84 Besuch beim Gouverneur

Für die ganze Île de France bedeutete die Rückkehr Surcoufs und Renés mit so gewaltigen Prisen einen Freudentag.

Unter allen französischen Kolonien ist die Île de France die dem Mutterland vielleicht am engsten verhaftete. Ein französischer Dichter – er dichtet in Prosa, doch das tat auch Chateaubriand – hatte ihr mit seinem Roman Paul und Virginie einen poetischen und literarischen Firnis verliehen, der sie doppelt zur Tochter der Metropole Paris machte. Ihre wackeren, abenteuerlustigen, einfallsreichen und liebevollen Siedler waren voller Bewunderung für die großen Ereignisse, die wir in Frankreich erlebt, und die großen Kriege, die wir geführt hatten. Sie liebten uns nicht nur des Nutzens wegen, den ihnen Schiffe und Waren brachten, die wir bei ihnen verkauften, sondern auch, weil es ihre Wesensart ist, alles Großartige zu lieben und zu bewundern.

Seit nunmehr sechzig Jahren heißt die Île de France Mauritius und gehört zu England. Seit sechzig Jahren sind drei Generationen vergangen, und noch heute ist die Île de France in ihrem Herzen ebenso französisch, wie sie es war, als das Lilienbanner oder die Trikolore über Port Louis und Port Bourbon flatterten.

Nun denn, heute, da die Namen all jener bretonischen und normannischen Helden fast ganz aus unserem Gedächtnis geschwunden sind und wir uns nur undeutlich an einen Surcouf, einen Cousinerie, einen L’Hermite, einen Hénon oder Le Gonidec erinnern, gibt es in ganz Port Louis kein einziges Kind, das nicht ihre Name auswendig aufsagen und ihre Taten berichten könnte – Taten, neben denen die der Flibustiere im Golf von Mexiko verblassen müssen. Und im Unglück fanden unsere Seeleute auf der Île de France ebenso warmherzige Aufnahme wie im Glück. Wie oft räumte ihnen nicht auf ihre bloße Unterschrift der bekannte Bankier Monsieur Rondeau die Möglichkeit ein, ihren Verlust wettzumachen und ihre Schiffe für zweihunderttausend oder sogar zweihundertfünfzigtausend Francs ausbessern zu lassen?

Zweifellos waren unsere wackeren Seeleute untereinander von größter Solidarität, und wenn einer seine Verpflichtungen nicht erfüllen konnte, kamen ihm zehn andere zu Hilfe.

René, der den Seemannsstand so eingehend erkundet hatte, der jeder Gefahr die Stirn bot und der wusste, welch ausgezeichneten Rat für seine Laufbahn Monsieur Fouché ihm gegeben hatte, wusste auch, dass er mit dem höchsten Lob seiner Vorgesetzten zum Leutnant auf einem Kriegsschiff der kaiserlichen Marine ernannt worden wäre, wenn er nur die Hälfte dessen, was er als erster Offizier bei Surcouf oder als Kapitän seiner eigenen kleinen Slup vollbracht hatte, als erster Offizier an Bord eines Schiffs der französischen Kriegsmarine geleistet hätte.

Doch was er geleistet hatte, hatte er vor den Augen eines Mannes getan, dessen Herz nicht einmal der Schatten eines Neidgefühls streifte. Surcouf, dem die Leitung einer Fregatte angeboten worden war, kannten und schätzten alle Offiziere der französischen Marine. Eine Empfehlung aus seinem Mund konnte René den Weg auf jedes Schiff ebnen; René musste lediglich nach Europa zurückkehren und unter einem der herausragenden Kapitäne Dienst tun, die Schiffe wie die Tonnant, die Redoutable, Bucentaure, Fougueux, L’Achille oder die Téméraire befehligten. Dafür würde er eine Empfehlung Surcoufs benötigen, die dieser ihm sicherlich nicht verweigern würde.

Surcouf war mit General Decaen, dem Gouverneur der Île de France, bekannt; er besuchte ihn und bat ihn um eine Audienz am nächsten Tag für einen seiner tapfersten Offiziere, der nach Frankreich zurückkehren wollte, um an den Kämpfen teilzunehmen, die sich auf die Meere Spaniens und des Nordens verlagerten. Er erzählte dem Gouverneur mit aller Begeisterung, die ihm zu Gebote stand, wie René sich beim Kapern der Standard geschlagen hatte und dass er seinen Anteil an der Prise geopfert hatte, um zwei junge Französinnen, deren Vater an Bord ebendieses Schiffes umgekommen war, nach Birma zu bringen.

Birma, in verschiedene Königreiche unterteilt, war nicht nur in Europa so gut wie unbekannt, sondern auch auf der Île de France, obwohl es sich lohnte, dieses Land zu kennen, das fast als Einziges dem Druck Englands widerstanden hatte.

General Decaen erwiderte, er werde sich glücklich schätzen, den tapferen Mann zu empfangen, den Surcouf ihm empfahl.

Am nächsten Tag fand sich René zur vereinbarten Stunde bei dem Gouverneur ein; er nannte dem Türsteher seinen Namen, doch dieser zögerte, ihn einzulassen. Das Zögern entging René nicht, und er fragte den Türsteher nach dem Grund.

»Sind Sie wirklich der erste Offizier Monsieur Surcoufs und der Kapitän der Runner of New York

»Der bin ich allerdings.«

Das Zögern des guten Mannes war umso begreiflicher, als die Uniform bei Korsaren nicht obligatorisch war und René sich nach der Mode der Zeit gekleidet hatte, mit jener angeborenen Eleganz, die er nicht ablegen konnte, selbst wenn er sich bemüht hätte, die Klasse zu verbergen, in der er geboren und aufgewachsen war. Da er sich nicht weiter Gedanken um sein Auftreten auf der Île de France gemacht hatte, war er so gekleidet, als wollte er die Gräfin von Sourdis oder Madame Récamier besuchen.

General Decaen, dem ein Monsieur René, erster Offizier bei Surcouf, angekündigt wurde, erwartete einen Seebären, einen vierschrötigen Kerl mit borstigem Haupthaar, ungepflegtem Kinn- und Backenbart und in einer Aufmachung, die eher malerisch als elegant war. Stattdessen sah er einen schönen jungen Mann mit blassem Teint, sanftem Blick, lockigem Haar, tadellosen Handschuhen und mit dem Anflug eines Schnurrbarts.

General Decaen hatte sich erhoben, als Monsieur René angekündigt wurde, doch als er ihn erblickte, blieb er sprachlos stehen.

René hingegen trat mit der Ungezwungenheit eines Mannes von Welt auf ihn zu, der es gewohnt ist, in den vornehmsten Salons zu verkehren, und begrüßte den General mit vollendeter Anmut.

»Monsieur«, sagte der General voller Erstaunen, »sind Sie der Mann, von dem unser wackerer Korsar Surcouf mir gestern erzählt hat?«

»Du lieber Himmel«, sagte René, »General, Sie machen mir Angst. Wenn er Ihnen etwas anderes vorgegaukelt hat als einen schlichten Burschen von vier- bis fünfundzwanzig Jahren, der in seinem Gewerbe nicht sonderlich kundig ist, da er es erst seit einem Jahr ausübt, ziehe ich mich jederzeit gerne zurück und räume ein, dass ich das Interesse nicht verdiene, das mir auf seine Empfehlung hin entgegenzubringen Sie die Güte hatten.«

»Nein, Monsieur«, erwiderte der General, »meine Verwunderung hat nichts Kränkendes, sondern ist die wortlose Anerkennung, die ich Ihnen als Mann und als Weltmann zolle. Bisher war ich des Glaubens, Korsar könne nur sein, wer mit jedem Wort einen Fluch äußert, seinen Hut schief trägt und mit gespreizten Beinen geht, als wäre er keinen festen Boden unter den Füßen gewohnt; verzeihen Sie mir, dass ich mich so geirrt habe, und sagen Sie mir, welchem Glücksfall ich die Ehre Ihres Besuchs verdanke.«

»General«, sagte René, »Sie können mir einen großen Gefallen erweisen; Sie können mir zu einem ehrenvollen und geziemenden Tod verhelfen.«

»Sie wollen sterben, Monsieur«, sagte der General, der ein Lächeln unterdrücken musste, »in Ihrem Alter, mit Ihrem Vermögen, Ihrer Eleganz, mit den Erfolgen, die Sie in der vornehmen Welt zweifellos bereits hatten und noch haben werden! Sie belieben zu scherzen...«

»Fragen Sie Surcouf, ob ich im Angesicht des Gegners nicht mit allen Kräften den Tod suche.«

»Monsieur, Surcouf hat mir die unglaublichsten Dinge von Ihrem Mut, Ihrer Gewandtheit und Ihrer Kraft berichtet; und deshalb bezweifelte ich, als ich Sie sah, dass Sie derjenige seien, von dem man mir erzählt hatte, denn Surcouf hat mir nicht nur von Ihrem Mut angesichts menschlicher Gegner berichtet, sondern von einem noch weit selteneren Mut, dem angesichts wilder Tiere. Wenn man ihm Glauben schenken will, haben Sie in Ihren jungen Jahren Taten vollbracht, die den zwölf Taten des Herakles in nichts nachstehen.«

»Mein Verdienst ist denkbar gering, General; wer den Tod nicht nur nicht fürchtet, sondern es als größtes Glück sähe, ihn zu finden, ist so gut wie unbesiegbar, sieht man von einer unberechenbaren Kugel ab. Zudem hatte ich nur mit Tigern zu tun, und der Tiger ist zwar grausam, aber feige. Jedes Mal wenn ich mich einer dieser Raubkatzen gegenübersah, habe ich sie mit dem Blick fixiert, bis sie den Blick senken musste. Ob Mensch oder Tier, wer den Blick senken muss, ist der Besiegte.«

»Wahrhaftig, Monsieur«, sagte der General, »ich bin entzückt, Sie kennenzulernen, und wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mit mir zu speisen, werde ich Sie mit Madame Decaen bekannt machen und Sie bitten, meinem Sohn die Hand zu geben und ihm einige Ihrer Jagdabenteuer zu erzählen.«

»Ich nehme Ihre Einladung mit Vergnügen an, General; einem armen Teufel von Matrosen widerfährt selten genug die Ehre, mit einem Mann Ihres Ranges zu tun zu haben.«

»Armer Teufel von einem Matrosen«, wiederholte der General lachend, »der als Prisenanteil den Betrag von fünfhunderttausend Francs erhält! Erlauben Sie mir zu sagen, dass Sie zumindest in finanzieller Hinsicht alles andere als ein armer Teufel sind.«

»Das erinnert mich an etwas, was ich Ihnen zu sagen vergaß, General, dass ich nämlich das Gewerbe des Korsaren nur als Liebhaberei ausübe und deshalb meine Prisenanteile auf wohltätige Zwecke zu verwenden pflege. Von meinen fünhunderttausend Francs überlasse ich meinen Kameraden vierhunderttausend; gestatten Sie mir, Ihnen die verbliebenen hunderttausend zu überantworten, damit Sie sie an notleidende Franzosen verteilen, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, oder an verarmte Seemannswitwen. Gestatten Sie es?«

Und bevor der General Zeit gehabt hätte zu antworten, beugte René sich über einen Tisch, ergriff ein Blatt Papier und schrieb mit überaus aristokratischer Handschrift folgende Notiz von ziemlich aristokratischem Geist:


Monsieur Rondeau, Bankier

Rue du Gouvernement in Port Louis


Monsieur, haben Sie die Güte, auf bloßes Vorlegen dieser Zahlungsanweisung Monsieur General Decaen, Gouverneur der Île de France, den Betrag von hunderttausend Francs auszuzahlen. Er weiß, wozu das Geld zu verwenden ist.

Port Louis, 23. Juni 1805.

General Decaen nahm den Zettel und las ihn.

»Aber bevor ich von diesem Schreiben Gebrauch mache, sollte ich den Verkauf Ihrer Prise abwarten.«

»Das ist unnötig, General«, erwiderte René gelassen, »ich habe bei Monsieur Rondeau Kredit für einen Betrag in dreifacher Höhe dessen, was ich ihn an Sie auszuzahlen bitte.«

»Dann seien Sie so gut, ihn vorher benachrichtigen zu lassen.«

»Das ist nicht nötig; die Auszahlung erfolgt auf bloße Vorlage des Schreibens, und Monsieur Rondeau wurde von meinem Pariser Bankier Monsieur Perrégaux ein Doppel meiner Unterschrift übermittelt.«

»Haben Sie seit Ihrer Rückkehr Monsieur Rondeau gesehen oder ihm ihre Ankunft mitteilen lassen?«

»Ich habe nicht die Ehre, ihn zu kennen, General.«

»Würden Sie ihn gern kennenlernen?«

»Mit größtem Vergnügen, General; er gilt als äußerst liebenswürdiger Mann.«

»Das ist er. Würden Sie gerne heute mit ihm zusammen bei mir speisen?«

»General, wenn er zu Ihren Freunden zählt, wüsste ich nicht, was dagegen spräche.«

In diesem Augenblick trat Madame Decaen ein, und René erhob sich.

»Madame«, sagte der General, »darf ich Ihnen Monsieur René vorstellen, den ersten Offizier Kapitän Surcoufs, der so nobel gekämpft und dabei wahrscheinlich unserem Freund aus Saint-Malo die Freiheit und das Leben gerettet hat? Er erweist uns die Ehre, heute mit seinem Bankier Monsieur Rondeau bei uns zu speisen, auf den er mir einen Wechsel über hunderttausend Francs ausgestellt hat, die ich auf Almosen für verarmte Franzosen und Seemannswitwen verwenden soll. Dieser frommen Aufgabe werden Sie nachkommen, Madame; danken Sie Monsieur René und lassen Sie ihn Ihre Hand küssen.«

Madame Decaen reichte René voller Verblüffung die Hand; René neigte sich über die Hand, berührte sie mit der Fingerspitze und gleichzeitig mit den Lippen, trat einen Schritt zurück und verneigte sich zugleich zum Abschied.

»Aber Monsieur«, sagte der General, »Sie vergessen, dass Sie mich um etwas bitten wollten!«

»Oh«, sagte René, »nun, da ich die Ehre haben werde, Sie später am Tag wiederzusehen, gestatten Sie mir, Sie einstweilen nicht länger aufzuhalten.«

Er verneigte sich vor dem General, der vor Verblüffung sprachlos war, vor Madame Decaen, die noch verblüffter war als ihr Ehemann, und ging, während die beiden einander ratlos anblickten und in den Augen des anderen nach der Erklärung dieses befremdlichen Rätsels suchten.

General Decaen folgte René auf dem Fuß zu Surcouf, den er einlud, mit seinem ersten Offizier und dem Bankier Monsieur Rondeau bei ihm zu speisen.

Der General hatte vergessen, René die Essenszeit zu nennen: zwischen halb vier und vier Uhr nachmittags.

Kaum war General Decaen gegangen, suchte Surcouf René in seiner Kabine auf. »Was ist geschehen, lieber Freund?«, fragte er ihn. »Der Gouverneur hat mich soeben mit dir und Rondeau zum Essen eingeladen.«

»Nichts weiter ist geschehen, als dass der Gouverneur ein Mann von ausgesuchten Umgangsformen ist und weiß, welche Freude er mir damit macht, dass er dich einlädt.«


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