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5. 2. 1930
Nicht die schäbigen Wände meines gemieteten Zimmers, nicht die alten Schreibtische des Büros, in dem ich arbeite, nicht das Ärmliche der vertrauten Unterstadtstraßen dazwischen, so viele Male durchlaufen, daß sie mir schon im Unveränderlichen erstarrt zu sein scheinen – nicht sie sind die Ursache für den geistigen Ekel, der mich angesichts der Schäbigkeit des Alltagslebens so häufig befällt. Die Menschen, die mich gewöhnlich umgeben, die Seelen, die mich durch tagtägliches Zusammensein und Gespräche kennen, ohne mich zu kennen, sie verursachen jenen Speichelkloß physischen Ekels in meinem geistigen Hals. Die schäbige Monotonie ihres Lebens, dem äußeren Ablauf des meinen parallel, ihre feste Überzeugung, meinesgleichen zu sein, sie stecken mich in die Zwangsjacke, in die Zuchthauszelle, machen mich apokryph und zum Bettler.
In manchen Momenten interessiert mich jedes einzelne Merkmal des Gewöhnlichen um seinetwillen, und ich verspüre allem gegenüber das zärtliche Verlangen, alles klar und deutlich lesen zu können. Dann sehe ich – wie Vieira sagt, daß Sousa[9] es nennt – »das Gewöhnliche in seiner Einzigartigkeit« und besitze jene dichterische Seele, mit der die Kritik der Griechen das intellektuelle Zeitalter der Dichtung bestimmte. Doch es gibt auch Momente wie diesen, der mich gerade bedrückt, in denen ich mich selbst deutlicher wahrnehme als äußere Dinge und sich mir alles in eine Nacht aus Schlamm und Regen verwandelt und ich verloren in der Einsamkeit einer abgelegenen Eisenbahnstation auf den nächsten Zug dritter Klasse warte.
Ja, meine heimliche Tugend, so oft wie möglich objektiv zu sein, um nicht über mich nachzudenken, kennt wie alle Tugenden und auch Laster Phasen des Niedergangs. Dann frage ich mich, wie ich es fertigbringe, weiterzuleben, woher ich die Feigheit nehme, hier, zwischen all diesen Leuten, zu bleiben, zu sein wie sie, mich tatsächlich abzufinden mit ihren Schrott-Illusionen. Und wie Blitze eines fernen Leuchtturms fallen mir Lösungen ein, die beweisen, daß die Phantasie eine Frau ist: Selbstmord, Flucht, Verzicht, die großen Gesten aristokratischer Individualität, der Mantel-und-Degen-Roman von Existenzen ohne Balkon.
Doch die ideale Julia der besseren Wirklichkeit hat dem fiktiven Romeo meines Blutes das hohe Fenster des literarischen Gesprächs vor der Nase zugeschlagen. Sie gehorcht ihrem Vater; er gehorcht seinem Vater. Der Streit der Montagues und der Capulets geht weiter; über dem Nichtgeschehenen geht der Vorhang nieder, und ich gehe zurück nach Hause – in mein Zimmer, zu seiner schmuddeligen Vermieterin, die nicht da ist, ihren Kindern, die ich nur selten zu Gesicht bekomme, und meinen Kollegen, die ich erst morgen wiedersehe – den Jackenkragen des kaufmännischen Angestellten wie selbstverständlich über den Hals des Dichters hochgeschlagen, der seine Stiefel immer im gleichen Geschäft kauft, automatisch den Pfützen des kalten Regens ausweicht und dessen Gefühle leicht gemischt sind, da er einmal mehr seinen Regenschirm und seine Seelenwürde vergessen hat.