IV . Texte Pessoas zum Buch der Unruhe
A. Auszüge aus einigen Briefen
An João de Lebre e Lima[98] , 3. Mai 1914
Was den Überdruß angeht, so fällt mir ein, daß ich Sie etwas fragen wollte … Haben Sie in einer Nummer von A Águia[99] aus dem letzten Jahr einen Text von mir mit dem Titel Im Wald der Entfremdung gesehen? Falls nicht, lassen Sie es mich wissen. Dann bekommen Sie ihn. Mir liegt sehr daran, daß Sie von ihm Kenntnis nehmen. Es ist der einzige von mir veröffentlichte Text, in dem ich den Überdruß und den fruchtlosen Traum, der seiner selbst bereits müde ist, noch bevor er geträumt wird, zum Gegenstand und Thema mache. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Stil dieses Textes zusagt. Es ist ein mir eigener Stil, den hier etliche meiner Freunde scherzhaft »den entfremdeten Stil« nennen, da er in diesem Text zum ersten Mal erschienen ist. Und jetzt ergehen sie sich in Anspielungen wie »entfremdet sprechen«, »entfremdet schreiben« usw.
Dieses Textfragment ist Teil eines meiner Bücher, das weitere, bisher unveröffentlichte Texte enthält, aber noch seine Zeit braucht, bis es abgeschlossen ist; sein Titel lautet Buch der Unruhe, da es vornehmlich gekennzeichnet ist von Ruhelosigkeit und Ungewißheit. Dies wird in dem bereits veröffentlichten Text deutlich. Was scheinbar die Erzählung eines reinen Traums oder Tagtraums ist, ist – und der Leser wird dies, sofern ich es denn habe umsetzen können, sofort und durch die gesamte Lektüre hindurch spüren – ein geträumtes Bekenntnis der Nutzlosigkeit und des schmerzlich fruchtlosen Furors allen Träumens.
An Armando Cortes-Rodrigues[100] , 2. September 1914
… Ich habe nichts geschrieben, was sich lohnte, Ihnen zu schicken. Ricardo Reis und der Futurist Alvaro [de Campos] schweigen. Caeiro hat ein paar Zeilen verbrochen, die vielleicht in einem künftigen Buch Asyl finden … Ich habe hauptsächlich Soziologie und Unruhe zu Papier gebracht. Sie verstehen, das letztere Wort bezieht sich auf das »Buch« gleichen Namens; ich habe in der Tat etliche Seiten dieses krankhaften Elaborats geschrieben. Es geht somit vielschichtig und auf gewundenen Pfaden voran.
An Armando Cortes-Rodrigues, 4. Oktober 1914
… Ich schicke Ihnen auch andere kleine Sachen nicht, die ich dieser Tage verfaßt habe. Einige verdienen es nicht recht, andere sind unvollständig, der Rest besteht aus zusammengestückelten oder unzusammenhängenden Textfragmenten des Buchs der Unruhe. Aber wie es aussieht, habe ich eine neue Art von paulismo[101] entdeckt …
Meine gegenwärtige Geistesverfassung ist von einer tiefen, ruhigen Depression bestimmt. Sie entspricht seit Tagen der des Buchs der Unruhe. Ich habe in der Tat einiges geschrieben, heute zum Beispiel fast ein ganzes Kapitel.
An Armando Cortes-Rodrigues, 19. November 1914
Meine Geistesverfassung zwingt mich derzeit, ohne daß ich etwas dagegen tun könnte, häufig am Buch der Unruhe zu arbeiten. Aber alles nur Fragmente, Fragmente, Fragmente.
An João Gaspar Simões[102] , 28. Juli 1932
Ursprünglich hatte ich die Absicht, die Veröffentlichung meines Werkes mit drei Büchern zu beginnen, und zwar in der hier angeführten Reihenfolge: 1) Portugal[103] , ein kleines Buch mit Gedichten (insgesamt 41), dessen zweiten Teil Mar Português[104] (veröffentlicht in Nr. 4 der Zeitschrift Contemporânea) bildet; 2) Livro do Desassossego[105] (Bernardo Soares, aber nur ersatzweise, denn B. S. ist kein Heteronym, sondern eine literarische Persönlichkeit); 3) Poemas Completas de Alberto Caeiro[106] (mit einem Vorwort von Ricardo Reis, und als Nachwort von Alvaro de Campos die Notas para a Recordação[107] ). Später, im Jahr darauf, allein oder zusammen mit einem weiteren Band, der Cancioneiro[108] (oder ein anderer ebenso ausdrucksloser Titel), in den ich (in den Büchern I bis III oder I bis V) einige meiner zahlreichen verstreuten Gedichte mit hineinnähme, deren unterschiedliche Natur einzig eine solch ausdruckslose Klassifikation zuläßt.
Wie auch immer, im Buch der Unruhe jedenfalls muß noch einiges angeglichen und überarbeitet werden, wobei ich vernünftigerweise nicht annehmen kann, daß mich dies weniger als ein Jahr kostet. Was Caeiro angeht, bin ich noch unentschieden …
An Adolfo Casais Monteiro[109] , 13. Januar 1935
… Wie ich im Namen dieser drei schreibe? Für Caeiro rein inspirativ, es kommt über mich, ich sehe weder vorher noch weiß ich, daß ich schreiben werde. Für Ricardo Reis nach einer abstrakten Überlegung, die plötzlich in einer Ode konkret Ausdruck findet. Für Campos, wenn ich einen plötzlichen Drang zum Schreiben verspüre und nicht weiß, was ich schreiben soll. (Mein Halbheteronym Bernardo Soares, das übrigens in vielerlei Hinsicht Alvaro de Campos ähnelt, erscheint immer, wenn ich müde und schläfrig bin und meine Hemmungen und mein Denkvermögen etwas nachgelassen haben; diese Prosa ist eine ständige Träumerei. Soares ist insofern ein Halbheteronym, als sich seine Persönlichkeit, auch wenn sie nicht die meine, so doch nichts anderes ist als sie, wohl aber eine leichte Verstümmelung von ihr. Soares ist ich, allerdings ohne mein Denkvermögen und ohne meine Emotionalität. Seine Prosa ist wie die meine, bis auf gewisse formale Restriktionen, die der Verstand meinem Schreiben auferlegt, auch unser Portugiesisch unterscheidet sich in nichts; wohingegen Caeiro schlecht portugiesisch schrieb, Campos einigermaßen, doch mit gelegentlichen Fehlern, Reis besser als ich, seinen Purismus allerdings halte ich für übertrieben …)
B. Zwei Anmerkungen
(Für ein Vorwort verwendbare Anmerkung)
Später, in einem gesonderten Buch, die zahlreichen Gedichte sammeln, die ich in fälschlicher Absicht ins Buch der Unruhe hatte aufnehmen wollen; der Titel dieses Buches sollte mehr oder minder darauf hinweisen, daß es Abfall enthält oder etwas Trennendes – jedenfalls etwas, das mit Absonderung zu tun hat.
Dieses Buch könnte, im übrigen, Teil einer endgültigen Sammelstelle für Überreste werden, der veröffentlichte Lagerraum für alles nicht zu Veröffentlichende, das auf diese Weise als trauriges Beispiel überleben kann. Vergleichbar den unvollendeten Versen eines jung verstorbenen Dichters oder den Briefen eines großen Schriftstellers. Aber was ich hier im Sinn habe, ist nicht nur weniger, sondern auch anders, und dieses Anderssein rechtfertigt die Veröffentlichung dieses Buches, da es nicht Grund für seine Nichtveröffentlichung sein dürfte.
Buch der Unruhe
(Anmerkung)
Die Gestaltung des Buches sollte auf einer möglichst strengen Auswahl der überaus unterschiedlichen Textfragmente beruhen, wobei die älteren, dem Seelenleben des Bernardo Soares nicht entsprechenden Texte seinem wahren Seelenleben, so wie es sich heute äußert, angeglichen werden müssen. Zudem ist eine Überarbeitung des gesamten Buches hinsichtlich seines Stils erforderlich, ohne daß jedoch das Träumerische und logisch Inkohärente seines persönlichen Ausdrucks verlorengeht.
Desgleichen ist zu überlegen, ob nicht auch größere Texte mit aufgenommen werden sollten; man könnte sie unter so großartigen Titeln zusammenfassen wie: Totenmarsch für Ludwig II., König von Bayern oder Symphonie einer Unruhigen Nacht. Man könnte den Totenmarsch so belassen, wie er ist, ihn aber ebensogut in ein anderes Buch aufnehmen, in dem alle Großen Texte vertreten wären.
C. Aus dem Vorwort zu Fiktionen des Zwischenspiels
Ich nehme bestimmte Personen in Erzählungen oder Untertitel bestimmter Bücher auf und unterzeichne, was sie sagen, mit meinem Namen; andere wiederum projiziere ich ausschließlich und unterzeichne schlicht, indem ich sage, daß ich ihr Schöpfer bin. Diese Personen unterscheiden sich folgendermaßen: Bei den Personen, die ich deutlich herausstelle, hat der Stil nichts mit dem meinen zu tun oder ist dem meinen sogar gänzlich entgegengesetzt, sofern diese Gestalt dies wünscht; bei den Personen, denen ich meine Unterschrift gebe, unterscheidet sich der Stil nicht von dem meinen, es sei denn in bestimmten unumgänglichen Details, ohne die sie sich nicht voneinander unterschieden.
Ich habe einige dieser Gestalten miteinander verglichen, um ihre Verschiedenheit durch Beispiele aufzuzeigen. Der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares und Baron von Teive, zwei mir fremde Gestalten, schreiben einen im wesentlichen gleichen Stil, mit der gleichen Grammatik und den gleichen Eigenheiten; kurz, sie schreiben einen Stil, der, ob gut oder schlecht, der meine ist. Ich vergleiche die beiden, weil sie ein und dasselbe Phänomen verkörpern: die Unfähigkeit, sich an das wirkliche Leben anzupassen, und dies zudem aus den gleichen Beweggründen. Doch obwohl Baron von Teive und Bernardo Soares das gleiche Portugiesisch schreiben, unterscheidet sich ihr Stil. Der des Edelmanns ist intellektuell, bar aller Bilder, ein wenig, wie soll ich sagen?, steif und borniert; wohingegen der des einfachen Bürgers flüssig ist, Musik und Malerei mit einfließen läßt, sich aber als wenig strukturiert darstellt. Der Edelmann denkt klar, schreibt klar und ist Herr seiner Gefühlsäußerungen, nicht jedoch seiner Gefühle; der Hilfsbuchhalter ist weder Herr seiner Gefühlsäußerungen noch seiner Gefühle, sein Denken ist vielmehr bestimmt von Gefühlen.
Überdies sind sich auch Bernardo Soares und Alvaro de Campos auf beachtliche Weise ähnlich. Allerdings macht sich bei Alvaro de Campos sofort das nachlässige Portugiesisch bemerkbar, die Inkohärenz seiner Bilder, instinktiver und unbeabsichtigter als bei Soares.
Bei der Unterscheidung, die ich zwischen beiden mache, unterlaufen mir bisweilen Fehler, die schwer auf meinem geistigen Differenzierungsvermögen lasten. Zum Beispiel, wenn ich versuche, die klangvolle Komposition Bernardo Soares’ von einer Komposition gleichen Tenors zu unterscheiden, die jedoch die meine ist …
Bisweilen gelingt mir dies auf der Stelle und zu meinem eigenen Erstaunen perfekt; und dies ohne die geringste Eitelkeit, denn ich glaube nicht an ein Fitzelchen menschliche Freiheit; was in mir geschieht, erstaunt mich, als geschähe es in jemand anderem – in zwei Fremden also.
Nur eine große Intuition kann in den Wüsten der menschlichen Seele als Kompaß dienen; nur ein Sinn, der sich des Verstandes bedient, ohne identisch mit ihm zu werden, obgleich sie miteinander verschmelzen, kann diese Traumgestalten in ihrer Wirklichkeit eine von der anderen unterscheiden.
*
Bei diesen Spaltungen der Persönlichkeit oder vielmehr Erfindungen unterschiedlicher Persönlichkeiten lassen sich zwei Stufen oder Charaktere ausmachen, die der aufmerksame Leser an ihren unterschiedlichen Merkmalen erkennen wird. Auf der ersten Stufe ist die Persönlichkeit geprägt von eigenen Vorstellungen und Gefühlen, die sich von den meinen unterscheiden, desgleichen unterscheidet sie sich auf einer niedrigeren Ebene dieser ersten Stufe durch in Überlegungen und Argumenten dargelegte Vorstellungen, die entweder nicht die meinen oder mir unbekannt sind. Der Anarchistische Bankier[110] ist ein Beispiel für diese niedrigere Ebene; das Buch der Unruhe und die Person des Bernardo Soares stellen die höhere Ebene dar.
Der Leser wird bemerken, daß, obgleich ich das Buch der Unruhe unter dem Namen eines gewissen Bernardo Soares, Hilfsbuchhalter in der Stadt Lissabon, veröffentliche, ich ihn dennoch nicht in die Fiktionen des Zwischenspiels mit aufgenommen habe. Und zwar aus folgendem Grund: Auch wenn sich Bernardo Soares von mir in seinen Vorstellungen, seinen Gefühlen, seiner Art zu sehen und zu verstehen unterscheidet, so doch nicht in der Art, in der er sie äußert. Er ist eine andere Persönlichkeit, der ich durch meinen mir eigenen natürlichen Stil Ausdruck verleihe, dabei unterscheidet uns einzig der unvermeidbar besondere Ton, der sich zwangsläufig aus der Besonderheit seiner Emotionen ergibt.
Die Autoren der Fiktionen des Zwischenspiels haben nicht nur andere Vorstellungen und Gefühle als ich, sondern greifen auch auf einen anderen Stil und eine andere Kompositionstechnik zurück. Hier ist jede einzelne Person nicht nur unterschiedlich erdacht, sondern auch vollkommen unterschiedlich beschaffen. Daher ist in den Fiktionen des Zwischenspiels auch der Vers bestimmend. Sich in Prosa zu andern[111] ist weit schwerer.
D. »Metaphysische Gedanken aus dem Buch der Unruhe« [?]
Die einzige Wirklichkeit sind für mich meine Wahrnehmungen. Ich bin eine Wahrnehmung von mir. Dennoch bin ich mir nicht einmal meiner eigenen Existenz gewiß. Gewiß kann ich mir nur jener Wahrnehmungen sein, die ich die meinen nenne.
Die Wahrheit? Ist sie etwas Äußerliches? Ich kann mir ihrer nicht gewiß sein, da sie keine Wahrnehmung von mir ist, nur meiner Wahrnehmungen kann ich mir gewiß sein. Eine Wahrnehmung von mir? Wovon?
Den Traum suchen heißt daher die Wahrheit suchen, denn die einzige Wahrheit für mich bin ich selber. Mich so weit wie möglich von anderen fernhalten heißt die Wahrheit respektieren.
Metaphysik ist nichts anderes als die Suche nach Wahrheit – Wahrheit im Sinne der absoluten Wahrheit. Wenn aber die Wahrheit, was auch immer sie sei – und angenommen, sie ist etwas –, existiert, dann entweder innerhalb oder außerhalb meiner Wahrnehmungen oder sowohl innerhalb als auch außerhalb. Wenn sie außerhalb meiner Wahrnehmungen existiert, ist sie etwas, dessen ich mir nie sicher sein kann, und folglich existiert sie nicht für mich, ist für mich nicht nur das Gegenteil der Gewißheit, denn ich bin mir nur meiner Wahrnehmungen gewiß, sondern auch das Gegenteil von Sein, denn das einzige, das für mich existiert, sind meine Wahrnehmungen. So daß, wenn sie denn außerhalb meiner Wahrnehmungen existiert, die Wahrheit für mich der Ungewißheit und dem Nicht-Sein gleichkommt, nicht existiert und daher nicht die Wahrheit ist. Doch stellen wir einmal die absurde Hypothese auf, meine Wahrnehmungen seien ein Irrtum und ein Nicht-Sein (was absurd ist, da es sie mit Gewißheit gibt) – in diesem Falle ist die Wahrheit das Sein und existiert ganz und gar außerhalb meiner Wahrnehmungen. Die Vorstellung von Wahrheit aber ist eine Vorstellung von mir und existiert daher innerhalb meiner Wahrnehmungen: infolgedessen existiert die Wahrheit als abstrakte und außerhalb von mir befindliche Wahrheit in mir – ist somit ein Widerspruch und ein Irrtum.
Oder aber wir nehmen an, die Wahrheit existiert innerhalb meiner Wahrnehmungen. In diesem Falle wiederum ist sie entweder die Summe aller Wahrheiten, ein Teil von ihnen oder gar eine Wahrheit für sich. Wenn sie eine meiner Wahrheiten ist, worin unterscheidet sie sich dann von den anderen? Wenn sie eine Wahrheit für sich ist, unterscheidet sie sich nicht wesentlich von den anderen, müßte sich aber, damit sie sich unterschiede, wesentlich von ihnen unterscheiden. Wenn sie jedoch keine Wahrnehmung ist, ist sie keine Wahrnehmung. – Wenn sie aber ein Teil meiner Wahrnehmungen ist, welcher Teil ist sie dann? Die Wahrnehmungen haben zwei Seiten, einerseits werden sie empfunden, andererseits gelten sie als empfundene Dinge, zum einen gehen sie auf mich zurück, zum anderen auf »Dinge«. Dies ist eine jener Seiten, die die Wahrheit, wenn sie denn Teil meiner Wahrnehmungen ist, sein muß. (Wenn sie auf die eine oder andere Art mehrere Wahrnehmungen ist, die sich zu einer einzigen Wahrnehmung zusammenschließen, gerät sie in die Fänge des Denkvermögens, das zu der vorherigen Annahme führt.) Wenn sie eine der beiden Seiten darstellt, dann welche? Die »subjektive«? Diese subjektive Seite aber stellt sich mir in zweierlei Form dar, entweder als meine eine »Individualität« oder als eine »meiner« multiplen Individualitäten. Im ersten Fall ist sie eine meiner Wahrnehmungen, nicht anders als andere, und ist bereits durch das vorausgegangene Argument widerlegt. Im zweiten Fall ist diese Wahrheit multipel und vielfältig, ist mehrere Wahrheiten – was der Vorstellung von Wahrheit widerspricht, was auch immer sie wert sein mag. Ist es also die objektive Seite? Das gleiche Argument wird hier angeführt, denn entweder handelt es sich um den Zusammenschluß dieser Wahrnehmungen zu einer Vorstellung von einer äußeren Welt – und diese Vorstellung ist entweder nichts oder aber eine meiner Wahrnehmungen, und sofern sie eine Wahrnehmung ist, ist diese Annahme somit bereits widerlegt; oder aber diese Seite gehört zu einer multiplen äußeren Welt, dies reduziert sie auf meine Wahrnehmungen, und in diesem Fall ist die Vielzahl der Formen das Wesentliche an der Vorstellung von Wahrheit.
Es bleibt zu analysieren, ob die Wahrheit die Gesamtheit meiner Wahrnehmungen ist. Diese Wahrnehmungen können entweder als eine oder als viele angesehen werden. Im ersten Fall greifen wir noch einmal auf die bereits verworfene Annahme zurück. Im zweiten verschwindet die Wahrheit als Vorstellung, da sie sich mit der Gesamtheit meiner Wahrnehmungen verbindet. Um aber die Gesamtheit meiner Wahrnehmungen sein und als die meinen verstanden werden zu können, verzettelt sich die nackte Wahrheit und verschwindet. Denn entweder sie gründet sich auf die Vorstellung von Gesamtheit, die eine Vorstellung (oder Wahrnehmung) von uns ist, oder aber sie stützt sich auf nichts. Dennoch beweist nichts die Identität der Wahrheit und der Gesamtheit. Daher gibt es keine Wahrheit.
Wir aber haben die Vorstellung …
Und zugleich mit unserer Vorstellung sehen wir, daß sie keiner »Wirklichkeit« entspricht, vorausgesetzt, Wirklichkeit bedeutet etwas. Die Wahrheit hingegen ist eine Vorstellung oder Wahrnehmung von uns, wovon, wissen wir nicht, ohne Bedeutung und daher wertlos, wie jede andere unserer Wahrnehmungen auch.
Daher bleiben uns unsere Wahrnehmungen als einzige »Wirklichkeit«, eine Wirklichkeit, die sogar »wirklich« einen gewissen Wert hat, uns aber letztlich nur zu schwadronieren erlaubt. An »Wirklichem« haben wir nur unsere Wahrnehmungen, aber »wirklich« (eine unserer Wahrnehmungen) bedeutet nichts, noch bedeutet »bedeuten« etwas, noch hat das Wort »Wahrnehmung« einen Sinn, noch ist »Sinn haben« etwas, das einen Sinn hätte. Alles ist ein und dasselbe Geheimnis. Ich bemerke jedoch, daß nicht einmal alles etwas bedeuten kann oder »Geheimnis« ein Wort ist, das eine Bedeutung hätte.
Erläuterung der Zeichen
[?] Zweifel des portugiesischen Herausgebers an der Entschlüsselung eines handschriftlichen Wortes. [ …] Lücke im portugiesischen Original oder nicht lesbar. [ ] Vom Herausgeber hinzugefügtes Wort.