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In den gelegentlichen Momenten der Distanzierung, in denen wir uns unserer selbst als Individuen, als andere in den Augen anderer bewußt werden, habe ich mich immer gefragt, welchen physischen und auch moralischen Eindruck ich wohl auf all jene mache, die mich tagtäglich oder zufällig sehen und mit mir sprechen.
Wir alle sind daran gewöhnt, uns selbst vorzugsweise als geistige und die anderen als unmittelbar körperliche Wirklichkeiten zu betrachten; uns selbst sehen wir nur vage als körperliche Wesen und so, wie wir auf die anderen wirken; und die anderen sehen wir nur vage als geistige Wirklichkeiten, und nur in der Liebe oder im Konflikt wird uns wirklich bewußt, daß die anderen, wie auch wir, vor allem eine Seele haben.
Deshalb verliere ich mich zuweilen in unnützen Überlegungen, zu welcher Art Mensch mich wohl zählt, wer mich sieht, wie wohl meine Stimme klingt, welches Bild ich im unfreiwilligen Gedächtnis anderer hinterlasse, auf welche Weise sich meine Gesten, meine Worte, mein scheinbares Leben in die Netzhäute der fremden Deutung eingravieren. Ich habe es nie vermocht, mich von außen zu sehen. Es gibt keinen Spiegel, der uns uns selber als äußere Wesen zeigen könnte, weil kein Spiegel uns selbst aus uns herausnehmen könnte. Dazu wäre eine andere Seele, eine andere Ordnung des Sehens und Denkens notwendig. Wenn ich Filmschauspieler wäre oder meine Stimme auf Schallplatten aufnehmen ließe, wüßte ich dennoch, daß ich nicht wüßte, was ich äußerlich bin, was ich für die andere Seite darstelle, denn ob ich will oder nicht und was auch immer man von mir aufnimmt, ich bin stets hier, im Inneren, umschlossen von den hohen Mauern des Hofs meines Bewußtseins meiner selbst.
Ich weiß nicht, ob es anderen nicht ebenso ergeht, ob die Kenntnis des Lebens nicht im wesentlichen darin besteht, sich selbst so entfremdet zu sein, daß die Entfremdung zur zweiten Natur wird und man am Leben als ein seinem eigenen Bewußtsein Fremder teilhaben kann; oder ob die anderen, noch introvertierter als ich, die Dreistigkeit besitzen, nur sie selbst zu sein. Sie leben als äußerliche Wesen dank jenem Wunder, vermittels dessen die Bienen besser organisierte Gesellschaften bilden als jede Nation und die Ameisen sich mit der Sprache ihrer winzigen Antennen verständigen, die in ihren Ergebnissen unsere komplexen Verständigungsschwierigkeiten hinter sich läßt.
Die Geographie unseres Bewußtseins zeigt überaus vielfältige Küsten und äußerst vielgestaltige Berge und Seen. Und alles wirkt auf mich, wenn ich länger darüber nachdenke, wie eine Landkarte nach Art des Pays du Tendre[57] oder aus Gullivers Reisen, eine exakte Spielerei, die in ein ironisches oder phantasievolles Buch aufgenommen wurde zum Gaudium höherer Wesen, die wissen, wo Länder wirklich Länder sind.
Für den Denkenden ist alles komplex, und zweifellos macht es das Denken mit der Lust, die er am Denken hat, noch komplexer. Wer aber denkt, den verlangt es, seinen Verzicht mit einem umfassenden Programm des Verstehens zu rechtfertigen, das wie die Argumente der Lügner mit einem Übermaß an Einzelheiten aufwartet, die, entfernt man die Erde ein wenig, die Wurzel der Lüge aufdecken.
Alles ist komplex, oder aber ich bin es. Aber wie dem auch sei, es hat nichts zu bedeuten, weil, wie dem auch sei, nichts etwas zu bedeuten hat. All dies, alle diese von der breiten Straße abweichenden Betrachtungen vegetieren in den Hinterhöfen der ausgeschlossenen Götter wie Kletterpflanzen fern ihrer Wände. Und in dieser Nacht, in der ich diese unzusammenhängenden Betrachtungen abschließe, lächle ich über die Ironie des Lebens, die sie aus einer Menschenseele hervorgehen läßt, einem Waisenkind der großen Gründe des Schicksals vor Anbeginn der Gestirne.