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15. 5. 1932
Nichts belastet so sehr wie fremde Zuneigung – nicht einmal fremder Haß, denn Haß ist weniger anhänglich als Zuneigung; da er eine unangenehme Gefühlsregung ist, neigt er, bei dem, der ihn empfindet, unwillkürlich dazu, weniger häufig aufzutreten. Doch bedrückt uns Haß ebenso wie Liebe; beide suchen uns, suchen uns heim, lassen uns nicht allein.
Ideal für mich wäre, alles wie im Roman zu erleben und im Leben zu ruhen – meine Gefühlsregungen zu lesen und meine Verachtung für sie zu leben. Für jemandem mit lebhafter Phantasie sind die Abenteuer eines Romanhelden Erregung genug und mehr noch, da sie sowohl seine als auch unsere Abenteuer sind. Aber keines ist größer, als Lady Macbeth geliebt zu haben, wahrhaft und wirklich; und was bleibt dem, der so geliebt hat, anderes, als niemanden mehr zu lieben in diesem Leben, will er Ruhe finden?
Ich sehe keinen Sinn in dieser Reise, die zu unternehmen ich gezwungen war zwischen zwei Nächten und in Gesellschaft des gesamten Weltalls. Immerhin kann ich lesen, um auf andere Gedanken zu kommen. Lesen scheint mir das einfachste Mittel, diese wie jede andere Reise angenehm zu gestalten; bisweilen sehe ich von dem Buch auf, in dem ich wirklich empfinde, und nehme wie ein Fremder die vorüberfliegende Landschaft wahr: Felder, Städte, Männer und Frauen, Zuneigungen und Sehnsüchte – und all dies ist für mich nur mehr eine Begleiterscheinung meines Ruhens, eine geruhsame Abwechslung, ein Ausruhen meiner Augen von allzu vielen gelesenen Seiten.
Nur was wir träumen, sind wir wirklich, denn alles übrige gehört, weil es verwirklicht ist, der Welt und allen Menschen. Verwirklichte ich einen Traum, würde ich eifersüchtig, denn er hätte mich, sich verwirklichen lassend, hintergangen. Ich habe alles verwirklicht, was ich wollte, sagt der Schwache, und er lügt; wahr ist, daß er prophetisch all das träumte, was das Leben durch ihn verwirklichte. Wir verwirklichen nichts. Das Leben wirft uns wie einen Stein durch die Luft, während wir sagen: »Und ich bewege mich doch.«
Was auch immer dieses Zwischenspiel unter dem Scheinwerfer der Sonne und dem Flitter der Sterne bedeuten mag, schadet es wohl nicht, zu wissen, daß es ein Zwischenspiel ist; wenn, was sich hinter den Theatertüren verbirgt, Leben ist, werden wir leben; wenn es Tod ist, werden wir sterben, und das Stück hat nichts damit zu tun.
Deshalb fühle ich mich der Wahrheit nie so nahe, so spürbar eingeweiht in ihr Geheimnis wie bei meinen seltenen Theater- oder Zirkusbesuchen: Dann weiß ich, daß ich einer originalgetreuen Darstellung des Lebens beiwohne, Spaßmacher und Zauberkünstler sind so wichtig und nichtig wie Sonne und Mond, Liebe und Tod, Pest, Hunger und Krieg unter den Menschen. Alles ist Theater. Ach, will ich wirklich die Wahrheit? Ich kehre zurück zu meinem Roman …