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13. 6. 1930
Ich lebe immer in der Gegenwart. Die Zukunft kenne ich nicht. Die Vergangenheit gehört mir nicht mehr. Die eine lastet auf mir wie die Möglichkeit zu allem, die andere wie die Wirklichkeit von nichts. Ich habe weder Hoffnungen noch Sehnsüchte. Da ich weiß, was mein Leben bis heute war – so viele Male und in so vielem das Gegenteil dessen, was ich mir gewünscht hatte –, was kann ich da mutmaßen über mein morgiges Leben? Einzig daß es sein wird, was ich nicht vermute, was ich nicht will und was mir von außen zustößt, bisweilen selbst durch mein eigenes Zutun. Da ist nichts in meiner Vergangenheit, an das ich mich erinnerte und mir vergeblich wünschte, es gäbe dafür eine Wiederholung. Ich war immer nur eine Spur, ein Trugbild meiner selbst. Meine Vergangenheit ist all das, was ich nicht zu sein vermochte. Nicht einmal entschwundene Augenblicke rufen Gefühle der Sehnsucht in mir wach: Gefühle verlangen den Augenblick; ist dieser vorüber, wird eine neue Seite aufgeschlagen, und die Geschichte geht weiter, nicht aber der Text.
Kurzer, dunkler Schatten eines städtischen Baumes, leichtes Wasserplätschern in ein tristes Becken, Grün des getrimmten Rasens, öffentlicher Park bei anbrechender Dämmerung – ihr seid in diesem Augenblick das gesamte Universum für mich, denn ihr nehmt mein bewußtes Wahrnehmen ganz und gar in Besitz. Ich möchte vom Leben nicht mehr als wahrnehmen, wie es sich in diesen unvorhersehbaren Nachmittagen verliert zum Geschrei fremder Kinder, die in Parks wie diesem spielen, eingezäunt von der Melancholie der sie umgebenden Straßen, und jenseits des hohen Geästs der Bäume die Kuppel des alten Himmels, an dem die Sterne wiederaufflammen.