14 Léon de Sainte-Hermine

»Einige Zeit nach der Hinrichtung meines Vaters starb meine Mutter, die bei der Nachricht seines Todes erkrankt war.

Von diesem neuen Unglück konnte ich meinem Bruder Léon nicht berichten. Seit dem Kampf bei Berchem hatte man nicht mehr von ihm gehört; ich schrieb meinem Bruder Charles in Avignon, der sich auf der Stelle nach Besançon aufmachte.

Ich werde Ihnen berichten, was wir über die Schlacht bei Berchem und über das Los meines Bruders erfuhren, und zwar vom Prinzen von Condé, zu dem meine Mutter, die im Sterben lag, in ihrer Ratlosigkeit hatte schicken lassen; der Bote war jedoch erst nach ihrem Tod zurückgekehrt, am selben Tag wie mein Bruder.

Am 4. Dezember 1793 hatte der Prinz von Condé in Berchem sein Hauptquartier. Pichegru führte zwei Angriffe gegen ihn aus, ohne ihn von Berchem wegzudrängen oder sich dort halten zu können, nachdem er Condé weggedrängt hatte.

Nach der abermaligen Einnahme der Ortschaft durch die Emigranten vollführte Léon wahre Wunder an Mut, drang als Erster in das Dorf ein und ward nicht mehr gesehen. Obwohl seine Gefährten ihm auf dem Fuß folgten, konnten sie ihn nirgends ausmachen. Man suchte unter den Toten, fand ihn jedoch nicht. Die allgemeine Ansicht war die, dass er sich auf der Verfolgung der Republikaner zu weit vorgewagt hatte und von ihnen gefangen genommen worden war.

Die Gefangennahme kam dem Todesurteil gleich, denn jeder Gefangene, den man bewaffnet ergriff, wurde der Form halber vor ein Kriegsgericht gestellt und füsiliert.

Nichts mehr zu hören bestätigte uns in dieser schmerzlichen Überzeugung, bis man uns den Besuch eines jungen Mannes aus Besançon ankündigte, der von der Rheinarmee kam. Er war fast noch ein Kind, kaum vierzehn Jahre alt, der Sohn eines alten Freundes meines Vaters. Er war ein Jahr jünger als ich, wir waren gemeinsam erzogen worden. Sein Name war Charles N.

Ich sah ihn als Erster. Ich wußte, dass er seit drei Monaten bei General Pichegru weilte. Ich lief auf ihn zu und rief: ›Charles, du bist es! Bringst du uns Nachrichten von meinem Bruder?‹ – ›Leider ja‹, erwiderte er. ›Ist dein Bruder Charles da?‹ – ›Ja‹, antwortete ich. ›Nun‹, erwiderte er, ›lass ihn rufen, denn das, was ich dir zu sagen habe, gilt auch ihm.‹ Ich rief meinen Bruder. Er kam herbei. ›Charles ist gekommen‹, sagte ich, ›und er hat Neuigkeiten von Léon.‹ – ›Schlechte Neuigkeiten, nicht wahr?‹ – ›Ich fürchte es, denn sonst hätte er sie uns bereits gesagt.‹

Ohne darauf zu antworten, zog mein junger Freund mit traurigem Lächeln eine Polizeimütze aus seiner Weste und reichte sie meinem Bruder. ›Nunmehr sind Sie das Familienoberhaupt‹, sagte er, ›und deshalb kommt diese Hinterlassenschaft Ihnen zu.‹

›Was ist das?‹, fragte mein Bruder.

›Das ist die Mütze, die er trug, als er erschossen wurde‹, erwiderte Charles.

›Er ist also tot?‹, fragte mein älterer Bruder trockenen Auges, während ich gegen meinen Willen weinen musste.

›Ja.‹

›Und er ist tapfer gestorben?‹

›Wie ein Held.‹

›Der Herr sei gepriesen! Unsere Ehre ist unversehrt. In der Mütze ist sicherlich etwas verborgen?‹

›Ein Brief.‹

Mein Bruder betastete die Mütze, erkannte die Stelle, an der sich der Brief befand, schnitt die Naht der Mütze mit einem Taschenmesser auf und entnahm ihr den Brief, den er öffnete.


An meinen Bruder Charles.

Zuerst und vor allen Dingen verheimliche meinen Tod vor unserer Mutter so lange wie möglich.


›Ist er gestorben, ohne zu wissen, dass unsere arme Mutter ihm in das Grab vorausgegangen ist?‹, fragte mein Bruder.

›Nein‹, sagte Charles, ›ich habe es ihm gesagt.‹

Mein Bruder sah wieder auf den Brief und las weiter:


Ich wurde in Berchem gefangen genommen. Mein Pferd brach zusammen und begrub mich unter sich. Ich konnte mich nicht wehren.

Ich warf meinen Säbel weg, und vier Republikaner befreiten mich.

Man brachte mich auf die Festung Auenheim, um mich dort zu füsilieren; wenn kein Wunder geschieht, kann mich nichts mehr retten.

Mein Vater hatte dem König sein Wort gegeben, für die royalistische Sache zu sterben, und er hat es gehalten.

Ich gab meinem Vater mein Wort, für dieselbe Sache einzustehen, und werde sterben.

Du hast mir Dein Wort gegeben. Nun ist die Reihe an Dir. Wenn Du stirbst, wird Hector uns rächen.

Bete am Grab meiner Mutter.

Gib Hector einen väterlichen Kuss.

Adieu

LÉON DE SAINTE-HERMINE

P.S. Ich weiß nicht, wie ich Dir diesen Brief zukommen lassen kann, Gott wird es einrichten.

Mein Bruder küsste den Brief, reichte ihn mir, damit auch ich ihn küsste, und drückte ihn an sein Herz. Dann sagte er zu Charles: ›Und du hast seinem Tod beigewohnt?‹

›Ja!‹, erwiderte Charles.

›Nun, dann erzähle es mir in allen Einzelheiten.‹<

›Das ist nicht schwer‹, sagte Charles. ›Ich war auf dem Weg von Straßburg zum Hauptquartier des Generals Citoyen Pichegru in Auenheim, als ich kurz hinter Sessenheim von einem kleinen Trupp Infanteristen eingeholt wurde, ungefähr zwanzig Soldaten, die ein Hauptmann zu Pferde befehligte. Die zwanzig Männer marschierten in zwei Reihen.

Mitten auf der Straße ging zu Fuß ein Kavallerist, was an den Sporen seiner Armeestiefel leicht zu erkennen war; von Kopf bis Fuß war er in einen weiten weißen Mantel gehüllt, der nur seinen Kopf sehen ließ, ein junges, intelligentes Gesicht, das mir undeutlich bekannt vorkam; er trug eine Polizeimütze, was in der französischen Armee nicht üblich ist.

Der Hauptmann sah mich neben dem jungen Mann im weißen Mantel gehen, und da ich noch jünger aussehe, als ich es bin, fragte er mich wohlwollend:

„Wohin des Weges, mein junger Citoyen?“

„Zum Hauptquartier des Generals Pichegru; ist es noch weit?“

„Noch ungefähr zweihundert Schritte“, erwiderte der junge Mann im weißen Mantel. „Sehen Sie, am Ende des Weges, auf den wir eingebogen sind, befinden sich die ersten Häuser von Auenheim.“

Ich wunderte mich, dass er mir das Dorf mit einer Kopfbewegung wies statt mit einer Geste.


„Danke“, sagte ich und beeilte mich, schneller zu gehen, um ihn von meiner Gegenwart zu befreien, die ihn zu stören schien, doch er rief mich zurück.

„Meiner Treu, junger Freund“,sagte er, „wenn Sie es nicht allzu eilig haben, sollten Sie mit uns gehen, denn dann könnte ich Sie bitten, mir Neuigkeiten aus Ihrer Gegend zu berichten.“

„Aus meiner Gegend?“fragte ich überrascht.

„Zum Kuckuck!“, sagte er, „sind Sie etwa nicht aus Besançon oder zumindest aus der Franche-Comté?“

Ich sah ihn erstaunt an; seine Sprache, sein Gesicht, seine Haltung – alles weckte in mir Kindheitserinnerungen. Offenbar hatte ich diesen schönen jungen Mann früher einmal gekannt.

„Aber vielleicht wollen Sie Ihr Inkognito wahren“, sagte er lachend.

„O nein, Citoyen“, entgegnete ich. „Ich musste nur daran denken, dass Theophrast, der ursprünglich Tyrtamos hieß und den die Athener den Schönredner nannten, nach fünfzig Jahren in Athen von einer Obstverkäuferin als Mann aus Lesbos wiedererkannt wurde.“

„Sie sind ein gebildeter Herr“, sagte mein Reisegefährte; „das ist in den gegenwärtigen Zeiten ein Luxus.“

„O nein“, sagte ich wieder. „Ich bin auf dem Weg zu General Pichegru, der selbst sehr gebildet ist, und ich hoffe, dank eines Empfehlungsschreibens von ihm als Sekretär angestellt zu werden. Und du, Citoyen“, fügte ich neugierig hinzu, „gehörst du zur Armee?“

Er begann zu lachen. „Nicht genau“, sagte er.

Ich sagte: „Dann bist du der Verwaltung attachiert.“

Attachiert“, wiederholte er lachend. „Meiner Treu, so kann man es wahrhaftig bezeichnen, Monsieur. Allerdings bin ich nicht der Verwaltung attachiert, sondern mir selbst.“

„Aber Sie siezen mich und sagen laut Monsieur zu mir“, sagte ich leise. „Befürchten Sie denn nicht, dass Sie das Ihre Stellung kosten kann?“

„Oho, Hauptmann, haben Sie das gehört?“rief der junge Mann im weißen Mantel lachend. „Der junge Citoyen befürchtet, ich könnte meine Stellung verlieren, weil ich ihn sieze und Monsieur zu ihm sage. Wüssten Sie jemanden, der meine Stellung gern hätte? Ich würde sie ihm jederzeit abtreten!“

„Armer Teufel!“murmelte der Hauptmann schulterzuckend.

„Sagen Sie, junger Mann“, fragte mein Reisegefährte, „da Sie aus Besançon kommen, denn daher kommen sie, nicht wahr?“

Ich nickte.

„Dann kennen Sie sicher eine Familie namens Sainte-Hermine.“

„Ja“, antwortete ich, „eine Witwe und drei Söhne.“

„Drei Söhne, ganz genau; ja“, fügte er seufzend hinzu, „noch sind es drei. Danke. Wann haben Sie Besançon verlassen?“

„Vor sieben oder acht Tagen.“

„Dann können Sie mir Neuigkeiten berichten?“

„Gewiss, aber traurige Neuigkeiten.“

„Erzählen Sie.“

„Am Tag vor meiner Abreise waren mein Vater und ich auf der Beerdigung der Gräfin.“

„Oh!“, rief der junge Mann und richtete den Blick zum Himmel. „Die Gräfin ist tot!“

„Ja!“

„Umso besser!“

Und aus seinen Augen rollten zwei große Tränen.

„Wie können Sie so sprechen!“, rief ich. „Die Gräfin war eine wahre Heilige!“

„Umso besser“, wiederholte der junge Mann, „dass sie ihrem Leiden erlegen ist und nicht vor Kummer sterben muss, wenn sie erfährt, dass ihr Sohn erschossen wurde.“

„Was sagen Sie da?“, rief ich. „Der Graf von Sainte-Hermine wurde erschossen? “

„Noch nicht, aber er wird erschossen werden.“

„Und wann?“

„Sobald wir das Fort von Auenheim erreicht haben werden.“

„Befindet sich dort der Graf von Sainte-Hermine?“

„Nein, er ist auf dem Weg dorthin.“

„Und man wird ihn erschießen?“

„Sobald ich angekommen sein werde.“

„Sind Sie für die Hinrichtung zuständig?“

„Nein, aber ich werde das Zeichen für das Feuer geben. Diese Gunst wird einem tapferen Soldaten, den man mit der Waffe in der Hand überwältigt hat, nicht verweigert, selbst wenn er ein Emigrant ist.“

„Großer Gott!“, rief ich voller Entsetzen. „Dann sind Sie...?“

Der junge Mann lachte schallend. „Jetzt wissen Sie, warum ich lachen musste, als Sie mir zur Vorsicht rieten. Und warum ich meine Stellung jedem abgetreten hätte, der sie haben wollen könnte, denn ich musste nicht befürchten, sie zu verlieren; wie Sie so richtig sagten, bin ich attachiert.“

Und erst da schüttelte er seinen Mantel mit einer Bewegung seiner Schultern, und ich sah, dass ihm Hände und Arme gebunden waren.

„Aber dann“, rief ich noch entsetzter als zuvor, „dann sind Sie -“

„Der Graf von Sainte-Hermine, junger Mann. Sie sehen, wie recht ich hatte, als ich sagte, dass meine Mutter gut daran getan hatte zu sterben.“

„Großer Gott!“, rief ich verzweifelt.

„Zum Glück“, sagte der Graf mit zusammengepressten Lippen, „leben meine Brüder.“‹

›O ja‹, riefen wir wie aus einem Mund, ›und wir werden seinen Tod rächen. ‹«


»Es war also Ihr Bruder, der zu seiner Hinrichtung geführt wurde?«, fragte Mademoiselle de Sourdis.

»Ja«, antwortete Hector. »Genügt Ihnen dies, oder wollen Sie erfahren, wie er starb? Die Einzelheiten, die unsere Herzen bis zum Zerspringen klopfen machten, können für jemanden, der den armen Léon nicht gekannt hat, von keinem großen Interesse sein.«

»Oh, sagen Sie mir alles, alles!«, rief Mademoiselle de Sourdis, »ersparen Sie mir nichts. War Monsieur Léon de Sainte-Hermine denn nicht mein Verwandter, und habe ich nicht das Recht, ihm bis zum Grab zu folgen?«

»Dies sagten wir auch zu Charles, der seinen Bericht fortsetzte.


›... Sie können sich denken, welche Erschütterung es für mich war, zu erfahren, dass auf diesen schönen jungen Mann in seiner Jugendblüte, der so sicheren Schrittes ging und so unbeschwert mit mir scherzte, der Tod wartete.

Zudem war er ein Landsmann von mir, Oberhaupt einer unserer vornehmsten Familien, nämlich der Graf von Sainte-Hermine.

Ich näherte mich ihm. „Gibt es kein Mittel, Sie zu retten?“, fragte ich leise.

„Ich muss gestehen, dass ich keines wüsste“, erwiderte er, „denn wüsste ich eines, ergriffe ich es, ohne zu zögern.“

„Da ich mich nicht in der glücklichen Lage sehe, Ihnen diesen Dienst zu erweisen, wäre es mir lieb, wenn ich mich von Ihnen in dem Wissen verabschieden könnte, Ihnen zu etwas nutze gewesen zu sein, dazu beigetragen zu haben, Ihnen den Tod erträglicher zu machen, Ihnen das Sterben erleichtert zu haben, wenn ich Sie schon nicht vor dem Tod bewahren konnte.“

„Seit Sie hier sind, trage ich mich mit einem Gedanken.“

„Sagen Sie ihn.“

„Es ist vielleicht nicht ganz ungefährlich, und ich fürchte, Sie könnten sich ängstigen.“

„Ich bin zu allem bereit, wenn ich Ihnen damit einen Dienst erweisen kann.“

„Ich möchte meinem Bruder Nachricht von mir zukommen lassen.“

„Ich bin bereit, sie ihm zu überbringen.“

„Es ist aber ein Brief.“

„Ich werde ihn ihm aushändigen.“

„Ich könnte ihn dem Hauptmann geben. Er ist ein wackerer Mann und würde ihn wahrscheinlich dem Empfänger überbringen lassen.“

„Bei dem Hauptmann ist es anzunehmen“, erwiderte ich, „bei mir können Sie sichergehen.“

„Dann hören Sie mir gut zu.“

Ich trat noch näher zu ihm.

„Der Brief ist schon geschrieben“, sagte er, „und in meine Polizeimütze eingenäht.“

„Gut.“

„Sie werden den Hauptmann bitten, meiner Hinrichtung beiwohnen zu dürfen.“

„Ich!“, erwiderte ich, und ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.

„Verschmähen Sie es nicht: Eine Hinrichtung ist immer sehenswert. Viele besuchen Hinrichtungen zum Vergnügen.“

„Nie hätte ich den Mut dazu.“

„Ach, das geht schneller, als Sie denken.“

„Niemals, niemals!“

„Lassen wir das jetzt“, sagte der Graf. „Sie werden sich damit begnügen, meinen Brüdern, wenn Sie sie zufällig sehen, zu sagen, dass Sie mir begegnet sind, als ich zur Hinrichtung geführt wurde.“

Und er begann die Melodie von Vive Henry IV zu pfeifen.

Erregt trat ich zu ihm.

„Verzeihen Sie mir“, sagte ich, „ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen.“

„Hoppla! Sie sind ein guter Junge, ich danke Ihnen.“

„Nur...“

„Was?“

„Sie müssen den Hauptmann darum bitten, dass ich zusehe. Ich könnte es nie verwinden, wenn man glauben sollte, ich hätte aus Neugier und zum Vergnügen -“

„Gewiss, gewiss, ich werde ihn bitten, Sie als meinen Landsmann anwesend sein zu lassen; das wird er erlauben. Ich werde darum bitten, meinem Bruder etwas hinterlassen zu dürfen, was mir gehört hat, meine Mütze beispielsweise; so etwas kommt alle Tage vor; außerdem ist eine Polizeimütze nichts Verdächtiges, nicht wahr?“

„Nein.“

„In dem Augenblick, in dem ich das Feuer befehle, werde ich die Mütze fortwerfen; beeilen Sie sich nicht zu sehr, sie aufzuheben, erst wenn ich tot sein werde -“

„Oh!“, rief ich erbleichend und am ganzen Körper zitternd.

„Hat jemand einen Schluck Branntwein für meinen jungen Landsmann? “, fragte Ihr Bruder. „Ihm ist kalt.“

„Komm her, mein lieber Junge“, sagte der Hauptmann und reichte mir seine Feldflasche.

Ich nahm einen Schluck. „Danke, Hauptmann“, sagte ich.

„Gern geschehen. Einen Schluck für Sie, Citoyen Sainte-Hermine?“, rief er dem Gefangenen zu.

„Tausend Dank, Hauptmann“, erwiderte dieser, „ich trinke nie geistige Getränke.“

Ich gesellte mich wieder zu ihm.

„Und wenn ich dann tot bin“, fuhr er fort, „nehmen Sie die Mütze unauffällig an sich, als wäre es nicht weiter wichtig. Doch Sie wissen, dass mein letzter Wunsch, der Wunsch eines Sterbenden, heilig ist und dass der Brief meinem Bruder übergeben werden muss. Wenn die Mütze Ihnen beschwerlich ist, entnehmen Sie ihr den Brief und werfen Sie sie weg. Aber den Brief, den werden Sie nicht verlieren, nicht wahr?“

„Nein“, versprach ich, bemüht, meine Tränen zu unterdrücken.

„Sie werden ihn nicht aus den Augen lassen?“

„Nein, nein! Seien Sie unbesorgt!“

„Und Sie werden ihn eigenhändig meinem Bruder übergeben?“

„Ja, eigenhändig.“

„Meinem Bruder Charles, dem älteren der beiden; er hat Ihren Vornamen, das kann man sich leicht merken.“

„Ihm und niemandem sonst.“

„Setzen Sie alles daran! Nun gut! Er wird Sie ausfragen, und Sie werden ihm berichten, wie ich gestorben bin, und er wird sagen:,Nun, ich hatte einen tapferen Bruder‘, und wenn er an der Reihe sein wird, wird er sterben wie ich.“

Wir erreichten eine Weggabelung: Eine Straße führte zum Hauptquartier General Pichegrus, die andere zu dem Fort, das unser Ziel war.

Ich wollte etwas sagen, doch kein Wort drang aus meinem Mund. Bittend sah ich zu Ihrem Bruder.

Er lächelte. „Hauptmann“, sagte er, „eine Bitte.“

„Welche? Wenn es in meiner Macht steht …“

„Es ist vielleicht eine Schwäche, aber es wird ja unter uns bleiben, nicht wahr? Wenn ich sterbe, möchte ich einen Landsmann in die Arme schließen. Wir sind beide Kinder des Jura, dieser junge Mann und ich. Unsere Familien wohnen in Besançon und sind befreundet. Irgendwann wird er nach Hause zurückkehren und erzählen, wie wir einander zufällig begegnet sind und dass er mich bis zum letzten Augenblick begleitet hat.“

Der Hauptmann sah mich an; ich weinte.

„Gewiss doch!“, sagte er. „Wenn es Ihnen beiden Vergnügen bereitet! “

„Ich glaube nicht“, sagte Ihr Bruder lachend, „dass es ihm großes Vergnügen bereitet, aber mir wird es ein Vergnügen sein.“

„Wenn Sie es wünschen.“

„Sie sind einverstanden?“

„Einverstanden“, erwiderte der Hauptmann.

Ich trat zu dem Gefangenen.

„Sehen Sie“, sagte er, „bislang klappt alles ganz vorzüglich.“

Wir stiegen den Hügel hinauf, wiesen uns aus und verschwanden unter der Zugbrücke.

Im Hof warteten wir auf den Hauptmann, der dem Oberst Rapport erstattete und ihm den Befehl zur Hinrichtung überbrachte.

Nach wenigen Minuten erschien er auf der Türschwelle.

„Bist du bereit?“, fragte er den Gefangenen.

„Wann immer es Ihnen beliebt, Hauptmann“, erwiderte dieser.

„Hast du uns noch etwas mitzuteilen?“

„Nein, aber ich habe noch eine Gunst zu erbitten.“

„Alles, was ich gewähren kann, sei dir gewährt.“

„Danke, Hauptmann.“

Der Hauptmann trat zu Ihrem Bruder. „Auch wenn wir unter verschiedenen Fahnen dienen“, sagte er, „sind wir dennoch Franzosen, und tapfere Männer erkennen einander unfehlbar. Was wünschst du?“

„Zuerst dass man mir die Fesseln abnimmt, mit denen ich aussehe wie ein Strauchdieb.“

„Du hast recht; nehmt dem Gefangenen die Fesseln ab.“

Ich stürzte mich auf die Hände des Grafen und hatte ihn entfesselt, bevor einer der Soldaten sich ihm nähern konnte.

„Oh!“, sagte der Graf, streckte die Hände aus und schüttelte sich unter seinem Mantel. „Das tut gut, wieder frei zu sein.“

„Und jetzt?“, fragte der Hauptmann. „Was wünschst du jetzt?“

„Ich will das Zeichen zum Feuern geben.“

„So wird es sein. Und was weiter?“

„Ich möchte meiner Familie ein Andenken zukommen lassen.“

„Du weißt, dass wir keine Briefe von politischen Gefangenen entgegennehmen dürfen. Alles andere ja.“

„Oh, ich will niemandem Scherereien bereiten. Hier ist mein junger Landsmann Charles, der mich zu meiner Hinrichtung begleiten wird, wie Sie es erlaubt haben, und der es übernehmen wird, meiner Familie etwas mitzubringen, keinen Brief, sondern irgendetwas, was mir gehört hat, beispielsweise meine Polizeimütze.“

„Ist das alles?“, fragte der Hauptmann.

„Meiner Treu, ja“, antwortete der Graf, „es wird Zeit. Ich bekomme allmählich kalte Füße, und kalte Füße kann ich von allen Dingen am wenigsten ausstehen. Auf, Hauptmann, denn ich nehme an, Sie werden mich begleiten.“

„Das ist meine Pflicht.“

Der Graf salutierte und drückte mir lachend die Hand, als hätte er Grund zur Freude.

„Wohin?“, fragte er.

„Hierher“, sagte der Hauptmann und trat an die Spitze des Zuges.

Wir folgten ihm, vorbei an einer Poterne, und betraten dann einen zweiten Hof, auf dessen Befestigungen Wachposten patrouillierten. Am Ende des Hofs befand sich eine hohe Mauer, in Kopfhöhe von Einschüssen zernarbt.

„Aha!“, sagte der Gefangene. Und er ging aus freien Stücken zu der Mauer, vor der er stehen blieb.

Der Gerichtsschreiber verlas das Urteil.

Ihr Bruder nickte, als wolle er die Richtigkeit des Urteils bestätigen. Dann sagte er: „Wenn es Ihnen recht ist, Hauptmann, hätte ich kurz etwas mit mir zu besprechen.“

Der Hauptmann und seine Soldaten begriffen, dass er beten wollte, und traten beiseite.

Für einen Augenblick verharrte er reglos, mit gekreuzten Armen, den Kopf zur Brust gesenkt, und bewegte die Lippen, ohne dass ein Wort zu vernehmen war.

Dann richtete er den Kopf auf: Er lächelte. Er umarmte mich, und dabei sagte er mir leise ins Ohr die Worte Karls I.: „Erinnere dich.“

Weinend nickte ich.

Dann sprach der Verurteilte mit fester Stimme: „Habt Acht!“

Die Soldaten nahmen Aufstellung.

Er nahm seine Polizeimütze ab, als wolle er nicht mit bedecktem Kopf den Befehl zum Feuern geben, warf sie in die Luft, und sie fiel neben meinen Füßen nieder.

„Seid ihr bereit?“, fragte der Graf.

„Ja“, erwiderten die Soldaten.

„Aufstellung, angelegt, Feuer! Es lebe der – “

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden; laute Schüsse waren gefallen, und sieben Kugeln hatten seine Brust durchdrungen. Er fiel mit der Stirn voran auf den Boden, und ich fiel auf die Knie und weinte so heftig, wie ich in diesem Augenblick weine.‹<


Wahrhaftig war das arme Kind in Tränen ausgebrochen, als es uns den Tod unseres Bruders berichtete. Ach, und auch wir, Mademoiselle, das kann ich Ihnen versichern, weinten bittere Tränen. Mein Bruder Charles, der nun zum Familienoberhaupt geworden war, las den Brief ein zweites Mal, umarmte Charles, streckte den Arm aus und schwor bei der heiligen Reliquie, die uns von unserem Bruder geblieben war, ihn zu rächen.«

»Oh, was für eine traurige Geschichte, Monsieur!«, sagte Claire, die sich die Tränen abwischte.

»Soll ich fortfahren?«, fragte Hector.

»Ach, ich glaube ja«, sagte das junge Mädchen. »Noch nie habe ich etwas Fesselnderes und zugleich Schmerzlicheres gehört.«


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