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23. 6. 1932
Das Leben ist eine unfreiwillige Reise, ein Experiment. Eine Reise des Geistes durch die Materie, und da der Geist der Reisende ist, reist man im Geiste. Auf diese Weise hat so manche Seele in der Kontemplation intensiver, extensiver und stürmischer gelebt als andere in der äußeren Welt. Einzig das Ergebnis zählt. Das Gefühlte ist das Gelebte. Ein Traum kann so ermüden wie sichtbare Arbeit. Nie lebt man so sehr, wie wenn man viel denkt.
Wer abseits in einem Tanzsaal steht, tanzt mit allen Tanzenden. Er sieht alles, und weil er alles sieht, lebt er alles. Da alles letztendlich eine Empfindung oder Wahrnehmung von uns ist, ist es ein und dasselbe, ob man einen Körper berührt, sieht oder sich schlicht an ihn erinnert. Ich tanze mithin, wenn ich tanzen sehe. Ich sage wie der englische Dichter, der im Gras liegend drei Schnitter in der Ferne betrachtete: »Ein vierter mäht, und dieser vierte bin ich.«[59]
All dies hier, geäußert wie es empfunden wurde, ist ein Resultat der großen, scheinbar grundlosen Müdigkeit, die mich heute unvermittelt überkommen hat. Ich bin nicht nur müde, sondern auch betrübt, und der Grund für diese Betrübnis ist ebenfalls unbekannt. Ich bin aus Angst den Tränen nahe – nicht Tränen, die man weint, sondern unterdrückt, Tränen einer Krankheit der Seele, nicht eines fühlbaren Schmerzes.
Wie lange habe ich gelebt, ohne gelebt zu haben! Wieviel habe ich gedacht, ohne gedacht zu haben! Auf mir lasten Welten statischen Ungestüms und reglos durchlebter Abenteuer. Ich bin all dessen müde, was ich nie hatte noch je haben werde, und aller künftigen Götter überdrüssig. Ich trage die Wunden aller Schlachten, die ich nie schlug. Meine Muskeln sind müde von der Anstrengung, die ich nie auch nur in Gedanken unternahm.
Trübe, stumm, nichtig … Der Himmel in der Höhe ist der eines toten, fleckigen Sommers. Ich betrachte ihn, als wäre er nicht dort. Ich schlafe, was ich denke, liege im Gehen, ich leide und spüre nichts. Mein so sehnsüchtiges Verlangen gilt nichts, ist nichts, wie der hohe Himmel, den ich nicht sehe, in den ich starre – nicht ich.