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Wo ist Gott, auch wenn er nicht existiert? Beten will ich und weinen, Verbrechen bereuen, die ich nicht begangen habe, Vergebung genießen wie eine nicht wirklich mütterliche Liebkosung.
Einen Schoß zum Weinen, groß, übergroß, gestaltlos, weit wie eine Sommernacht und dennoch nah, warm, weiblich, neben einem Herdfeuer … Dort über Unvorstellbares weinen können, über unerklärliche Niederlagen, über inexistente Lieben und ein großes, angstvolles Erschaudern vor ich weiß nicht welcher Zukunft …
Noch einmal Kind sein, noch einmal eine alte Amme haben und ein Bettchen, in dem ich mich in den Schlaf wiegen lasse von Geschichten, denen meine immer lauere Aufmerksamkeit kaum mehr folgen kann, Geschichten von großen Gefahren, die vordringen zu einem Kinderhaarschopf, blond wie Weizen … Und all dies riesig, ewig, endgültig für immer und in Gottes erhabener Gestalt, dort in der traurigen, schläfrigen Tiefe der letzten Wirklichkeit der Dinge …
Einen Schoß oder eine Wiege oder einen warmen Arm um meinen Hals … Eine Stimme, die leise singt, als wolle sie mich zum Weinen bringen … Das Knistern des Herdfeuers … Wärme im Winter … Ein laues Abschweifen meines Bewußtseins … Dann, lautlos, ein stiller Traum in unermeßlicher Weite, wie ein Mond zwischen den Sternen kreisend …
Wenn ich meine Kunstgriffe beiseite lasse und mein Spielzeug – Wörter, Bilder, Sätze – mit Sorgfalt, Zärtlichkeit und dem Wunsch, sie zu küssen, in einer Ecke verstaue, fühle ich mich so klein, so wehrlos, so allein in diesem großen Zimmer, so traurig, so abgrundtief traurig! …
Wer eigentlich bin ich, wenn ich nicht spiele? Ein armes Waisenkind, ausgesetzt in den Straßen der Empfindung, fröstelnd an den Ecken der Wirklichkeit, gezwungen, auf den Stufen der Traurigkeit zu schlafen und sich vom Brot der Phantasie zu nähren. Von meinem Vater weiß ich den Namen: Ich hörte, er hieße Gott, doch der Name sagt mir nichts. Manchmal in der Nacht, wenn ich mich allein fühle, rufe ich nach ihm und weine und versuche, mir ein Bild von ihm zu machen, das ich lieben kann … Doch dann denke ich, daß ich ihn nicht kenne, daß er meinem Bild vielleicht nicht entspricht und vielleicht nie und nimmer der Vater meiner Seele ist …
Wann wird all dies ein Ende haben? Die Straßen, durch die ich mein Elend schleppe, die Stufen, auf die ich mein Frösteln kauere und die Hände der Nacht zwischen meinen Lumpen spüre? Wenn Gott mich eines Tages holte und zu sich nähme, wenn er mir Wärme und Zuneigung schenkte … Manchmal denke ich das und weine allein bei dem Gedanken vor Freude, daß ich es denken kann … Doch der Wind weht durch die Straße, und die Blätter fallen auf den Gehsteig … Ich schaue auf und sehe die Sterne, die keinen Sinn haben … Und von alldem bleibe nur ich, ein armes, ausgesetztes Kind, das keine Liebe an Kindes Statt annehmen und keine Freundschaft zum Spielgefährten haben wollte.
Mir ist bitterkalt. Ich bin so müde in meiner Verlassenheit. O Wind, bring mir meine Mutter. Trag mich durch die Nacht zu der Heimstatt, die ich nie kannte … O große Stille, gib mir meine Amme zurück, meine Wiege, mein Schlaflied …