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5. 4. 1933
Unsere größte Angst für belanglos erachten, nicht nur im Leben des Weltalls, sondern auch in dem unserer Seele, deutet auf Weisheit hin. Dies zu tun, wenn diese Angst uns ergreift, bedeutet Weisheit. Leiden wir, erscheint uns der menschliche Schmerz maßlos. Doch ist weder der menschliche Schmerz maßlos – denn nichts Menschliches ist maßlos –, noch ist unser Schmerz mehr als ein von uns empfundener Schmerz.
Wie oft bleibe ich nicht stehen, niedergezwungen von einem an Wahnsinn grenzenden Überdruß oder einer noch darüber hinausgehenden Angst, zögere, ehe ich aufbegehre, stehe zögernd da, ehe ich mich zum Gott erhebe. Der Schmerz, das Geheimnis der Welt nicht zu kennen, der Schmerz, nicht geliebt, der Schmerz, ungerecht behandelt, der Schmerz, vom Leben erstickt, gefesselt, niedergezwungen zu werden, Zahnschmerzen, der Schmerz, weil uns der Schuh drückt – wer kann sagen, welcher von all diesen Schmerzen der schlimmste ist, für ihn selbst, für einen anderen oder die Mehrzahl unserer Mitmenschen?
Manche, die mit mir sprechen und mich hören, halten mich für unsensibel. Ich selbst jedoch halte mich für sensibler als die umfangreiche Mehrheit der Menschen. Ich bin ein Sensibler, der sich kennt und infolgedessen auch die Sensibilität.
Ach, es ist nicht wahr, das Leben ist nicht schmerzlich, und es ist auch nicht schmerzlich, an das Leben zu denken. Wahr aber ist, daß unser Schmerz nur echt und schlimm ist, wenn wir vorgeben, er sei es. Wenn wir natürlich bleiben, geht er vorüber, wie er gekommen, schwindet, wie er entstanden ist. Alles ist nichts, unser Schmerz inbegriffen.
Ich schreibe dies unter dem Zwang eines Überdrusses, der nicht Platz findet in mir und mehr Raum braucht als meine Seele; unter dem Zwang von allen und allem, das mich würgt und verwirrt; unter dem körperlichen Gefühl, mißverstanden zu werden, das mich verstört und vernichtet. Doch ich hebe mein Haupt zum fernen Blau des Himmels, halte mein Gesicht in den unbewußt frischen Wind, senke die Lider, nachdem ich gesehen, vergesse mein Gesicht, nachdem ich gespürt habe. Mir ist nicht besser, aber anders. Mich zu sehen, befreit mich von mir. Ich könnte beinahe lächeln, nicht, weil ich mich verstünde, sondern weil ich, ein anderer geworden, mich nicht mehr verstehen kann. Am hohen Himmel steht, wie ein sichtbares Nichts, eine winzige Wolke, ein weißes Vergessen des ganzen Universums.