77 Die Nächte Indiens

Von diesem Augenblick an war das Leben für Jane nur mehr eine Abfolge widersprüchlicher Sinneswahrnehmungen. War René in ihrer Nähe, lebte sie mit allen Fibern ihres Wesens; war er fern, verließ sie alle Kraft, bis ihr Herz kaum noch zu schlagen schien.

René, der sie mit aller Zärtlichkeit des Freundes und Verwandten liebte, machte sich keine Illusionen über den Ernst ihres Zustands. Der junge Mann voll unwiderstehlicher Anziehungskraft war keineswegs unempfänglich für den betörenden Einfluss eines schönen und leidenschaftlich liebenden jungen Mädchens, dessen Blick, dessen Händedruck und dessen Seufzer sein armes Leben in die Pulsadern des geliebten Mannes flößten. Sich mit sechsundzwanzig Jahren der Liebe zu verweigern, in der Blüte des Lebens und der Jugend, wenn Himmel, Erde, Blumen, Luft, Windhauch und die berauschenden Reize des Orients einem zurufen: »Liebe!«, das heißt, allein gegen alle Kräfte der Natur anzukämpfen.

Man könnte es so ausdrücken, dass René sich einer Prüfung unterzog, die er unmöglich bestehen konnte und die er dennoch immer wieder siegreich bestand.

Im ersten Stock des Hauses gab es ein großes mittleres Zimmer, von dem die Schlafzimmer abzweigten; dieses Zimmer hatte einen Balkon nach Westen und einen nach Osten; und auf einer der beiden Veranden verbrachten Jane und René den schönsten Teil ihrer Nächte. Jane liebte Blumen anstelle von Perlen, Edelsteinen und Diamanten, die unbeachtet in ihren Schatullen lagen, und sie flocht sich Halsketten aus einer lieblichen und bezaubernden Blume namens mhogry, ohne die Zaubermacht ihres Dufts zu ahnen oder gar absichtsvoll einzusetzen. Diese Blume ähnelt im Aussehen sowohl dem Jasmin als auch dem Flieder und im Duft der Tuberose und dem Pfeifenstrauch; ihr Blütenkelch, weiß, rosa oder gelb, sitzt auf einer hohen Blütenkrone, durch die ein Faden gezogen wird, und dieser Blütenschmuck hüllt seine Trägerin in ein köstliches und erregendes Parfum.

Die Maurinnen Algiers und der afrikanischen Küste können mit ihren Kronen und Gürteln aus Orangenblüten eine Ahnung von diesem duftenden Schmuck vermitteln.

Die Nächte Indiens sind zu bestimmten Zeiten prachtvoll und zauberhaft; Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sind von atemberaubender Schönheit: Der Himmel durchläuft alle Färbungen, wie sie der kundigste Feuerwerker nicht zu ersinnen vermöchte. An schönen Frühlings- und Herbsttagen, wenn man von diesen Jahreszeiten sprechen will, die weder sichtbar noch spürbar sind, gleicht das Aufgehen des Vollmonds einem Sonnenaufgang an unseren farblosen westlichen Tagen. Ist die Sonne aus Feuer, ist der Mond aus Gold; sein Umfang ist riesig; wenn er am Scheitelpunkt steht, kann man in seinem Schein so bequem lesen, schreiben oder jagen wie am helllichten Tag. Die Herrlichkeit der indischen Nächte liegt vor allem in ihrem Abwechslungsreichtum: Die einen sind so finster, dass man keine zwei Schritte weit sehen kann, die anderen unterscheiden sich fast nicht vom Tag und nur durch ihren bestirnten Himmel und eine unendliche Vielfalt an bei uns unbekannten Sternbildern, die den Himmel bedecken. Die Himmelskörper wirken in diesen Nächten näher, zahlreicher, strahlender als in unserer Hemisphäre, und der Mond überstrahlt ihr Licht nicht etwa, sondern scheint es durch sein Leuchten noch zu verstärken.

Andere Nächte – wobei ich zögere, von Nächten zu sprechen, da dieses Wort dem Phänomen, das es bezeichnen soll, so wenig gerecht wird -, sind wahre Polarnächte, die das ganze Himmelsgewölbe in Brand setzen: Kaum sind hinter den spärlichen Wolken, die über dem Azur des Himmels ziehen, die purpurnen Strahlen der untergehenden Sonne erloschen, kaum ist die Dämmerung vergangen wie im Theater der Vorhang zwischen zwei Bühnenbildern, steigt vom Boden eine milchige Helligkeit auf, erfüllt die Landschaft von Horizont zu Horizont und erzeugt jene schönen weißen Nächte ohne erkennbare Lichtquelle, die der große russische Dichter Puschkin besungen hat. Naht das Tageslicht? Bricht die Nacht herein? Niemand vermöchte es zu sagen: Die Körper werfen keine Schatten, die Lichtquelle, die diese eigenartige Helligkeit erzeugt, ist nicht zu erkennen, ein unbekanntes Fluidum umwallt den Betrachter, die Phantasie schwingt sich auf bis zu den höchsten Gewölben des Firmaments, das Herz fühlt sich von göttlicher Zärtlichkeit durchdrungen, und die Seele verspürt jene Unendlichkeitsanwandlungen, die den Glauben an die Existenz des Glücks wecken.

Unterdessen bewegen sich die Zweige und verströmen süße Düfte, leises Rauschen regt sich in den höchsten Baumwipfeln wie im bescheidensten Rasenflor, die Blüten überlassen ihr Parfum dem Windhauch, und dieser bringt in glühenden Schwaden den Wohlgeruch Millionen verschiedener Blumen mit, den Weihrauch, den die Natur dem Altar jenes universellen Gottes darbringt, der viele Namen, aber nur ein Wesen hat.

Die zwei jungen Leute saßen nahe nebeneinander; Janes Hand lag in Renés Hand; bisweilen verharrten sie stundenlang so, ohne zu sprechen; Jane berauschte sich, René träumte.

»René«, sagte Jane, den Blick zum Himmel gerichtet und in wehmütiges Sinnen versunken, »ich bin glücklich. Warum kann Gott mir dieses Glück nicht gewähren? Es würde mir genügen.«

»Und genau darin, Jane«, erwiderte René, »besteht unsere Schwäche als Menschen, als armselige niedrigere Wesen: Anstelle eines Gottes der Welten, der die universelle Harmonie durch das Gleichgewicht der Himmelskörper bewirkt, haben wir uns einen Gott nach unserem Bild geschaffen, einen persönlichen Gott, von dem jedermann Rechenschaft verlangt, nicht über die großen atmosphärischen Katastrophen, sondern über unsere kleinen privaten Missgeschicke. Wir beten zu Gott, zu einem Gott, den unser menschlicher Geist nicht fassen kann, den man mit menschlichem Maß nicht messen kann, der nirgends sichtbar ist und dennoch, wenn es ihn gibt, überall weilt; wir beten zu ihm, wie unsere Vorfahren zu ihrem Hausgott beteten, einem ellenlangen Figürchen, das sie immer vor Augen und zur Hand hatten, wie der Inder zu seinem Götzen betet und der Neger zu seinem Talisman; wir fragen ihn, je nachdem ob wir erfreut oder bekümmert sind: Warum hast du dies getan? Warum hast du nicht das getan? Unser Gott antwortet nicht, er ist uns zu fern, und unsere kleinen Kümmernisse kümmern ihn nicht. Und dann behandeln wir ihn ungerecht, wir werfen ihm die Missgeschicke vor, die uns widerfahren, als hätte er sie über uns gebracht, und als wären wir es nicht zufrieden, bloß unglücklich zu sein, handeln wir gottlos und gotteslästerlich.

Sie, meine liebe Jane, wollen von Gott wissen, warum er uns nicht so nebeneinander belässt, wie wir jetzt sitzen, und Sie bedenken nicht, dass Sie die Zeit mit der Ewigkeit verwechseln. Wir sind armselige Atome, mitgerissen von den Umstürzen einer Nation, zermalmt zwischen einer endenden und einer beginnenden Welt, mitgerissen von einem Königtum, das sich zugrunde richtet, und einem Reich, das sich erhebt. Fragen Sie Gott, warum Ludwig XIV. mit seinen Kriegen Frankreich die Männer geraubt hat, warum er das Staatsvermögen mit seinen prunkvollen Launen aus Marmor und Bronze ruiniert hat. Fragen Sie ihn, warum er eine katastrophale Politik betrieben hat, um am Ende einen Ausspruch zu tun, der, als er ihn tat, schon nicht mehr zutraf: ›Es gibt keine Pyrenäen mehr.‹ Fragen Sie ihn, warum er unter dem Einfluss der Launen einer Frau und unter der Knute eines Priesters das Edikt von Nantes widerrufen und Holland und Deutschland reich gemacht hat, indem er Frankreich ruinierte. Fragen Sie ihn, warum Ludwig XV. das verhängnisvolle Werk seines Großvaters fortgesetzt hat und eine Herzogin Châteauroux, eine Marquise d’Étioles, eine Gräfin du Barry geschaffen hat. Fragen Sie ihn, warum er gegen jede geschichtliche Vernunft dem Rat eines bestochenen Ministers folgte und es einer österreichischen Prinzessin ermöglicht hat, den französischen Thron zu besteigen, als hätte er vergessen, dass eine Allianz mit Österreich dem Lilienbanner noch nie Glück gebracht hat. Fragen Sie ihn, warum er Ludwig XVI. statt mit königlichen Eigenschaften mit der biederen Gesinnung eines braven Bürgers bedacht hat, aber ohne die Achtung vor dem eigenen Wort, ohne die Festigkeit des Familienvaters; fragen Sie ihn, warum er zugelassen hat, dass ein König einen Eid schwört, den er nicht zu halten gedenkt, warum er zugelassen hat, dass dieser König sich im Ausland Unterstützung gegen seine Untertanen suchte, und warum er einen erhabenen Kopf auf das Schafott gebracht hat, das für gewöhnliche Verbrecher bestimmt ist.

Denn dort, meine arme Jane, finden Sie den Beginn unserer Geschichte. Dort erfahren Sie, warum ich nicht bei Ihrer Familie bleiben konnte, in der ich doch einen Vater und zwei Schwestern gefunden hatte. Dort erfahren Sie, warum mein Vater auf dem Schafott starb, das noch vom Blut des Königs gerötet war, warum mein ältester Bruder füsiliert wurde, warum mein zweitältester Bruder guillotiniert wurde, warum ich, als Nächster an der Reihe, ein gegebenes Versprechen zu halten, ohne Begeisterung und ohne Überzeugung einem Weg gefolgt bin, der mich in ebenjenem Augenblick, als ich des Glücks teilhaftig zu werden wähnte, all meinen Hoffnungen entriss und für drei Jahre in das Temple-Gefängnis verbannte, um mich danach der geheuchelten Milde eines Mannes auszuliefern, der mein Leben dem Unglück überantwortete, indem er mich begnadigte. Wenn Gott Ihnen antwortete und wenn er die Frage beantwortete, warum er Ihnen nicht erlaubt, so zu leben, wie es Ihnen genügen würde, dann könnte er sagen: ›Bedauernswertes Kind, mit den unendlich geringfügigen Ereignissen Ihrer beider Leben, die Sie zufällig zusammengebracht haben und ebenso zufällig trennen, habe ich nichts zu schaffen.‹«

»Aber glauben Sie denn nicht an Gott, René?«, rief Jane entsetzt.

»Gewiss doch, Jane, aber ich glaube an einen Gott, der die Welten erschafft, der ihnen ihren Weg im Äther weist und aus ebendiesem Grund keine Zeit hat, sich mit Unglück oder Wohlergehen zweier armseliger Atome zu befassen, die auf der Oberfläche unseres Globus dahinkriechen. Jane, meine arme Freundin, ich habe drei Jahre damit zugebracht, all diese Rätsel zu ergründen; ich bin auf der einen Seite des Lebens in diese unergründlichen Geheimnisse eingetaucht und auf der anderen hinausgelangt, ohne erfahren zu haben, wie und warum wir leben, wie und warum wir sterben, und ich dachte mir, dass Gott ein Wort ist, das ich benutze, um zu bezeichnen, was ich suche; das wahre Wort wird mir einst der Tod sagen, wenn er nicht noch stummer ist als das Leben.«

»O René«, flüsterte Jane, die ihren Kopf auf die Schulter des jungen Mannes sinken ließ, »diese Philosophie ist zu schwer für meinen schwachen Verstand; ich glaube lieber, das ist einfacher und weniger hoffnungslos.«


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