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9. 3. 1930


Ich wurde zu einer Zeit geboren, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott aus dem gleichen Grund verloren hatte, aus welchem ihre Vorfahren ihn hatten – ohne zu wissen warum. Und weil der menschliche Geist von Natur aus dazu neigt, Kritik zu üben, weil er fühlt, und nicht, weil er denkt, wählten die meisten dieser jungen Leute die Menschheit als Ersatz für Gott. Ich gehöre jedoch zu jener Art Menschen, die immer am Rande dessen stehen, wozu sie gehören, und nicht nur die Menschenmenge sehen, deren Teil sie sind, sondern auch die großen Räume daneben. Deshalb habe ich Gott nie so weitgehend aufgegeben wie sie und niemals die Menschheit als Ersatz akzeptiert. Ich war der Ansicht, daß Gott, obgleich unbeweisbar, dennoch vorhanden sein und also auch angebetet werden könne, daß aber die Menschheit, da sie eine rein biologische Vorstellung ist und nichts anderes bedeutet als eine Gattung von Lebewesen, der Anbetung nicht würdiger sei als irgendeine andere Gattung von Lebewesen. Dieser Menschheitskult mit seinen Riten von Freiheit und Gleichheit erschien mir stets wie ein Wiederaufleben jener alten Kulte, in denen Tiere Götter waren oder die Götter Tierköpfe trugen.

Da ich also weder an Gott noch an eine Summe von Lebewesen glauben konnte, verblieb ich wie andere Außenseiter in jener Distanz zu allem, die man gemeinhin Dekadenz nennt. Dekadenz bedeutet den vollständigen Verlust der Unbewußtheit; denn die Unbewußtheit ist das Fundament des Lebens. Wenn das Herz denken könnte, stünde es still.

Was bleibt jemandem, der wie ich lebendig ist und doch kein Leben zu haben versteht – ebenso wie den wenigen Menschen meiner Art –, anderes übrig als der Verzicht als Lebensweise und die Kontemplation als Schicksal? Da wir weder wissen noch wissen können, was religiöses Leben ist, weil wir weder mit der Vernunft Glauben haben noch an die Abstraktion Mensch glauben können und nicht einmal wissen, was wir für uns selbst mit ihr anfangen sollen, blieb uns als Motiv für unsere Seele nur die ästhetische Betrachtung des Lebens. Und so ergeben wir uns, fühllos für das Feierliche aller Welten, gleichgültig gegenüber dem Göttlichen und Verächter des Menschlichen, der absichtslosen Empfindung, ohne daß dies einen Sinn hätte, und pflegen sie in einem verfeinerten Epikureertum, wie es unseren Gehirnnerven zugute kommt.

Indem wir von der Naturwissenschaft nur ihr zentrales Prinzip behalten, daß alles schicksalhaften Gesetzen unterworfen ist, auf die man nicht unabhängig reagieren kann, weil reagieren schon hieße, sie hätten unsere Reaktion bewirkt; indem wir außerdem feststellen, daß dieses Gebot mit dem anderen, älteren vom göttlichen Verhängnis der Dinge übereinstimmt, verzichten wir auf die Anstrengung wie Schwächlinge auf athletische Ertüchtigung und beugen uns über das Buch der Empfindungen mit dem großen Skrupel gefühlter Gelehrsamkeit.

Indem wir nichts ernst nehmen und unsere Empfindungen als die einzig gewisse Wirklichkeit betrachten, finden wir bei ihnen Zuflucht und erforschen sie wie große unbekannte Länder. Und wenn wir nicht nur Sorgfalt auf die ästhetische Betrachtung, sondern auch auf den Ausdruck ihrer Methoden und Ergebnisse verwenden, dann, weil die Prosa oder Verse, die wir schreiben, ohne fremdes Verständnisvermögen überzeugen oder fremden Willen bewegen zu wollen, nur wie das laute Vorsichhinsprechen eines Lesenden sind, das dazu beiträgt, dem subjektiven Genuß der Lektüre volle Objektivität zu verschaffen.

Wir wissen wohl, daß jedes Werk zwangsläufig unvollkommen und daß von unseren ästhetischen Betrachtungen die unsicherste diejenige ist, aus der heraus wir schreiben. Unvollkommen jedoch ist alles, es gibt keinen noch so schönen Sonnenuntergang, der nicht noch schöner sein könnte, keine uns Schlaf verschaffende Brise, die uns nicht einen noch ruhigeren Schlaf verschaffen könnte. Und so werden wir, gleichbleibende Betrachter von Bergen und Statuen, die Tage genießen wie die Bücher und alles vor allem zu dem Zweck erträumen, es unserer inneren Substanz anzuverwandeln, und dazu Beschreibungen und Analysen erstellen, die, wenn sie erst einmal vorliegen, zu fremden Dingen werden, die wir genießen können, als stellten sie sich mit dem Verlöschen des Tages ein.

Das ist keine pessimistische Vorstellung wie die de Vignys, für den das Leben ein Gefängnis war, in dem er zum Zeitvertreib Stroh flocht. Pessimist sein heißt etwas tragisch nehmen, eine übertriebene, unbequeme Haltung. Wir besitzen, soviel steht fest, keinen Wertbegriff, den wir auf das Werk, das wir schaffen, anwenden könnten. Wir schaffen es, soviel ist sicher, um uns zu beschäftigen, aber nicht wie der Gefangene, der Stroh flicht, um sein Schicksal zu vergessen, sondern wie das junge Mädchen, das Kissen bestickt, um sich zu beschäftigen – und weiter nichts.

Ich betrachte das Leben als eine Herberge, in der ich verweilen muß, bis die Postkutsche des Abgrunds eintrifft. Ich weiß nicht, wohin sie mich bringen wird, denn ich weiß nichts. Ich könnte diese Herberge als ein Gefängnis betrachten, weil ich gezwungen bin, in ihr zu warten; ich könnte sie auch als einen Ort der Geselligkeit ansehen, weil ich hier anderen Menschen begegne. Doch bin ich weder ungeduldig noch gewöhnlich. Ich überlasse die ihrer Neigung, die sich in ihr Zimmer einschließen, träge aufs Bett sinken und dort schlaflos warten, so wie ich auch die ihrem Treiben überlasse, die sich in den Salons unterhalten, aus denen Stimmen und Musik zu mir dringen und mich angenehm berühren. Ich setze mich an die Tür und berausche mich mit Aug und Ohr an den Farben und Tönen der Landschaft und singe langsam, für mich allein, undeutlich Lieder, die ich während des Wartens komponiere.

Für uns alle werden der Abend und die Postkutsche kommen. Ich genieße die Brise, die mir vergönnt ist, und die Seele, die man mir gab, um sie zu genießen, und ich hinterfrage nicht weiter noch suche ich. Wenn das, was ich ins Buch der Reisenden schreibe, eines Tages von anderen gelesen wird und sie während ihrer Rast unterhält, soll es gut sein. Lesen sie es aber nicht und finden kein Vergnügen daran, ist es auch gut.


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