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28. 9. 1932


Seit langem schon – ich weiß nicht, ob seit Tagen, ob seit Monaten – zeichne ich keinen Eindruck mehr auf; ich denke nicht, also existiere ich nicht. Ich habe vergessen, wer ich bin; ich vermag nicht zu schreiben, weil ich nicht zu sein vermag. Infolge einer sonderbaren Schläfrigkeit war ich ein Anderer. Feststellen, daß ich mich nicht erinnere, heißt erwachen.

Ich habe eine Zeit meines Lebens bewußtlos verbracht. Ich kehre zu mir zurück ohne die Erinnerung an das, was ich gewesen bin, und die Erinnerung an das, was ich war, leidet unter diesem Bruch. Ich habe die vage Vorstellung eines Zeitraums im Unbekannten, ein Teil meiner Erinnerung versucht vergeblich, den anderen wiederfinden zu wollen. Ich bin außerstande, erneut an mich anzuknüpfen. Falls ich gelebt haben sollte, habe ich vergessen, es wahrzunehmen.

Es ist nicht etwa dieser erste spürbare Oktobertag, der erste mehr als frische, der den toten Sommer in weniger Licht kleidet, der mit seiner kühlen Klarheit in mir das Empfinden gescheiterter Pläne oder eines falschen Willens hervorruft. Es ist nicht etwa die ungewisse Spur einer nutzlosen Erinnerung, die sich durch dieses Zwischenspiel verlorener Dinge zieht. Es ist schmerzhafter als all dies, es ist der Überdruß, sich an das erinnern zu wollen, was sich nicht erinnern läßt, ein Untröstlichsein über all das vom Bewußtsein zwischen Algen und Schilf Verlorene, am Ufer von ich weiß nicht was.

Ich weiß, daß dieser reine, reglose Tag einen wirklichen Himmel hat, dessen Blau weniger klar ist als ein dunkles Blau. Ich weiß auch, daß die Sonne, obschon ein Hauch weniger golden als bisher, Mauern und Fenster mit feuchtem Glanz vergoldet. Und obschon kein Wind weht und keine Brise, die an ihn erinnerte und ihn leugnete, weiß ich dennoch, daß eine wache Frische in der unbestimmten Stadt schläft. All dies weiß ich, ohne zu denken oder zu wollen, und ich verspüre keine Müdigkeit, es sei denn in der Erinnerung, und auch keine Sehnsucht, es sei denn aus Unruhe.

Steril und fern genese ich von der Krankheit, die ich nicht hatte. Hellwach bereite ich mich vor, auf was ich nicht wage. Welcher Schlaf ließ mich nicht schlafen? Welche Liebkosung wollte nicht zu mir sprechen? Wie gut, ein Anderer zu sein beim tiefen, kalten Einatmen eines harten Frühlings! Wie gut – besser als Leben –, dies zumindest denken zu können, während in der Ferne in dem wiedererinnerten Bild das Schilf sich ohne spürbaren Wind meeresgrün über den Fluß neigt!

Wie oft, wenn ich mich an den erinnere, der ich nicht war, denke ich an mich als jungen Menschen und vergesse! Wie anders waren doch die wirklichen Landschaften, die ich nie sah; und wie neu für mich die unwirklichen, die ich wirklich sah. Was kümmert’s mich? Der Zufall führte mich in Räume zwischen den Dingen, wo ich endete, und während die Frische des Tages die Frische der Sonne selber ist, schläft kalt das dunkle Schilf des Flusses im Sonnenuntergang, den ich sehe, ohne daß er stattfände.


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