119 Die Hand der Herzogin


Am selben Tag verließen René und seine Scharfschützen das Dorf unter einem Himmel, den der Sturm klar und rein zurückgelassen hatte.

René hatte von dem Wirt ein Maultier erworben, auf dessen Rücken Tomeo einen Weidenkorb festgezurrt hatte. Dieser Korb enthielt den Kopf des Bizzarro, der noch immer in die Schürze gewickelt war, deren Zipfel man wieder verknotet hatte. Das Maultier ging voraus, von Tomeo geführt; in hundert Schritt Entfernung folgten ihm die Soldaten, als wollten sie aus instinktivem Entsetzen Abstand zu den abscheulichen Verbrechen halten, deren Ursprung dieser Kopf war.

René hatte Tomeo gebeten, sie nach Reggio zu führen, denn er hielt es für möglich, dass General Reynier während ihrer Abwesenheit die Stadt bereits eingenommen hatte; vielleicht kämen sie gerade noch rechtzeitig, um sich an der Rückeroberung Reggios zu beteiligen, dessen schwache Garnison die bourbonischen Räuberbanden mit Unterstützung der Engländer unter Hochrufen auf König Ferdinand massakriert hatten, nachdem die Niederlage der Franzosen bei Maida ihnen die Stadt ausgeliefert hatte.

»Sie müssen unter allen Umständen in Reggio und Scilla Fuß fassen. Es ist eine Schande, dass die Engländer die Nase auf den Kontinent vorstrecken, und ich kann und will es nicht zulassen. Treffen Sie die entsprechenden Maßnahmen«, hatte der Kaiser seinem Bruder Joseph geschrieben; und gewiss hatte Reynier in dem Wunsch, die erlittene Niederlage wettzumachen, seine Männer zur Eile angetrieben, hatte den Weg ebnen lassen, den René in den Bergen entdeckt hatte, und die Belagerungsgeschütze bereits auf eine Viertelkanonenschussweite an die Stadt herangeschafft. Die Belagerung hatte sicherlich schon begonnen.

Doch als René mit seinen Männern die Ausläufer des Aspromonte erreichte und die kalabrische Küste sehen konnte, waren keine Truppenbewegungen zu erkennen, die auf eine Schlacht hingewiesen hätten. Über der Stadt Reggio stiegen lediglich vereinzelte Rauchfahnen träge in den blauen Himmel. René fragte sich, was dort vor sich gehen mochte, und in seiner Ungeduld kam der Abstieg ihm so zäh und mühsam vor, als ginge es in die Unterwelt hinunter.

Der Wachtposten eines Vorpostens konnte seine Frage endlich beantworten: »Bei den ersten Kanonenschüssen haben sich die ganzen Santa-Fede-Lumpen aus dem Staub gemacht wie ein Schwarm Sperlinge. Sie sind in ihre Boote gesprungen und haben sich nach Sizilien davongemacht.«

»Und die Engländer?«

»Die haben wir nicht zu Gesicht bekommen. Lord Stuart und seine Schiffe sind am Horizont verschwunden.«

Auf den Straßen von Reggio hatten die Soldaten ihre Gewehre zu Pyramiden aufgestellt; die einen saßen im Schatten auf Prellsteinen oder Mäuerchen und hatten ihre spartanischen Rationen hervorgeholt, die sie in kleinen Bissen aßen, um länger etwas davon zu haben, die anderen hatten an den Brunnen ihre Uniformen abgelegt und planschten halbnackt herum, lachend und einander neckend wie Kinder.

Fünf, sechs Häuser brannten noch von dem Bombardement; um zu dem alten Schloss der Aragonier zu gelangen, in dem Reynier seinen Generalstab eingerichtet hatte, mussten René und seine Scharfschützen sich ihren Weg durch rauchende Trümmer bahnen und über halbverkohlte Leichen steigen.

Auf der Piazza Castello hingen büschelweise Erhängte an einem Baum.

»Das sind Briganten, die wir bewaffnet erwischt haben«, sagte ein Soldat, der diesen sinistren Rebstock bewachte. »Sie haben genug unserer Waffenbrüder hingemetzelt!«

In dem Schloss beendeten die Offiziere gerade eine Mahlzeit, die für die vorherigen Bewohner der Stadt zubereitet und von ihnen in ihrer überstürzten Flucht wie alles andere zurückgelassen worden war.

René wurde gemeldet, und Reynier kam ihm mit ausgestreckten Armen entgegen.

»Mein lieber Graf Leo, Sie kommen zu spät«, sagte er und umarmte ihn.

»Muss ich mich aufhängen wie Crillon?«

»Nein, ich habe gefahrlos gesiegt. Um ehrlich zu sein, haben eigentlich Sie Reggio eingenommen, in absentis, indem Sie den Weg fanden, auf dem wir die Belagerungsartillerie heranschaffen konnten.«

»Behalten Sie den Sieg, General«, sagte René lächelnd.

»Sie denken, ich könnte ihn gut brauchen, um mich nach der Niederlage bei Maida zu rehabilitieren?«

»Wäre es so, wäre es mir recht.«

»Und Sie, mein lieber Graf Leo, konnten Sie Ihre Unternehmung glücklich zu Ende bringen?«

»Ich habe den Kopf des Bizzarro und musste mir nicht einmal die Hände mit seinem Blut besudeln.«

»Berichten Sie mir von Ihrer Brigantenjagd, lieber Freund.«

Und René berichtete ihm von seiner langen Verfolgungsjagd, die ergebnislos verlaufen war und die er hatte abbrechen wollen, als die Gefährtin des Banditen ihm dessen Kopf gebracht hatte.

»Ich hätte nicht übel Lust, den Kopf des Mannes zu sehen, der für einige Stunden König von Palmi war und vor dem ganz Kalabrien zitterte.«

Auf ein Zeichen Renés brachte Tomeo den Weidenkorb und holte die unheimliche Fracht heraus.

»So viele Köpfe, die in fünfzehn Jahren abgeschlagen wurden!«, murmelte Reynier und wandte den Blick von den verzerrten Zügen des Bizzarro ab, dem niemand die Augen geschlossen hatte.

»Ja, weiß Gott, und Köpfe, die mir lieb und teuer waren«, erwiderte René mit erstickter Stimme. »In jahrelanger erzwungener Einsamkeit habe ich gründlich darüber nachgedacht, welchen Sinn man in den Bergen von Menschenopfern sehen soll, die mich zuerst mit tiefstem Entsetzen erfüllt haben.«

»Und zu welchem Schluss sind Sie gelangt?«

»Dass das Schafott eines der Mittel ist, deren sich eine unergründliche Macht bedient hat – nennen Sie sie Gott oder Vorsehung, es macht keinen Unterschied! -, um die Hindernisse zu beseitigen, die von den Völkern dem Siegeszug der Freiheit in den Weg gestellt wurden...«

»Der Einfall des guten Doktor Guillotin wäre also kein Zufall, und die Erfindung des Instrumentenbauers mehr als ein glücklicher Einfall?«

»Nein, sie kamen zu ihrer Stunde wie alles Unausweichliche und vom Schicksal Vorherbestimmte. Die Waffe der Revolution musste gebaut werden. Das Flammenschwert, das der Revolution gereicht wurde, setzt sich wie Jupiters Blitz aus zwölf gewundenen Strahlen zusammen: drei Strahlen des Hasses, drei der Rache, drei der Tränen, drei des Blutes. Sagte Saint-Just nicht: ›Wer nicht tief genug schürft, wenn es um die Revolution geht, der gräbt sein eigenes Grab und das der Freiheit‹? General, wir leben in von Revolutionen erschütterten Zeiten, die zu überstehen den Atomen, die wir sind, schwerfällt.«

»Mein lieber Graf Leo, vergessen wir, dass dieser Brigant ein Mensch war, denn durch seine Taten hat er sich unter die blutrünstigen Bestien eingereiht, die Sie einst im Königreich Birma bekämpft haben. Während Sie ihn verfolgten, habe ich mein Wort gehalten. Holen Sie mir Jean«, sagte der General zu seinem Adjutanten, »und sagen Sie ihm, dass er mitbringen soll, was er angefertigt hat.«

Kurz darauf kam ein Soldat herein, an dessen lebhaftem Gebaren und schalkhafter Miene man den Pariser Handwerker erkannte.

»Jean, zeigen Sie Monsieur das Meisterwerk, das Sie für ihn gebaut haben.«

Der Soldat stellte vor René eine große Kiste aus Olivenholz mit goldenen Initialen ab, die kunstvoll gearbeitet und poliert war, und öffnete ihren Deckel; das Innere war mit rotem Samt ausgeschlagen.

»Das ist der Schrein, den ich für den Kopf des Bizzarro in Auftrag gegeben habe; wir werden unseren Wundarzt bitten, ihn sorgfältig zu präparieren, bevor Sie aufbrechen, denn ich gebe Ihnen Urlaub, mein lieber Graf Leo, besser gesagt, ich schicke Sie in Mission nach Neapel: Sie werden König Joseph die Wiedereroberung Reggios verkünden.«

Am nächsten Tag verließen René auf einem der besten Pferde des Generals und Tomeo auf dem Maultier, das er ins Herz geschlossen und Regina getauft hatte, bei Tagesanbruch das Castello und machten sich auf den Weg nach Neapel. Von Maida an nahmen sie den gleichen Weg wie auf der Hinreise, begleitet von der gleichen Heimlichtuerei zwischen Renés Führer und Bauern mit Galgengesichtern, die unvermittelt aus dem Unterholz auftauchten und ebenso schnell wieder darin verschwanden, und jeden Abend legte Tomeo sich in der Herberge zur Sicherheit vor Renés Zimmertür.

Sechs Tage später näherten sie sich eines frühen Morgens Neapel, und je näher sie kamen, desto lauter war das Gelärme der Stadt zu vernehmen. Die Neapolitaner sind das mit Abstand lärmendste Völkchen auf dem ganzen Erdenrund: Ihre Kirchen besitzen zahllose Glocken, ihre Pferde und Maultiere sind über und über mit Glöckchen behängt, ihre Lazzaroni, Frauen und Kinder sind mit einem Mundwerk gesegnet, das nie stillsteht, und alles dröhnt, klingt und schreit ohne Unterlass um die Wette. An der Maddalenabrücke wurden sie von einem Dutzend neugieriger Kinder umringt, die ihrem Gepäck eine so ausgeprägte Wissbegier entgegenbrachten, dass Tomeo sie mit dem Stöckchen vertreiben musste, mit dem er hin und wieder seine geliebte Regina antrieb.

René ließ sich zum Hotel La Vittoria führen, wo Meister Martin Zir ihn herzlich willkommen hieß, denn er hatte René in die Kategorie der großzügigen Reisenden eingeordnet, die zwar schlechte Händler sein mögen, aber ausgezeichnete Kunden sind. Kaum hatte René seine Toilette beendet, erhielt er die Antwort auf den Brief, den er Saliceti geschickt hatte und in dem er um eine dringende Audienz beim König ersuchte; trotz der frühen Stunde erwartete man ihn im Königspalast.

Er begab sich eilig dorthin und wurde von Saliceti zum König geführt. Joseph trat ihm entgegen: »Im Gegensatz zu meinem Bruder wäre es mir am liebsten, man weckte mich nur, um mir gute Nachrichten zu melden. Und ich glaube verstanden zu haben, dass die Nachricht, die Sie überbringen, keine schlechte Nachricht ist …«

»In der Tat, Sire, Reggio ist eingenommen, und das fast ohne einen Schuss. Ein paar Kanonenkugeln genügten, um die Kanaille in die Flucht zu schlagen.«

»Wenn ich mich nicht täusche, ließ Reynier durchblicken, er verdanke diesen Sieg dem Umstand, dass Sie einen Weg ausgekundschaftet hatten, auf dem er die Artillerie bis nach Reggio bringen konnte.«

»Wenn der General es sagt … Aber bei der Einnahme der Stadt war ich nicht anwesend.«

»Ich weiß: Er sagte mir, Sie hätten sich auf die Jagd nach einem Banditen begeben, der im Namen der Bourbonen in Kalabrien Angst und Schrecken verbreitete.«

»Und jetzt ist Kalabrien um diesen einen Banditen ärmer. Aber sie sind ein fruchtbares Geschlecht.«

»Nun rückt eine Invasion Siziliens in greifbare Nähe«, fuhr Joseph fort, »wenn es uns gelingt, von Reggio sieben- bis achttausend Mann über die Meerenge zu bringen, an Land abzusetzen, den Leuchtturm zu besetzen und dort unsere Truppen zusammenzuziehen.«

»Gewiss, Sire, doch zuvor müssen wir in Neapel unsere Marine aufrüsten, damit wir so viele Soldaten wie möglich nach Sizilien entsenden können.«

»Sie haben recht; angesichts der derzeitigen Konstellationen in Europa darf es uns nicht an Truppen mangeln; der Kaiser wird Vorsorge treffen und mir so viele Soldaten schicken, wie ich von ihm verlange. Lesen Sie, was er mir schreibt.«

Und er reichte René eine Depesche, die mit Napoleons hastiger Unterschrift unterzeichnet war:


Seien Sie darauf bedacht, immer bereit zu sein, in Neapel Ihre Truppen einzuschiffen, nach Mortelle zu marschieren und den Leuchtturm einzunehmen. Bewahren Sie darüber größtes Stillschweigen, denn für Spione ist der Weg von Neapel nach Sizilien nicht weit, und eine Indiskretion würde uns in das größte Unglück stürzen. Niemand außer Saliceti, einem Marineoffizier und Ihnen darf davon wissen, auch nicht der Offizier, den Sie nach Otranto und Brindisi entsenden; Sie werden ihm einen versiegelten Brief mitgeben, den er erst öffnen darf, wenn er in Otranto erfährt, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen ist.

»Ich muss Sie nicht eigens um Verschwiegenheit bitten …«

Nachdem der König sie verabschiedet hatte, begleitete der Polizeiminister René bis zur großen Treppe. »Mein lieber René, es versteht sich von selbst, dass ich Sie zum Mittagessen dabehalten werde. Meine Tochter, die Herzogin, würde es mir niemals verzeihen, wenn ich ihr den Bericht über den Tod des Bizzarro vorenthielte.«

Als René drei Stunden später in den Salon der Residenz des Kriegsministers geführt wurde, erwartete ihn die Herzogin von Lavello zusammen mit ihrem Vater und dessen korsischem Sekretär.

»Ah, da sind Sie ja!«, rief die Herzogin, sobald sie René erblickte, vom anderen Ende des Zimmers aus. »Wir haben Sie ungeduldig erwartet! Darf ich Sie weiterhin Graf Leo nennen?«

René bückte sich, um die Kiste aus Olivenholz zu Füßen der Herzogin abzustellen. »Sie dürfen mich bei diesem Namen nennen, er ist mir nicht abhandengekommen. Hier habe ich den Kopf des Bizzarro.«

»Hier ist meine Hand, wie versprochen, Graf Leo.«

René führte ehrerbietig seine Lippen an die kleine aristokratische Hand der Herzogin, deren Wangen sich sichtlich röteten. Und vielleicht um ihre Bewegung zu verbergen, kniete die junge Frau sich vor die Kiste und öffnete den Deckel.

Dann stieß sie einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht.


(Die nächsten drei Kapitel leiten eine spätere Episode des Romans ein.)

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