Ein Brief



Seit unbestimmt vielen Monaten sehen Sie mich Sie betrachten, Sie fortgesetzt betrachten, mit dem immer gleichen unsicheren, besorgten Blick. Ich weiß, Sie haben es bemerkt. Und da Sie es bemerkt haben, dürften Sie es befremdlich finden, daß dieser nicht wirklich scheue Blick nie auch nur etwas andeutet. Immer wach, unbestimmt, unverändert, als genüge es ihm, nur der traurige Ausdruck all dessen zu sein … Nichts sonst … Doch müßten Sie, wenn Sie über all dies nachdenken – unabhängig von dem, was Sie dabei empfinden –, meine möglichen Absichten durchschauen. Sie dürften sich ohne allzu große Überzeugung sagen, daß ich entweder eine scheue Natur besonderer, wenn nicht sonderbarer Art bin oder aber so etwas wie ein Verrückter.

Doch was mein Betrachten Ihrer Person angeht, meine Dame, bin ich weder ein ausgesprochen scheuer noch ein erwiesenermaßen verrückter Mensch. Ich bin etwas gänzlich anderes, wie ich Ihnen, ohne allzu große Hoffnung, daß Sie mir Glauben schenken, darlegen werde. Wie oft habe ich Ihrem von mir erträumten Wesen nicht zugeraunt: »Erfülle deine Pflicht und sei nutzlose Amphore, folge deiner Berufung und sei ganz Kelch.«

Wie sehr sehnte ich mich zurück nach meiner Vorstellung, die ich mir von Ihnen hatte machen wollen, als ich eines Tages begriff, daß Sie verheiratet waren! Ein tragischer Tag in meinem Leben. Nicht daß ich auf Ihren Ehemann eifersüchtig gewesen wäre. Ich habe mich nie auch nur gefragt, ob Sie einen Ehemann haben. Ich sehnte mich schlicht nach meiner Vorstellung von Ihnen. Müßte ich eines Tages die absurde Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß eine Frau auf einem Gemälde – jawohl, einem Gemälde – verheiratet ist, mein Schmerz wäre der gleiche.


Sie besitzen? Ich weiß nicht, wie man das anstellt. Und selbst wenn ich mit dem menschlichen Makel behaftet wäre, es zu wissen, wie schändlich verriete ich mich, wie spräche ich meiner eigenen Größe hohn, dächte ich auch nur daran, mich mit Ihrem Ehemann auf eine Stufe zu stellen!

Sie besitzen? Wenn Sie irgendwann zufällig durch eine dunkle Straße gehen, könnte Sie jemand überfallen und Besitz von Ihnen ergreifen, könnte Sie befruchten und seine Spur in Ihrem Uterus hinterlassen. Wenn Sie besitzen bedeutet, Ihren Körper zu besitzen, was ist daran gut?

Daß der Angreifer nicht Ihre Seele besitzt? … Wie ergreift man Besitz von einer Seele? Gäbe es denn überhaupt einen Liebenden, der geschickt genug wäre, Ihre »Seele« besetzen zu können […]? Möge Ihr Ehemann derjenige sein … Oder soll ich mich etwa herablassen auf eine Stufe mit ihm?


Wie viele Stunden habe ich nicht in der heimlichen Gesellschaft meiner Vorstellung von Ihnen verbracht! Wie sehr haben wir einander geliebt in meinen Träumen! Doch nicht einmal im Traum, ich schwöre es Ihnen, habe ich je daran gedacht, Sie zu besitzen. Ich bin zartfühlend und keusch, selbst als Träumer. Nicht einmal die Vorstellung von einer schönen Frau taste ich an.


*

Ich könnte meine Seele nie dahin gehend beeinflussen, daß sie meinen Körper veranlaßt, den Ihren in Besitz zu nehmen. Allein beim Gedanken daran stoße ich in meinem Inneren an unsichtbare Hindernisse und verstricke mich in eigenen unerklärlichen Netzen. Was widerführe mir nicht noch alles, wollte ich Sie wirklich besitzen!

Ich wäre, ich wiederhole es, außerstande, dies auch nur zu versuchen. Nicht einmal im Traum bin ich dazu imstande.


Dies, meine Dame, sind die Worte, die ich Ihnen als Antwort auf Ihren unfreiwillig fragenden Blick schreiben muß. Und in genau diesem Buch werden Sie diesen Brief an Sie zum ersten Mal lesen. Sofern Sie nicht erahnen, daß er für Sie bestimmt ist, werde ich mich damit abfinden. Ich schreibe eher zum eigenen Vergnügen, als um Ihnen etwas mitzuteilen. Einzig Geschäftsbriefe sind zielgerichtet. Alle anderen Briefe sollten, zumindest im Falle eines überlegenen Menschen, immer nur an ihn selbst gerichtet sein.

Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Seien Sie meiner uneingeschränkten Bewunderung versichert. Es gefiele mir, wenn Sie hin und wieder an mich dächten.


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