Nachbemerkung der Übersetzerin



Im Mai 2002 traf ich Richard Zenith, den Herausgeber der dieser Übersetzung zugrundeliegenden Originalausgabe des Buchs der Unruhe, in einem alten Lissabonner Kaffeehaus an der Avenida da República. Der amerikanische Übersetzer, Literaturkritiker und Pessoakenner kam gerade aus der Nationalbibliothek, in der er seit Jahren einen Großteil seiner Zeit mit dem Erforschen und Transskribieren des umfangreichen und noch immer nicht vollständig gesichteten und veröffentlichten literarischen Nachlasses Fernando Pessoas verbringt.

Er brachte einen Stoß kopierter Originalmanuskripte mit. Es war ein fast feierlicher Moment, als ich jene kaum entzifferbaren Blätter sah, jene unterschiedlichen Schriften, in denen Pessoa von frühester Jugend bis zu seinem Tod unter verschiedenen Namen unterschiedliche Personen – seine Heteronyme – zu Wort hat kommen lassen. Personen mit eigener Biographie, eigenem Aussehen, eigener Persönlichkeit, eigenen philosophischen, religiösen und politischen Ansichten und einem eigenen literarischen Stil. Menschen, die, wie den vereinzelten Rotweinflecken auf den Manuskripten zu entnehmen war, beim Schreiben wohl hin und wieder dem Alkohol zusprachen oder deren Schrift nach Stunden des Denkens und innerer Zwiesprache fahriger und flüchtiger wurde.

Pessoa war ein dem Schreiben Verfallener. Mit 19 tauschte er die Philosophische Fakultät der Universität Lissabon gegen die portugiesische Nationalbibliothek ein, um sich dort der Lektüre der großen Werke der Weltliteratur, Philosophie, Soziologie und Geschichte zu widmen. Mit einer Erbschaft seiner Großmutter gründete er 1907 einen kleinen Verlag nebst Druckerei, der jedoch bald Konkurs machte. Zugunsten einer weitgehend unabhängigen Schriftstellerexistenz lehnte Pessoa einen Lehrauftrag für Englisch an der renommierten Universität Coimbra ebenso ab wie lukrative und leitende Stellenangebote und arbeitete statt dessen von 1908 (seinem zwanzigsten Lebensjahr) an bis zu seinem Tod 1935 für verschiedene Handelshäuser in der Lissabonner Unterstadt als Fremdsprachenkorrespondent. Er lebte zuweilen bei seiner Familie, meist aber zur Untermiete in möblierten Zimmern, die er häufig wechselte. Er schrieb auf Englisch, Französisch und Portugiesisch; Lyrik, Prosa, Theaterstücke, philosophische, religionsphilosophische und politische Abhandlungen und Kritiken. Ungeachtet seines eher einsamen, zurückgezogenen Lebens war Pessoa ein bekannter Intellektueller seines Landes und galt als einer der führenden Köpfe des portugiesischen Modernismus, er war Erfinder und Begründer verschiedener literarischer Strömungen sowie Herausgeber bahnbrechender literarischer Zeitschriften; gleichwohl wurde zu seinen Lebzeiten nur ein Bruchteil seines umfangreichen Werkes veröffentlicht.

1982, 47 Jahre nach Pessoas Tod, erschien in Lissabon beim Verlag Atica postum sein Hauptwerk O Livro do Desassossego (Das Buch der Unruhe). Jacinto do Prado Coelho, Teresa Sobral Cunha und Maria Aliete Galhoz sind die Herausgeber der tagebuchartigen Aufzeichnungen, Notizen und Betrachtungen des pessoanischen Alter egos Bernardo Soares, an denen Pessoa über 20 Jahre, von 1913 bis 1934, geschrieben hat. Sie haben bei der zum Großteil überaus schwierigen Entzifferung der hand- und maschinengeschriebenen losen Sammlung von Texten und Textfragmenten Pionierarbeit geleistet. Da Pessoa, obgleich er plante, eine eigene Werkausgabe mit dem Buch der Unruhe zu eröffnen, nichts zur Anordnung der Texte hinterlassen hat, ist jeder in- und ausländische Herausgeber damit nach eigenem Gutdünken verfahren. Das Buch hat seit 1982 in Portugal drei weitere überarbeitete Ausgaben erfahren. Die letzte, 1998 von Richard Zenith herausgegeben und im Rahmen einer neuen und erweiterten Werkausgabe bei Assírio & Alvim erschienen, liegt heute bereits ebenfalls in einer dritten, verbesserten und erweiterten Auflage vor, an der sich die deutsche Übersetzung orientiert.

Georg Rudolf Lind, der Herausgeber und Übersetzer des 1985 im Ammann Verlag erschienenen Buchs der Unruhe, hat sich in seiner Ausgabe zugunsten eines stringenteren Textes für nur rund die Hälfte der damals und heute vorliegenden Textfragmente entschieden und sie auch nach eigenen, von den damaligen und heutigen portugiesischen Herausgebern abweichenden Kriterien geordnet.

Anders als bei Georg Rudolf Lind wird der Leser hier also kein gestrafftes Werk vorfinden und sich vielleicht über dessen bisweilen repetitiven, obsessiven und fragmentarischen Charakter wundern. Lediglich im Anhang habe ich auf einige wenige Satzfragmente verzichtet, aber einen für das Verständnis des Lesers aufschlußreichen Brief Pessoas an seinen Freund Mario de Sá-Carneiro eingefügt. Bei den über sechshundert von Pessoa vermerkten Wort- und Satzvarianten habe ich mich ebenso wie Lind zumeist an die erste Fassung gehalten und nur in wenigen Fällen zusätzlich eine als interessant erscheinende Variante im Anhang vermerkt.

Hätte Pessoa sein Buch der Unruhe selbst veröffentlicht, wäre dies vielleicht in einer anderen als der uns vorliegenden Form geschehen. So aber gibt es Einblick in Größe und Delirium eines vielfältigen Ichs, einer beunruhigend unruhigen, faszinierenden Existenz.

Zum Schluß möchte ich mich noch bei meinen Freunden und Kollegen für die Unterstützung bei dieser schönen, aber einsamen und nicht immer leichten Arbeit des Übersetzens bedanken; allen voran Birgit Feld-Raetzer und Karin von Schweder-Schreiner.


Inés Koebel


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