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25. 7. 1930
Wir lieben niemanden, nie. Wir lieben allein die Vorstellung, die wir von jemandem haben. Unsere eigene Idee – uns selbst also – lieben wir.
Das gilt für die ganze Bandbreite der Liebe. In der sexuellen Liebe suchen wir unser Vergnügen vermittels eines fremden Körpers. In der nichtsexuellen Liebe suchen wir unser Vergnügen vermittels unserer Vorstellung. Der Onanist mag abstoßend sein, doch genaugenommen ist er der vollkommene logische Ausdruck des Liebenden. Als einziger gibt er weder etwas vor, noch betrügt er sich selbst.
Die Beziehungen zwischen zwei Seelen vermittels so ungewisser und gegensätzlicher Dinge wie geläufiger Worte und Gesten sind erstaunlich vielschichtig. Selbst im Augenblick des Erkennens wissen wir nichts voneinander. Zwei Menschen sagen »ich liebe dich« oder denken und fühlen es gegenseitig, und doch verbindet jeder damit eine andere Vorstellung, ein anderes Leben, vielleicht sogar eine andere Farbe, ein anderes Aroma oder einen anderen Duft innerhalb der abstrakten Summe von Eindrücken, die das Seeelenleben ausmacht.
Ich sehe heute so klar, als existierte ich nicht. Mein Denken ist nackt wie ein Skelett, bar aller Fleischfetzen der Illusion des Ausdrucks. Und die Betrachtungen, die ich hier anstelle und wieder verwerfe, beruhen auf nichts – zumindest auf nichts aus den ersten Reihen meines Bewußtseins. Vielleicht war es der Liebeskummer des kaufmännischen Angestellten, vielleicht irgendein Satz aus einer dieser Liebesgeschichten, die unsere Zeitungen von der ausländischen Presse übernehmen, vielleicht auch ein unbestimmter Ekel, den ich mit mir herumtrage und dessen Grund für mich nicht in meinem Körper liegt …
Vergils Scholiast täuschte sich. Insbesondere das Verstehen ermüdet uns. Leben heißt, nicht denken.