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Schmerzhaftes Intervall


Nicht einmal im Stolz finde ich Trost. Worauf sollte ich auch stolz sein, wenn ich nicht mein eigener Schöpfer bin? Selbst wenn ich etwas an mir hätte, dessen ich mich rühmen könnte, wieviel mehr gäbe es, dessen ich mich schämen müßte.


Ich ruhe in meinem Leben wie in einem Grab. Nicht einmal im Traum bin ich auch nur ansatzweise in der Lage aufzustehen, so sehr bin ich bis in meine Seele hinein außerstande, auch nur eine Anstrengung zu unternehmen.


Die Macher metaphysischer Systeme und […] psychologischer Erklärungen sind noch Neulinge in Sachen Leid, denn was ist systematisieren und erklären, wenn nicht konstruieren und […]? Und was ist all das Ordnen, Klassifizieren, Organisieren, wenn nicht eine unternommene Anstrengung? – und auf welch niederschmetternde Art das Leben!

Nein, ich bin kein Pessimist. Glücklich all jene, die es verstehen, ihr Leid ins Universelle zu erheben. Ich weiß nicht, ob die Welt traurig ist oder willkürlich, nicht einmal das kümmert mich, anderer Leute Leid ist so lästig wie langweilig. Solange sie nicht jammern und weinen, was ich als unangenehm und ärgerlich empfinde, habe ich nicht einmal ein Achselzucken für ihren Schmerz – so tief ist meine Verachtung für sie.

Doch ich möchte an das Leben als etwas gleichermaßen Lichtes wie Dunkles glauben. Ich bin kein Pessimist. Ich beklage mich nicht über das Schreckliche des Lebens. Ich beklage mich über das Schreckliche meines Lebens. Die einzig wichtige Tatsache für mich ist die Tatsache, daß ich existiere und leide und mich nicht ganz und gar aus meinem Gefühl zu leiden herausträumen kann. Alle glücklichen Träumer sind Pessimisten. Sie gestalten die Welt nach ihrem Bild und sind auf diese Weise immer zu Hause. Was mich am tiefsten schmerzt, ist die Ungleichheit zwischen der lärmenden Fröhlichkeit der Welt und meiner Traurigkeit, meinem müden Schweigen.

Das Leben mit all seinen Schmerzen, Ängsten und Erschütterungen muß für den, der es in Begleitung durchlebt (und es wahrnehmen kann), so schön und fröhlich sein wie eine Reise in einer alten Postkutsche.

Ich kann mein Leiden nicht einmal als ein Zeichen von Größe empfinden. Ich bin mir unsicher. Ich leide an so Unerheblichem, mich verletzt so Belangloses, daß diese Hypothese, sofern ich mich zu ihr erkühne, jeder anderen Hypothese, nämlich der meiner Genialität, hohnspräche.

Die Pracht eines schönen Sonnenuntergangs macht mich traurig mit ihrer Schönheit. Bei ihrem Anblick sage ich mir immer: Welche Freude muß ein glücklicher Mensch bei diesem Schauspiel empfinden!


Dieses Buch ist eine einzige Wehklage. Wenn es denn geschrieben ist, wird Allein[63] nicht mehr das traurigste Buch Portugals sein.


Neben meinem Schmerz erscheint mir aller andere Schmerz nichtig und fragwürdig. Es ist der Schmerz glücklicher Menschen oder der Schmerz von Menschen, die leben und sich beklagen. Mein Schmerz ist der eines Eingeschlossenen, abgeschnitten vom Leben …

Zwischen mir und dem Leben …

Und so sehe ich alles, was ängstigt, aber fühle nichts von all dem, was erfreut. Ich habe festgestellt, daß man den Schmerz mehr sieht als fühlt und die Freude mehr fühlt als sieht. Denn wer nicht denkt und nicht sieht, kann eine gewisse Zufriedenheit erlangen, wie die der Mystiker, der Bohemiens und der Gauner. Doch letztlich kommt der Schmerz durch das Fenster des Beobachtens und die Tür des Denkens in unser aller Haus.


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