ein Muster an Tapferkeit und Edelmut zu sein scheint.«


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