66 Pegu

Als der Gewehrschuss ertönte, eilten alle an Deck, denn man rechnete mit einem abermaligen Angriff malaiischer Piraten. Das Gute an vergangenen Schrecknissen ist die Vorsicht, die sie einen für die Zukunft lehren.

Kernoch, der sich kurz aufs Ohr gelegt hatte, war als einer der Ersten an Deck und fand den Untersteuermann und den Panther nebeneinander vor, beide reglos und totengleich.

Als Erstes kümmerte man sich um den Untersteuermann, denn es stand zu befürchten, dass der Panther ihn mit einem Prankenhieb verletzt hatte, doch er war unversehrt, während der Panther durch Renés zweiten Schuss auf der Stelle getötet worden war.

Der Schiffsmetzger enthäutete den Panther mit größter Sorgfalt. Das Fell war für Hélène bestimmt, doch Jane bettelte sie so flehend an, dass sie es ihr überließ.

Das Schiff hatte noch keinen Halt eingelegt, und da der Wind weiterhin günstig war, segelte man weiter langsam flussaufwärts.

Die zwei Schwestern gingen zitternd in ihre Kajüte zurück; ihre Begeisterung für das herrliche Land, in dem sie leben würden, hatte sich merklich gedämpft. René blieb bis um drei Uhr morgens bei ihnen; jeden Augenblick glaubten sie hinter ihrem Fenster die furchterregende Fratze einer blutrünstigen wilden Bestie zu sehen.

Die restliche Nacht verbrachten sie zitternd und zagend und ständig neuer Schrecknisse gewärtig. Sobald es hell wurde, kehrten sie an Deck zurück, wo sie ihren Beschützer anzutreffen hofften.

Sie hatten sich nicht getäuscht; sobald René sie sah, rief er: »Kommen Sie, kommen Sie! Ich wollte Sie schon wecken lassen, damit Ihnen der unvergleichliche Anblick dieser zwei Pagoden im Sonnenaufgang nicht entgeht. Die nähere Pagode ist die von Dagoung, und man erkennt sie an ihrer goldenen Spitze und ihrem vergoldeten Schirm; wir müssen nachts ganz nahe an ihr vorbeigekommen sein.«

Die zwei Schwestern betrachteten die Pagoden voller Bewunderung; besonders malerisch war die Pagode von Dagoung anzusehen, welche die umliegende Gegend beherrscht, denn sie ist auf einer Terrasse auf einem Berggipfel errichtet. Zu dieser Terrasse führt eine Treppe mit mehr als hundert Steinstufen.

René hatte nicht zu viel versprochen: Die goldene Pyramide auf ihrem gewaltigen Piedestal bot einen überwältigenden Anblick, als die ersten Sonnenstrahlen sie berührten. Aus den dichten Wäldern ringsum war die ganze Nacht hindurch Gebrüll und Geheul ertönt, und der Dschungel, der den Fluss säumte, machte einen keineswegs vertrauenerweckenden Eindruck. Aus ihm hatte man nachts Alligatoren schreien gehört, was in etwa klingt wie das Geschrei eines Kindes, das erwürgt wird. Hin und wieder wurden die Wälder von großen Reisfeldern unterbrochen, die eine ganz bestimmte Klasse von Landesbewohnern bestellen, die sich hauptsächlich der Landwirtschaft widmen und Karainer oder Karen genannt werden; sie haben sehr schlichte Sitten, sprechen eine eigene Sprache, sind überaus fleißig und führen ein einfaches, bäuerliches Leben. Sie wohnen in Dörfern, deren Häuser auf Pfosten oder Pfählen errichtet sind. Untereinander wahren sie stets Frieden, und aus den Streitigkeiten der Regierung halten sie sich heraus.

Der Fluss war so fischreich, dass die Matrosen lediglich ein paar Angelschnüre ins Wasser hängen mussten, um genug Fische für die Abendmahlzeit der ganzen Besatzung zu fangen. Einige von ihnen wollten das Fleisch des Panthers kosten. Es war ein junges Tier, eineinhalb oder höchstens zwei Jahre alt, und der Koch verarbeitete seinen Rücken zu Koteletts, doch selbst mit den kräftigsten Zähnen konnte man das zähe Fleisch nicht von den Knochen lösen.

Am übernächsten Tag erreichten die Reisenden Pegu ohne weitere Zwischenfälle bis auf den erbitterten Kampf eines Alligators mit einem Kaiman vor dem Bug der Slup, dem mit einem Schuss Kartätschenladung, der beide Kombattanten in Stücke riss, ein Ende gemacht wurde.

Schiffe von mehr als zehn bis zwölf Fuß Tiefgang müssen in Pegu anhalten, denn bei Ebbe würden sie eine Meile weiter flussaufwärts auf Grund laufen.

Für die Abwicklung der Zollformalitäten wurde das Schiff dem Zamindar überantwortet, einem Vertreter des Kriegsministeriums.

Die Reisenden wurden in einen Stadtpalast gebracht, der »Palast der Fremden« hieß, weil er als Unterkunft für die seltenen Reisenden bestimmt war, die sich nach Pegu verirrten.

Als René die Wohnräume dieses Palasts zu sehen bekam, erklärte er, er bleibe lieber auf der Slup, um von dort aus alles Erforderliche für die Reise zu den Ländereien des Vicomte de Sainte-Hermine in die Wege zu leiten; diese Ländereien wurden in der Landessprache als »Land des Betels« bezeichnet, so reichlich wuchs dort die Betelnusspalme.

Die Ankunft einer Slup mit sechzehn Kanonen und unter amerikanischer Flagge, der Flagge eines Landes, das im indischen Ozean alllmählich einen guten Ruf genoss, sorgte in Pegu für große Aufregung. Schon am nächsten Tag fand sich als erster Besucher der Dolmetscher des Herrschers ein. Er hatte den Auftrag, dem Kapitän Früchte als Geschenk des Shabundar von Pegu zu bringen und ihm mitzuteilen, dass der Nak-Kann und der Seredogee ihm am Tag darauf ebenfalls einen Besuch abstatten würden.

In weiser Voraussicht derartiger Besuche hatte René auf der Île de France Stoffe und Waffen gekauft, so dass er dem Shabundar ein schönes Gewehr zum Geschenk machen konnte. Das Entzücken des Besuchers über diese Waffe nutzte René, um ihn zu bitten, ein Auge auf die Slup zu haben, was diesem in seiner Funktion als Verwaltungsbeamter ein Leichtes sein musste.

Während der ganzen Dauer dieses Besuchs kaute der von zwei Sklaven mit einem silbernen Spucknapf begleitete Shabundar unentwegt Betel und bot seinem Gastgeber davon an.

René kaute die duftenden Blätter, als wäre er ein wahrer Brahmane, doch sobald der Shabundar ihn verließ, spülte er sich den Mund mit Wasser und ein paar Tropfen Arrak, denn als gepflegter Mann legte er Wert auf weiße Zähne.

Am nächsten Tag fanden sich wie angekündigt der Nak-Kann und der Seredogee ein.

Im Königreich Pegu ist es Sitte, andere nicht zu überraschen; der Titel Nak-Kann, der die Funktion eines Polizeipräfekten bezeichnet, heißt wörtlich »Ohr des Königs«, während Seredogee einen Sekretär bezeichnet.

Beide kamen ebenfalls in Begleitung ihrer Spucknapfträger. Obwohl auch sie ohne Unterlass kauten und spuckten, war das Gespräch diesmal interessanter. René erhielt zufriedenstellendere Auskunft über den Stand der Dinge auf dem Besitztum seiner schönen Mitreisenden. Er erfuhr, dass man allein mit dem Anbau von Betelnusspalmen, deren Produkt man in das übrige Indien verkaufen konnte, mindestens fünfzigtausend Francs erlösen konnte, ganz davon abgesehen, dass sich der gleiche Betrag mit dem Anbau von Reis und Zuckerrohr erwirtschaften ließ. Das Landgut lag etwa fünfzig englische Meilen von Pegu entfernt; um es zu erreichen, musste man allerdings Wälder durchqueren, in denen es von Tigern und Panthern wimmelte, und zudem wurde gemunkelt, Banditen aus Siam und Sumatra hätten ihre Schlupfwinkel in diesen Wäldern und machten den Aufenthalt dort noch gefährlicher als die wilden Tiere.

Die zwei Besucher waren sehr ähnlich gekleidet: der eine in Violett, der andere in Blau; beide trugen ein langes Gewand, das an allen Rändern und Säumen mit Goldfäden bestickt war.

René überreichte dem Sekretär des Königs einen goldbestickten Teppich und dem Ohr Seiner Majestät ein schönes Paar Pistolen aus einer Versailler Waffenschmiede.

Während des ganzen Besuchs hatten die beiden Regierungsbeamten sich nicht aus der Hocke erhoben; der Sekretär, der Englisch sprach, diente seinem Begleiter als Dolmetscher.

Seit der Ankunft unserer Reisenden in Pegu war so viel von Betel die Rede, dass es an der Zeit sein dürfte, Näheres über diese Pflanze zu berichten, in welche die Inder noch vernarrter sind als die Europäer in den Tabak.

Die Betelnusspalme ist eine Schlingpflanze, die sich dem Efeu vergleichen lässt; ihre Blätter sehen aus wie die des Zitronenbaums, wenngleich sie spitzer und länglicher sind; die Betelnuss ähnelt der Frucht des Wegerichs, und sie wird den Blättern vorgezogen. Die Pflanze wird wie die Weinrebe angebaut und wie diese an Stützpfählen gezogen. Bisweilen verbindet man sie mit der Arekapalme und gewinnt so bezaubernde Lauben; die Betelpflanze wird in ganz Südostindien angebaut, hauptsächlich in den Küstenregionen.

Die Inder kauen Betelblätter zu jeder Tagesstunde und sogar nachts; da die Blätter jedoch bitter schmecken, wenn sie ohne Beigabe zerstampft werden, fügen die Connaisseure ihnen etwas Arekanuss und Kalk hinzu, die in das Blatt eingewickelt werden. Wohlhabende versetzen ihren Betel sogar mit Kampfer aus Borneo, mit Aloe, Moschus und grauem Ambra.

Der solchermaßen präparierte Betel ist von so köstlichem Geschmack und von so lieblichem Duft, dass die Inder ganz versessen darauf sind. Jeder, der es sich leisten kann, labt sich daran. Manche kauen auch Arekanuss mit Zimt und Nelken, doch diese Mischung reicht geschmacklich nicht an die heran, die aus Arekanuss und etwas Kalk im Betelblatt besteht. Nach dem ersten Kauen spucken die Inder eine rote Flüssigkeit, die ihre Farbe der Arekanuss verdankt. Durch den ständigen Betelgebrauch ist ihr Atem süß und so wohlriechend, dass er fast den Raum parfümiert, in dem sie sich aufhalten, doch das ständige Betelkauen verdirbt ihre Zähne, schwärzt sie und bewirkt Karies und Zahnausfall. Es gibt Inder, die mit fünfundzwanzig Jahren keinen einzigen Zahn mehr im Mund haben, weil sie so übermäßig dem Betel zusprechen.

Wenn man sich voneinander verabschiedet, schenkt man einander Betel in einem seidenen Beutel, und wer nicht von jenen, mit denen er für gewöhnlich verkehrt, Betel zum Geschenk erhalten hat, der hat sich noch nicht gebührend verabschiedet. Niemand würde es wagen, das Wort an eine Person von Rang zu richten, ohne sich den Mund mit Betel parfümiert zu haben. Es gilt sogar als unhöflich, ohne diese Vorsichtsmaßnahme mit seinesgleichen zu sprechen. Auch die Frauen sind große Betelkauerinnen, und sie nennen den Betel Liebespflanze. Man genießt Betel nach den Mahlzeiten, und man kaut Betel, während man Besuche macht. Man hat immer Betel zur Hand, man bietet Betel an, wenn man einander begrüßt – kurzum, der Betel spielt zu jeder Tages- oder Nachtzeit eine herausragende Rolle im Leben der indischen Völker.


Kaum hatten die zwei Betelkauer sich verabschiedet, kam das Gerücht auf, die Slup gehöre einem reichen Amerikaner, der Pistolen, Teppiche und doppelläufige Gewehre verschenke, und schon bald waren die Klänge einheimischer Musik zu vernehmen.

René ließ seine beiden Reisegefährtinnen rufen; er hatte ihnen die Langeweile der Ansprachen erspart, doch nun wollte er ihnen das Vergnügen der Musik nicht vorenthalten.

Die Schwestern kamen an Deck, nahmen Platz auf der Poop und sahen, wie sich drei Barken mit Musikern näherten; jede der Barken enthielt eine eigene kleine Kapelle aus drei Flöten, zwei Zimbeln und einer Art Trommel. Der Ton der Flöten ähnelte dem unserer Oboen. Die Musikanten befanden sich in einem kleinen Pavillon am Bug der Barke, während die Ruderer jeweils zu zweit weiter hinten saßen. Das Heck mit dem Flaggenmast war mit dem religiösen Schmuck tibetischer Kuhschwänze verziert.

Die Musik war nicht kunstvoll, doch um nichts weniger bezaubernd. René bat die Musiker, einige Stücke zu wiederholen, damit er die Melodie festhalten konnte.

Jede der Barken wurde mit zwölf Talks entlohnt (ein Talk entspricht in etwa drei Francs und fünfzig Centimes).

René hatte es sich vom ersten Tag an angelegen sein lassen, die Reise zum Besitztum des Vicomte de Sainte-Hermine in die Wege zu leiten. Das einzige Transportmittel waren Pferde und Elefanten; und der Shabundar hatte ihm erklärt, dass er eine Eskorte von mindestens zehn Mann benötigen werde.

Da sich jedoch jedermann auf einen großen Feiertag vorbereitete, war kaum damit zu rechnen, dass ein Landesbewohner sich vor diesem wichtigen Ereignis freiwillig aus Pegu entfernen würde. Der Shabundar hatte René aber versprochen, ihm für die Tigerjagd abgerichtete Pferde oder Elefanten zu leihen, sobald die Feierlichkeiten, die aus einer Prozession zu der großen Pagode bestanden, beendet waren; er würde die Reittiere so lange behalten können, wie er sie benötigte; Pferde und Pferdeführer kosteten zwanzig Talks und Elefanten und Elefantenführer dreißig.

Nachdem René dem Shabundar versichert hatte, nur von ihm Pferde oder Elefanten zu mieten, bot dieser ihm den Fensterplatz in einem Haus an, das an der Treppe zwischen der Hauptstraße und der großen Pagode lag.

Als René in Begleitung der zwei Schwestern kam, um die Prozession zu verfolgen, stellte er voller Erstaunen fest, dass der Shabundar Sorge getragen hatte, den Raum mit Teppichen und Stühlen auszustatten.

Zahlreiche Männer und Frauen nahmen an der Feier teil, und zwischen Sonnenaufgang und zehn Uhr vormittags stiegen an die dreißigtausend Menschen die Treppe hinauf; jeder brachte eine Opfergabe mit, die seiner Frömmigkeit und seinem Portemonnaie entsprach. Die einen trugen einen Baum, dessen Äste sich unter dem Gewicht der Geschenke für die Priester bogen: Betel, Konfitüren und Süßigkeiten. Andere schleppten Krokodile und Riesengestalten aus Pappe mit, von zierlichen Pyramiden überragt, die mit allen möglichen Geschenken bedeckt waren. Elefanten aus Pappkarton, bemaltem Papier und Wachs vervollständigten die Gaben für die Pagode, die hauptsächlich aus Feuerwerkskörpern, Sternen und Früchten bestanden. Alle Ortsansässigen hatten ihre Sonntagstracht angelegt, meistenteils aus Seidenstoffen gefertigt, die denen unserer Manufakturen nicht nur gleichwertig, sondern oft genug überlegen sind. Die birmanischen Frauen, frei wie Europäerinnen, verschleiern ihr Gesicht nicht. Bedauerlicherweise müssen wir gestehen, dass sie dieses Privileg dem Umstand ihrer völligen Missachtung durch die Männer verdanken; die Männer in Birma halten Frauen für niedrigere Wesen, eine Art Zwischending, nicht Mensch, nicht Tier. Vor Gericht hat die Aussage einer Frau keinerlei Beweiskraft, und die Frauen müssen ihre Aussage von der Tür aus machen, denn den Gerichtssaal dürfen sie nicht betreten.

Die Birmanen verkaufen ihre Frauen an Fremde; in diesem Fall aber sind die Frauen, die nur ihrem Ehemann gehorchen, keineswegs entehrt, denn sie entschuldigt zum einen die Pflicht zum Gehorsam und zum anderen die Erfordernis, ihre Familie zu unterstützen.

In Rangun und Pegu gibt es Kurtisanen, und wir scheuen uns nicht, dieses Thema anzusprechen, da es uns angelegen ist, die Sitte anzuprangern, die verlangt, dass diejenigen, die in diesen Häusern dienen, in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Nicht aus Faulheit oder Verdorbenheit gehen die jungen Mädchen dem schändlichen Gewerbe nach, das sie auch in den zivilisiertesten Städten mit Schimpf und Schande bedecken muss. Das Gesetz, das in Birma für Schuldner gilt, ist das gleiche wie im Rom der Zwölftafelgesetze: Jeder Gläubiger ist Herr über seinen Schuldner oder über die Familie seines Schuldners, sofern dieser seine Schuld nicht zu begleichen vermag; er kann ihn als Sklaven verkaufen, und wenn Ehefrau und Töchter des Schuldners hübsch sind, verkauft er diese armen Geschöpfe, die man »Töchter des Bankrotts« nennen könnte, an die Leiter oder Leiterinnen der Bordelle, die ihm den besten Preis für diese Ware zahlen. In früheren Zeiten gab es eine andere Klasse von Hetären anderen Ursprungs, und diese Frauen hießen »Frauen des Götterbildes«.

Wenn eine Frau gelobt hatte, einen Knaben zu gebären, und statt seiner von einer Tochter entbunden wurde, trug sie diese zu dem Götterbild und ließ sie dort liegen. Da das Mädchen dem Tempel nicht auf der Tasche liegen dufte, wurde es als Tempelhure den vorbeikommenden Fremden angeboten. Die Eingeborenen nannten solche Frauen devadasi (»Sklavinnen des Götterbildes«), die Fremden nannten sie bajadere, was sowohl Tanzmädchen als auch Kurtisane bedeutet.


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