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18. 5. 1930
Leben heißt ein Anderer sein. Nicht einmal Fühlen ist möglich, wenn man heute fühlt, wie man gestern gefühlt hat: Heute dasselbe fühlen wie gestern heißt nicht fühlen – heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat, heißt heute der lebendige Leichnam dessen sein, was gestern gelebt und verlorenging.
Alles auf der Tafel von einem Tag zum anderen auslöschen, neu sein mit jedem anbrechenden Morgen, in einem ständigen Wiederaufleben unserer emotionalen Jungfräulichkeit, das, allein das lohnt die Mühe, zu sein oder zu haben, um zu sein oder zu haben, was wir auf unvollkommene Weise sind.
Dieser anbrechende Morgen ist der erste der Welt. Nie fiel dieses ins warme Weiß verblassende Rosa so zum Westen hin auf das Antlitz der Häuser, deren Fenster wie unzählige Augen die mit dem aufgehenden Licht entstehende Stille betrachten. Nie gab es diese Stunde, nie dieses Licht, noch dieses mein Sein. Was morgen sein wird, wird anders sein, und was ich sehen werde, werden Augen sehen, erfüllt von einem neuen Blick.
Hohe Hügel der Stadt! Große Baukunst, steile Hänge, die sie festhalten und noch größer machen, bunte Zusammenballung stufenförmig ansteigender Gebäude, die das Licht aus Schatten und Bränden webt – ihr seid heute, ihr seid ich, weil ich euch sehe, ihr seid morgen, was [ich sein werde?], und ich liebe euch, an der Reling stehend, als kreuzten einander zwei Schiffe und hinterließen eine ungekannte Sehnsucht.