79 Die Hochzeit

Als René früh am nächsten Morgen Jane besuchen und sich nach ihrem Zustand erkundigen wollte, sah er Hélène den Flur entlanggehen und das Zimmer ihrer Schwester betreten.

Das gutherzige junge Mädchen hatte ein schlechtes Gewissen, weil es seine Schwester am Vortag etwas vernachlässigt hatte; nun wollte es sie bitten, ihm diese Nachlässigkeit zu verzeihen, die nicht etwa Kaltherzigkeit entsprang.

Der Tag war kaum angebrochen, und im ganzen Haus herrschte noch Stille, denn alle waren spät zu Bett gegangen.

Die zwei jungen Mädchen verbrachten mehr als eine halbe Stunde in enger schwesterlicher Umarmung.

René hörte, wie Hélène Janes Zimmer verließ. Daraufhin schlich er lautlos bis zu ihrer Zimmertür, und als er Jane drinnen schluchzen und leise seinen Namen wiederholen hörte, fragte er durch die Tür: »Kann ich Ihnen etwas bringen, darf ich eintreten?«

»O ja«, erwiderte Jane, »ja, ich muss Sie sehen, kommen Sie herein.«

Er trat ein.

Jane saß in ihrem Bett, in einen weiten Batistmorgenrock gekleidet, einen Beutel voller Rubine, Saphire und Smaragde halb auf ihren Schoß ausgeleert; sie wählte die größten und schönsten unter den Edelsteinen aus und steckte sie in einen kleinen parfümierten Beutel aus Saffianleder, der mit zwei Buchstaben bestickt war.

Diese zwei Buchstaben waren ein C und ein S.

»Kommen Sie«, sagte sie zu René, »setzten Sie sich zu mir.«

René trug einen Stuhl an das Kopfende ihres Betts.

»Meine Schwester ist eben gegangen«, sagte sie, »sie ist sehr glücklich; was sie bekümmert, ist nur, dass ich meine Tränen nicht verbergen konnte. Sie wollte von mir wissen, wann Sie abreisen werden; ich habe ihr gesagt, dass es morgen sein wird, denn morgen werden Sie Abschied von uns nehmen, nicht wahr?« Und bei diesen Worten versuchte sie ihre Stimme zu beherrschen.

»Sie baten mich, bis zum Tag nach der Hochzeit zu warten.«

»Und Sie waren so unendlich gütig zuzustimmen. Glauben Sie mir, ich bin Ihnen sehr dankbar, mein lieber René. Sie hat mich auch gefragt, ob sie Sie für einige Tage länger zurückzuhalten versuchen soll, aber ich habe ihr gesagt, dass Sie Ihre Entscheidung getroffen haben und dass die Sache endlich ein Ende haben muss.«

»Ein Ende haben muss, liebe Jane? Was verstehen Sie darunter?«

»Ich verstehe darunter, dass ich leide, dass ich Ihnen Leid bereite, dass unsere ganze Situation ausweglos ist und dass ein Aufschub Ihrer Abreise um drei oder fünf Tage nichts anderes bedeuten würde, als dass wir uns dann eben drei oder fünf Tage später trennen müssten. Einen Aufschub des Todes erbittet man nur, wenn man am Leben hängt.«

René seufzte tief und erwiderte nichts, denn er war der gleichen Ansicht wie Jane, doch ihn verwunderte ihr Mut, die Situation so unumwunden zu benennen.

Jane leerte den Rest der Juwelen auf ihr Bett und sortierte auch diese. Die Konzentration, mit der sie diese Arbeit verrichtete, die Sorgfalt, mit der sie die größten und schönsten Steine aussortierte, war so herzzerreißend, dass René nicht wagte, sie zu fragen, was sie mit diesen Edelsteinen zu tun gedenke.

Das Tageslicht drang nun in das Zimmer; im Haus wurden Schritte und Geräusche laut; Jane reichte René die Hand und bedeutete ihm, es sei an der Zeit, dass er in sein Zimmer zurückging.

René küsste die Hand, die Jane ihm reichte, und verließ das Zimmer. Seine Gemütsverfassung war kaum weniger kummervoll als die des jungen Mädchens.

In seinem Zimmer legte René seinen Morgenrock ab, zog sich an und ging hinunter.

Das Pferd, das Justin ohne Sattel und ohne Zaumzeug zu reiten pflegte, graste ungestört auf der Wiese vor dem Haus. René trat näher, hielt dem Pferd eine Handvoll Gras hin und pfiff leise.

Das Pferd fraß das Gras aus seiner Hand, und René nutzte diese Ablenkung, um ihm auf den Rücken zu springen.

Das Pferd tat einen gewaltigen Sprung; doch sobald sich Renés Schenkel um seine Seiten schlossen, war es in seiner Macht, und kein Aufbäumen und kein Bocken konnte seinen Reiter abschütteln.

Bis dahin hatte nur Justin dieses Pferd besteigen können, ohne abgeworfen zu werden, und deshalb hieß es »Unbezwingbarer«.

Ein Fenster wurde aufgerissen, und eine Stimme rief: »Um Himmels willen, René! Niemand wagt sich auf dieses Pferd, es wird Ihr Tod sein!«

Doch in kaum fünf Minuten war der Unbezwingbare bezwungen und fromm wie ein Lamm.

René wickelte sich eine Handvoll Haare der Mähne des Tiers um die Hand, die er als Zügel benutzte, und lenkte das Pferd unter Janes Fenster, wo er es zwang, trotz seiner Widerspenstigkeit in die Knie zu gehen; doch kaum ließ er die Mähne los, bäumte es sich auf und raste davon, René auf seinem Rücken; das Pferd folgte einem Pfad, der eine spitze Kehre machte, und an dieser Kehre traf es auf eine alte Negerin; René lenkte das Pferd mit Knie und Hand zur Seite, doch es gehorchte nicht schnell genug und berührte die alte Frau an der Schulter, so dass sie stürzte.

Sie schrie auf, doch René war bereits abgesprungen und half ihr auf die Beine.

Sie war nicht verletzt, und jemand anders als René hätte sich gar nicht um sie gekümmert, denn eine alte Negerin wird überall und besonders in Indien so gering geschätzt, dass jeder erstbeste Weiße sich berechtigt glaubt, sie niederzutrampeln; René in seiner Güte jedoch gab ihr einen der kleinen Goldbarren, die in Indien als mindere Währung verwendet werden; er war vielleicht fünfzehn bis zwanzig Francs wert. Die Negerin wollte ihm die Hände küssen.

Als er sah, dass sie unbeschwert gehen konnte und unverletzt war, pfiff er den Unbezwingbaren herbei, sprang ihm auf den Rücken und ritt zum Haus zurück.

Justin erwartete René, um ihn zu beglückwünschen. Er hatte mit angesehen, wie René das Pferd bestiegen und gezähmt hatte, das bisher niemand außer ihm hatte reiten können.

Sie plauderten noch, als die alte Frau, der René begegnet war, in den Hof kam und einige der Dienstboten etwas fragte. Nachdem sie geantwortet hatten, betrat sie das Haus und war nicht mehr zu sehen.

»Wer ist diese Frau?«, fragte René.

Justin zuckte die Schultern. »Das ist eine Hexe«, antwortete er. »Wer zum Teufel mag diese Giftmischerin herbestellt haben?« Dann sah er, dass René noch seine Morgenkleidung trug, indes Sir James in Galauniform die Treppe herunterkam. »Ich glaube, Sie werden sich verspäten, Monsieur René«, sagte Justin, »die Trauung ist für zehn Uhr vormittags angesetzt.«

René zog seine Uhr hervor, die Viertel vor neun anzeigte. »Ach, schon gut«, sagte er, »ich habe mehr als genug Zeit.«

Dennoch ging er ins Haus. Zu seinem großen Erstaunen sah er die Negerin aus Janes Zimmer treten, als er den Salon durchquerte. Was hatte sie dort zu suchen?

Er trat zu ihr und stellte ihr Fragen; sie bedeutete ihm jedoch mit Kopfbewegungen, dass sie ihn nicht verstehe, und ging weiter.

René wollte Jane aufsuchen und sie befragen, doch ihre Zimmertür war abgeschlossen, und als René sie bat, ihm zu öffnen, erwiderte Jane nur: »Unmöglich, ich kleide mich gerade an.«

René ging in sein Zimmer; in wenigen Minuten hatte er seine Morgenkleidung gegen seine elegante Korsarenuniform eingetauscht.

Er ging hinunter und fand im Speisezimmer den Priester vor.

Seit man wusste, dass der Priester kommen würde, war Adda damit beschäftigt gewesen, ein Messgewand für ihn anzufertigen, denn die Vorstellung, dass er in seinem schwarzen Gewand die Trauung vollzöge, war für sie zu traurig. Mittels einer Wasserpflanze, deren Saft in Indien dazu dient, Priestergewänder golden zu färben, war es ihr gelungen, durch Färben und Sticken ein Messgewand herzustellen, das selbst in Europa als Kunstwerk gegolten hätte.

Pater Luigi hatte sich nie zuvor so prunkvoll ausstaffiert gesehen, und er strahlte vor Freude.

Um zehn Uhr brannten die Kerzen auf dem Altar. Alle Mitglieder des Haushalts waren anwesend.

Jane war so entkräftet, dass der Priester vorschlug, sie solle sich auf jemanden stützen, um zur Kirche zu gelangen; sie stützte sich auf Renés Arm.

Es muss kaum eigens gesagt werden, dass es im Land des Betels kein Standesamt gab. Es wurde keine Ziviltrauung vorgenommen, sondern nur eine kirchliche Trauung.

Die Allee aus blühenden Bäumen, die von der Haustür bis zur Tür der Kapelle führte, setzte alle in Erstaunen, ausgenommen jene, die sie angelegt hatten; man hätte meinen können, sie wäre über Nacht herbeigezaubert worden.

Die Heiratsurkunde und der Ring waren aus Europa mitgebracht worden.

Nachdem der Priester dem jungen Paar die traditionellen Fragen gestellt hatte und beide sie beantwortet hatten, steckte er Hélène den Ring an den Finger; im selben Augenblick seufzte Jane auf und sank auf das Betpult vor ihr.

René reichte ihr verstohlen ein Fläschchen mit Riechsalz. Jane wusste, wie schmerzlich es für alle anderen sein musste, wenn sie ihren Kummer so unverhüllt zur Schau stellte, und sie nahm all ihre Selbstbeherrschung zusammen, so dass es aussah, als hätte sie nur niederknien wollen.

Allein Hélène und René wussten, wie es wirklich um sie stand.

Jane wollte am Hochzeitsschmaus teilnehmen, doch ihre Kräfte ließen sie im Stich; sie musste aufstehen und den Tisch verlassen.

René wechselte einen Blick mit Hélène; sie bedeutete ihm zu bleiben, doch nach fünf Minuten sagte sie laut: »René, sehen Sie doch bitte nach Jane; Sie sind gewissermaßen unser Hausarzt, und ohne die arme Jane, die seit einiger Zeit recht leidend ist, hätten Sie fast nichts mehr zu tun.«

René sprang von seinem Stuhl auf und eilte zu Janes Zimmer.

Er fand sie auf dem Boden liegend vor; weder Chaiselongue noch Bett hatte sie erreicht.

Er ergriff sie unter den Achseln, schleppte sie zum Fenster und bettete sie in einen Sessel.

Er fühlte ihren Puls; ihr Herz klopfte nicht, sondern jagte; von tiefster Schwäche ging ihr Zustand in heftigste Erregung über, und sobald die fieberhafte Erregung nachließ, verfiel sie wieder in eine Betäubung, die noch erschreckender war als die Raserei.

Es war nicht zu übersehen, dass diese schöne menschliche Maschinerie einen schwerwiegenden Fehler aufwies und nicht mehr den Gesetzen des Lebens entsprechend funktionierte, sondern den willkürlichen Launen dieses Fehlers gehorchte.

»O Jane«, sagte René verzweifelt, »wollen Sie sich denn das Leben nehmen?«

»Ach«, erwiderte Jane, »wenn ich genug Zeit hätte, würde ich mir nicht das Leben nehmen, sondern von ganz allein sterben.«


Загрузка...