71 Das irdische Paradies

Im Jahr 1780 und ungefähr fünfundzwanzig Jahre vor dem oben Berichteten war der Vicomte de Sainte-Hermine als Kapitän der Victoire mit einem Geheimauftrag zu dem König von Pegu entsandt worden, der sein Reich kurz zuvor von dem Reich Ava abgespalten hatte. Sein Auftrag war, am Golf von Bengalen, das heißt am Westufer des neuen Königreichs, ein Territorium von sieben oder acht Meilen Ausdehnung zwischen dem Fluss Metra und dem Meer zu finden, um dort eine französische Kolonie zu errichten. König Ludwig XVI. hatte Waffen, Geld und sogar französische Ingenieure angeboten, um dem neuen Königreich in den Sattel zu helfen.

Der neue Herrscher hieß Mondirawia-paja. Als intelligenter Mann erklärte er sich einverstanden, doch um dem Vicomte de Sainte-Hermine zu beweisen, wie ernst es ihm mit der Bindung an Frankreich war und wie sehr er den Vicomte schätzte, bot er ihm an, sich unter den bewohnten Teilen des Königreichs einen Landstrich auszusuchen, auf dem er eine Handelsniederlassung gründen konnte.

Der Vicomte de Sainte-Hermine hatte an Bord der Victoire einen sehr gescheiten Zimmermann, den Sohn eines alten Dieners seines Vaters.

Dieser Zimmermann hieß Remi; das einzige Buch, das er je gelesen hatte – mehr noch, das er ohne Unterlass immer wieder las -, war Robinson Crusoe. Die Lektüre von Defoes Roman war ihm so sehr in den Kopf gestiegen, dass er jedes Mal, wenn an einer Insel angelegt wurde, die seinem Geschmack entsprach, den Vicomte de Sainte-Hermine anflehte, ihn mit seinem Werkzeug an Land abzusetzen, ihm ein Gewehr samt Pulver und Kugeln mitzugeben und ihn seinem Schicksal zu überlassen.

Monsieur de Sainte-Hermine hatte kein Privatvermögen erworben; er wusste, wie reich der Boden der Ländereien war, die ihm angeboten wurden, und er beschloss, das Angebot des Königs anzunehmen, sich umzusehen und seine Wahl zu treffen, sollte sich etwas Geeignetes finden. Zudem bedeutete dies, dass er Remi seinen Wunsch erfüllen konnte, ohne auf seine Dienste verzichten zu müssen.

Vermutlich legte er den gleichen Weg zurück, den wir zuvor mit seinen zwei Töchtern, deren jüngere damals noch gar nicht geboren war, siebzehn Jahre später zurückgelegt haben, bis er die Stelle erreichte, die wir gegen Beginn des Jahres 1805 als Land des Betels bezeichnet finden.

Die Lage der Ländereien war vortrefflich, und der Vicomte war sich dieser Vorteile bewusst. Über den Fluss Pegu war man mit Rangun und Siriam verbunden, über den Fluss Sittang mit dem Archipel von Mergi und über den Fluss Thalawadi mit Mataban und der Westküste von Siam. Die Gegend war von der Natur befestigt. Sie bildete eine Halbinsel, von den Zuflüssen des Sittangs fast ganz umschlossen. Mit dem Festland war sie nur auf eine Breite von wenigen hundert Metern verbunden. Ganz offenkundig war bereits versucht worden, systematisch Landwirtschaft zu betreiben, denn dem Betel, der in Indien nicht heimisch ist, begegnete man dort auf Schritt und Tritt.

Monsieur de Sainte-Hermine entschied sich für diesen Ort. Die Halbinsel umfasste ein Gebiet von etwa zwei Meilen Länge auf eine halbe oder eine Viertelmeile Breite. Er fertigte einen genauen Plan der Gegend mit allen Maßverhältnissen an und sagte zu dem König von Pegu, wenn dieser ihm tatsächlich das erwähnte Wohlwollen bezeigen wolle, würde er all seine Wünsche übertreffen, sollte er ihm das Stück Land schenken, das seine Zeichnung abbildete.

Der Gegenstand der Landkarte nahm sowohl auf dem Papier als auch im Königreich Pegu so wenig Platz ein, dass der König nicht säumte, die Bitte des Vicomte de Sainte-Hermine zu erfüllen. Er versah die Schenkung mit offiziellen Weihen, besiegelte sie, und der Vicomte de Sainte-Hermine war Eigner von drei Meilen Landbesitz im Königreich Pegu.

Remi hatte die Verhandlungen mit aller Seelenpein verfolgt, die der Neid uns eingeben kann. Als der Vertrag unterzeichnet, besiegelt und abgesegnet war, fand er sich vor Monsieur de Sainte-Hermine ein, der ihn ernsten Blicks ansah.

»Mein lieber Remi«, sagte der Vicomte, »ich hoffe, dass du nun glücklich bist.«

»Ich bin immer glücklich, wenn Ihnen Gutes widerfährt, mein Kommandant«, erwiderte Remi.

»Aber das Gute, um das es sich hier handelt, widerfährt nicht mir.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Und Remi, der zu verstehen begann, errötete und begann zu zittern. »Großer Gott, Kommandant«, rief er, »unmöglich! Wie soll das möglich sein?«

»Nun, weiß Gott, du wirst alleiniger Besitzer dieses riesigen Landstrichs sein, denn du wirst ihn verwalten. Du wirst nicht wissen, wann oder ob ich wiederkommen werde. Wenn ich nicht wiederkomme und meine Kinder keinen Anspruch auf das Land erheben werden, wird es dir allein gehören. Sollte ich oder sollten meine Erben wiederkommen, werden wir teilen, was an Erträgen erzielt wurde und zu erwarten ist. Ich überlasse dir fünftausend Francs, zehn Gewehre, drei Fass Pulver, dreihundert Pfund Munition und alles Werkzeug, das dir ohnehin zusteht. Verlange einen oder zwei Sklaven oder vier, ich gebe sie dir.«

»Ich will keinen Einzigen«, sagte Remi, »aber Sie wissen, dass Ihnen bei Ihrer Rückkehr, wann auch immer, weder ein Viertel noch die Hälfte all dessen gehören wird, sondern alles!«

»Schon gut!«, sagte der Vicomte. »Das werden wir beizeiten regeln.« Und er drückte Remi die Hand und verließ ihn in einem Wald, in dem der Zimmermann den Grundriss der ersten Häuser, die er zu errichten gedachte, ersann.

Es war zehn Uhr vormittags, als Remi sich angesichts der reichen und kraftvollen Natur mit Gott allein befand. Er sah sich um und sagte voller Stolz: »Über all das bin ich König!«

Doch wie eine Antwort auf seinen Ausruf war ein Brüllen zu vernehmen. Es war ein Tiger, der sagte: »Mag sein! Doch wenn du König bist, bin ich dein Herr.«

Da Remi mit derartigen Einwendungen gerechnet hatte, als er von seinem neuen Reich Besitz ergriff, erschütterte ihn das Gebrüll nicht allzu sehr; er suchte sich einen Baum, dessen Äste fast bis zum Erdboden reichten, und bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er um den Baumstamm herum eine Hütte errichtet, die ihm als Schutz vor etwaigen Angriffen wilder Tiere dienen konnte; für den Fall des Falles hatte er oben eine kaminähnliche Öffnung gelassen, durch die er in die höheren Äste hinaufklettern konnte, und dort oben hatte er sich aus zwei Brettern einen Hochsitz gezimmert, neben dem er einige seiner Gewehre geladen unterbrachte. Danach machte er sich über die Nahrungsmittel her, die der Vicomte ihm dagelassen hatte.

Remi war rundum glücklich: Zum ersten Mal war er sein eigener Herr, und wie Augustus kam er sich vor, als wäre er Herrscher über das Universum.

Das Gebrüll, das er am Morgen vernommen hatte, war vergessen. Ein Wogen im Gras, keine sechzig Fuß entfernt, rief es ihm in Erinnerung.

Von da an ließ er den Blick nicht mehr von der Stelle, an der er die Bewegung erblickt hatte, doch er aß weiter.

Im Gras kauerte ein Panther, der im Unterschied zu Remi nicht in der glücklichen Lage war, sich über sein Abendessen herzumachen, sondern es noch erjagen musste.

Remi war mit den Sitten großer Raubkatzen nicht sonderlich vertraut, und er begnügte sich einstweilen damit, sich zu vergewissern, dass der unterste Ast in Reichweite seines Fußes und der dritte Ast von unten in Reichweite seines Armes war.

Er setzte den Fuß auf den untersten Ast, ergriff mit der Hand den dritten Ast und begann, den Baum zu erklimmen; als er seinen Hochsitz erreichte, der sich in etwa fünfundzwanzig Fuß Höhe befand, ließ er sich mit der gleichen Gemütsruhe nieder, als befände er sich in einer verschlossenen Festung.

Der Panther hatte Remi gewittert. Er kroch vorwärts, den Bauch am Boden, wie eine Katze, die sich an einen Vogel anschleicht.

Zwanzig Schritte von dem Baum entfernt krümmte der Panther den Rücken und tat einen Sprung, der ihn zwei Meter unterhalb von Remi in die Äste beförderte.

Remi hatte seine Zimmermannsaxt im Gürtel stecken; er nutzte den Augenblick, in dem der Panther eine Pfote ausstreckte, um sich an dem Baumstamm festzukrallen, und schlug ihm mit einem wendig und kraftvoll geführten Axthieb die Pranke ab, die von Ast zu Ast polterte, bis sie auf den Boden fiel.

Der Panther brüllte vor Schmerzen und Wut laut auf und streckte die zweite Pfote aus, die Remi mit einem zweiten, nicht minder kräftigen und sicheren Axthieb der ersten hinterherschickte.

Der Panther stieß ein zweites Brüllen aus, verlor das Gleichgewicht und fiel mit lautem Krachen von dem Baum.

Remi ergriff eines seiner Gewehre, und während das Tier noch von seinem Sturz benommen war, schoss er ihm eine Kugel in den Kopf. Dann stieg er hinunter, nahm sein Messer, enthäutete den Panther fachgerecht, nagelte die zwei Pfoten an die Tür seiner Hütte, wie die Bauern es mit Wolfstatzen tun, und setzte sich wieder an seine Mahlzeit.

»Was für ein Aufhebens um manche Dinge gemacht wird«, sagte er sich, »wenn man sie nur aus der Ferne kennt, und wenn man sie von Nahem sieht, ist nichts weiter dabei!«

Das ließen die Panther sich gesagt sein; mochte Remi sie des Abends, des Morgens oder des Nachts fauchen und brüllen hören, wagte sich doch keiner in Sichtweite der Hütte.

Nach und nach hatte sich die Hütte erstaunlich verändert: Was zuerst nur ein Haufen Zweige gewesen war, hatte im Lauf eines Monats die Gestalt einer befestigten Blockhütte angenommen; solide Deckenbalken trugen einen Speicher, der über eine Leiter erreicht wurde. Sechs miteinander verfugte Bretter bildeten ein Feldbett, und ein Tisch mit vier festen Beinen sowie ein Holzschemel stellten fürs Erste die weitere Möblierung dar.

Eines Vormittags sah Remi eine Karawane seiner Hütte entgegenwandern. Der Vicomte de Sainte-Hermine hatte nach seiner Ankunft in Pegu daran gedacht, dem Einsiedler all das zu schicken, woran er sicherlich Mangel litt.

Er schickte ihm Reis, Weizen, Mais, einen Hengst und eine Stute, Kuh und Ochsen, Eber und Bache, einen Hahn und sechs Hühner sowie einen riesengroßen Hütehund samt Hündin und Kater und Katze und, nicht zu vergessen, eine Getreidemühle, wie sie auf Schiffen benutzt wird.

Remi erschrak zuerst beim Anblick dieser Güter: Wo sollte er all die neuen Mitbewohner unterbringen? Zum Glück hatte der Vicomte seiner Sendung zusätzliche Nägel und Schlösser hinzugefügt sowie zahllose Gerätschaften, die Remi sich in der Wildnis nicht besorgen konnte.

Es war nicht daran zu denken, innerhalb von vierundzwanig Stunden, ja nicht einmal innerhalb von acht Tagen einen Stall für die Tiere zu bauen; stattdessen errichtete Remi um die Hütte herum einen Palisadenzaun, der hoch und eng genug war, um ein Entwischen zu vereiteln.

Am ersten Tag blieben die Tiere angebunden; am zweiten Tag war der Palisadenzaun fertig, der an die hundert Fuß Umfang oder dreiunddreißig Fuß Durchmesser aufwies. Die Tiere wurden hineingetrieben und eingesperrt. Der Hahn setzte sich sogleich auf einen der Pfosten und machte es sich zur Aufgabe, als Wache zu dienen und die Tageszeit zu verkünden. Die Hühner legten vom ersten Tag an Eier.

Die Männer, die diese Karawane hergebracht hatten, ließen sich von Remi verköstigen. Der Vicomte de Sainte-Hermine hatte sie im Voraus entlohnt. Remi gab ihnen obendrein einige Talks als Belohnung und schickte sie zurück.

Am Tag nach ihrer Abreise wurden Kuh, Pferde, Schweine, Kalb, Hunde, Katzen und Hühner ins Freie gelassen.

Die Hunde und Katzen besannen sich sogleich ihrer Berufung zum Haustier; die Hunde bezogen links und rechts neben der Eingangstür Posten, die Katzen kletterten zum Speicher hinauf.

Dieser Speicher war eine Rüstkammer im Kleinen; für den Fall einer Belagerung waren die zehn Gewehre mit Kugeln geladen zur Hand nebst Patronen zum Nachladen, die nur darauf warteten, zu Todesboten zu werden.

Von diesem Speicher aus hatte man einen ungehinderten Blick über die ganze Umgebung; durch kleine, geschickt angebrachte Schießscharten konnte man in alle Richtungen feuern, ohne sich den Salven der Belagerer auszusetzen.

Die größeren Tiere grasten draußen. Die Hühner pickten in der Nähe des Hauses ihre Würmer.

Am Abend brachte der Instinkt die Tiere in die Umfriedung zurück: Aus dem besorgten Krähen des Hahns und dem Bellen der Hunde konnte man erraten, dass ein Tiger oder ein Panther um den Zaun herumschlich.

Doch weder tagsüber noch nachts ließ sich einer dieser Räuber blicken.

Remi musste sich jedoch eingestehen, dass seine vielen Mitesser allmählich mehr Arbeit machten, als er allein bewältigen konnte; bisweilen, wenn er seine Schwäche beklagte, dachte er sich, dass eine Frau in seiner entstehenden Kolonie nicht fehl am Platz wäre – nicht allein, um ihm Hoffnung einzuflößen, sondern auch, um ihm bei den zahlreichen Arbeiten zu helfen, die es zu verrichten galt.

Eines Nachts, als diese Gedanken, die er für das Werk des bösen Feindes hielt, ihn besonders hartnäckig gequält hatten, weckten ihn vor Tagesanbruch das Krähen seines Hahns, das Gebell seiner Hunde und Gewehrschüsse, die vom Flussufer zu kommen schienen.

Remi ergriff ein Gewehr, steckte Patronen ein und eilte zum Sittang, von seinen Hunden gefolgt.

Am Ufer lagen drei Tote, die offenbar von den Wegelagerern überfallen worden waren, die auf dem Fluss in den Westen von Siam zu fahren pflegten.

Remi rief, doch niemand antwortete; als es hell war, sah er ein menschliches Wesen neben den Toten knien, steif und reglos wie eine Statue.

Er ging hin; es war eine junge Inderin von zwölf oder dreizehn Jahren; sie kniete neben einem etwa vierzigjährigen Mann, der tot am Boden lag, von einer Kugel in der Brust niedergestreckt.

Remi, der seit zwei Monaten in dieser Einöde lebte, wirkte mit seinen langen Haaren und seinem struppigen Bart selbst wie ein Brigant.

Doch das junge Mädchen bezeigte bei seinem Anblick keinerlei Furcht, sondern wies auf den Toten, senkte wieder den Kopf und brach in Tränen aus.

Remi wartete einige Zeit, damit das Mädchen sich ausweinen konnte. Dann bedeutete er ihm, aufzustehen und ihm zu folgen.

Das Mädchen erhob sich, stieß drei Rufe aus, auf die keine Antwort erfolgte, legte mit jugendlicher und ungekünstelter Anmut Hand und Kopf an Remis Schulter und ging im gleichen Schritt neben ihm her.

Eine Dreiviertelstunde später erreichten sie den Palisadenzaun.

Die Tiere drängten sich am Tor, seit sie die beiden erblickt hatten, und scharten sich voller Wiedersehensfreude um sie, als sie eintraten.

Der Hund bellte, das Schwein grunzte, die Kuh muhte, das Pferd wieherte, die Katze miaute, der Hahn krähte.

Eva betrat das irdische Paradies, und jedes Tier begrüßte sie auf seine Manier. Nur der Mensch schwieg, doch als er die Tür seines Hauses öffnete, klopfte sein Herz wie nie zuvor.


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