Im Wald der Entfremdung



Ich weiß, ich bin wach und schlafe noch. Mein alter, vom Leben müder Körper sagt mir, daß es noch sehr früh ist … Ich fühle ein fernes Fieber. Ich laste auf mir, weiß nicht warum …

Klar, schwer, unkörperlich benommen liege ich da, halb schlafend, halb wach, träume, träume vage. Meine Aufmerksamkeit treibt zwischen zwei Welten und sieht blind die Tiefe eines Ozeans und eines Himmels; und diese Tiefen verbinden sich, durchdringen sich; ich weiß nicht, wo ich bin noch was ich träume.

Ein Schattenwind bläst die Asche gescheiterter Absichten über das, was wach ist von mir. Lauer Tau des Überdrusses fällt von einem unbekannten Firmament. Übermächtige, dumpfe Angst greift innen nach meiner Seele und verändert mich, zögernd, wie ein leichter Wind die Silhouette der Baumwipfel.

In meiner lauen, morbiden Kammer ist das Morgengrauen draußen nur ein dämmriger Hauch. Ich bin ganz stille Verwirrung … Warum muß ein neuer Tag anbrechen? … Ich weiß, daß er anbrechen wird, und dieses Wissen fällt mir so schwer, als müßte ich handeln, damit er dies tut.

Langsam, wie betäubt, werde ich ruhig, erschlaffe. Treibe in der Luft, zwischen Wachen und Schlafen; eine andere Wirklichkeit entsteht und ich in ihr, woher sie kommt, ich weiß es nicht …

Sie entsteht, ohne die unmittelbare Wirklichkeit dieser lauen Kammer auszulöschen, wird Wirklichkeit eines befremdlichen Waldes. Zwei Wirklichkeiten in meiner gebannten Aufmerksamkeit, zweierlei Rauch, der sich mischt.

Und diese flimmernde, durchscheinende Landschaft, so klar in der eigenen und in der fremden Wirklichkeit! …

Und wer ist diese Frau, die gemeinsam mit mir diesen fremden Wald in ihren Blick hüllt? Warum jetzt halte ich inne und frage? … Ich weiß nicht einmal, ob ich es wissen will …

Die dämmrige Kammer ist eine dunkle Scheibe, durch die ich diese Landschaft bewußt wahrnehme … eine Landschaft, die ich seit langem kenne und durch die ich seit langem mit dieser Frau, die ich nicht kenne, als eine Wirklichkeit durch ihre Unwirklichkeit irre. Ich fühle es in mir, seit Jahrhunderten kenne ich diese Bäume, diese Blumen, diese Wege und Irrwege und dieses ferne Ich, das dort umherwandert, alt und sichtbar für meinen Blick, verschattet vom Wissen, daß ich in dieser Kammer bin.

Durch diesen Wald, in dem ich mich von ferne sehe und fühle, treibt bisweilen ein langsamer Wind Rauch, und mit diesem Rauch erscheint klar und dunkel das Bild der Kammer, in der ich hier und jetzt bin, mit ihren schattenhaften Möbeln und Vorhängen und ihrer nächtlichen Benommenheit. Dann verfliegt dieser Wind, und die Landschaft dieser anderen Welt wird wieder ganz sie selbst.

Andere Male ist dieses enge Zimmer nur Aschnebel am Horizont dieses anderen Landes … Dann wieder ist für Augenblicke der Boden, den wir dort betreten, diese sichtbare Kammer …

Ich träume und verliere mich, bin zweifach, in mir und der fremden Frau … Tiefe Müdigkeit verzehrt mich mit ihrem schwarzen Feuer … Tiefe, untätige Sehnsucht beengt mich mit ihrem falschen Leben …

O trübes Glück! … O ewiges Zögern, wo Wege sich kreuzen! … Ich träume, und hinter meiner Aufmerksamkeit träumt jemand mit mir … Und vielleicht bin ich nur ein Traum dieses nicht existenten Jemands …

Draußen die Morgendämmerung so fern! So nah der Wald vor meinen anderen Augen!

Und kaum bin ich fern dieser Landschaft, vergesse ich sie fast, habe ich sie, sehne ich mich nach ihr, durchwandere ich sie, rührt sie mich zu Tränen, und ich wünsche sie herbei …

Die Bäume! Die Blumen! Das dichtbelaubte Sich-Verstecken der Wege! …

Bisweilen gingen wir Arm in Arm dahin unter den Zedern und Judasbäumen, und keiner von uns dachte daran zu leben. Unser Fleisch war uns ein vager Duft und unser Leben das Echo einer Quelle. Wir nahmen uns bei der Hand, und unsere Augen fragten sich, wie es wohl wäre, sinnlich zu sein, und wie, die Illusion der Liebe im Fleisch zu verwirklichen …

In unserem Garten gab es Blumen aller Schönheiten … Rosen, eingerollt an den Blättern, Lilien von vergilbendem Weiß, Mohn, unsichtbar, hätte ihn nicht sein Rot verraten, Veilchen am Tuffsteinrand der Beete, winzige Vergißmeinnicht, duftlose Kamelien … Und über den hohen Gräsern betrachteten uns hier und dort Sonnenblumen erstaunt mit großen Augen.

Unsere Seele, ganz Blick, strich über die sichtbare Frische des Mooses, und bei den Palmen war uns, als wären wir in einem anderen Land … Und Tränen stiegen auf bei dem Gedanken, denn nicht einmal hier, wo wir glücklich waren, waren wir es …

Eichen, knorrige Jahrhunderte, ließen uns über die toten Tentakel ihrer Wurzeln stolpern … Platanen ragten unvermittelt auf … Und durch die nahen Bäume hindurch hingen fern in der Stille der Weinspaliere schwärzlich die Trauben …

Unser Traum vom Leben lief vor uns her, beschwingt, und beide hatten wir das gleiche losgelöste Lächeln für ihn, beschlossen in unseren Seelen, ohne einander anzusehen, ohne voneinander mehr zu wissen als die gefühlte Gegenwart eines einen anderen aufmerksam stützenden Armes.

Unser Leben hatte kein Innen. Wir waren außen und andere. Wir kannten uns nicht, es war, als wären wir unseren Seelen nach einer Reise durch Träume erschienen …

Wir hatten die Zeit vergessen, und der unermeßliche Raum war in unserer Wahrnehmung kleiner geworden. Gab es außer diesen nahen Bäumen, diesen fernen Weinspalieren, diesen letzten Hügeln am Horizont noch etwas Wirkliches, etwas, das den offenen Blick verdiente, mit dem man Dinge bedenkt, die es gibt? …

In der Wasseruhr unserer Unvollkommenheit zeigten regelmäßige Traumtropfen unwirkliche Stunden an … Nichts lohnt der Mühe, o meine ferne Liebe, nichts, nur das Wissen, wie süß es doch ist zu wissen, daß nichts der Mühe lohnt …

Die reglose Bewegung in den Bäumen, die ruhelose Ruhe der Quellen, der unerklärliche Atem des tiefinneren Rhythmus der Säfte; die langsame Dämmerung der Dinge, die aus ihrem eigenen Inneren aufzusteigen scheint und ihre Hand in geistigem Einverständnis jenem fernen und der Seele nahen Traurigwerden aus dem hohen Schweigen des Himmels reicht; das Fallen der Blätter, stetig, unnütz, Tropfen der Entfremdung, in dem die Landschaft nur noch an unser Ohr dringt und traurig wird in uns wie die Erinnerung an ein Vaterland – all dies hielt uns zusammen, unsicher, wie ein sich lösender Gürtel.

Wir lebten dort eine Zeit, die nicht vergehen konnte, einen Raum, der nicht einmal im Traum zu ermessen war. Ein Vergehen außerhalb der Zeit, eine Ausdehnung, die alle Normen räumlicher Wirklichkeit mißachtete … Wie viele Stunden, o unnütze Gefährtin meines Überdrusses, wie viele Stunden glücklicher Unruhe gaben dort vor, die unseren zu sein! … Stunden geistiger Asche, Tage räumlicher Wirklichkeit, innere Jahrhunderte äußerer Landschaft … Und wir fragten uns nicht, wozu all dies war, denn wir erfreuten uns an dem Wissen, daß es nicht umsonst war.

Wir wußten dort dank einer Eingebung, die wir gewiß nicht hatten, daß diese schmerzliche Welt, in der wir zwei wären, wenn es sie denn gab, jenseits jener äußersten Linie lag, wo die Berge nur noch schemenhafte Formen sind, und daß jenseits dieser Linie nichts war. Und dieser Widerspruch machte unsere dort gelebte Zeit dunkel wie eine Höhle in einem Land abergläubischer Menschen, und unser Dies-Fühlen war so fremd wie die Silhouette einer maurischen Stadt am Herbsthimmel einer Abenddämmerung …

Die Wellen ungekannter Meere umspülten am Horizont unseres Hörens Strände, die wir nie sehen könnten, und es war unsere ganze Freude, so zu hören, daß wir es in uns sahen, dieses Meer, über das Karavellen mit zweifellos anderen Zielen segelten als den nützlichen und von der Erde aufgegebenen.

Und mit einem Mal bemerkten wir, wie man bemerkt, daß man lebt: Die Luft war erfüllt von Vogelgesang und wir – wie parfümierter Satin – vom Rascheln der Blätter durchdrungen, stärker noch als vom Bewußtsein, es zu hören.

So bedachte das Gezwitscher der Vögel, das Rauschen der Bäume und die monotone, vergessene Tiefe des ewigen Meeres unser mattes Leben mit einer Aureole des Nichtkennens. Wir verschliefen dort wache Tage, glücklich, nichts zu sein, hegten keinen Wunsch und keine Hoffnung, wir hatten die Farbe der Liebe vergessen und den Geschmack des Hasses. Wir hielten uns für unsterblich …

Die dort gelebten Stunden empfanden wir anders als sonst, Stunden leerer Unvollkommenheit und deshalb so vollkommen, so diagonal zur rechtwinkligen Gewißheit des Lebens … Abgelegte kaiserliche Stunden, Stunden gekleidet in abgenutzten Purpur, Stunden, gefallen in diese Welt aus einer anderen Welt, noch stolzer auf noch mehr abgelegte Ängste …

Und die Freude darüber war schmerzlich, schmerzlich … Denn trotz des friedlichen Exils, das sie uns gewährte, erinnerte uns die ganze Landschaft an unsere Zugehörigkeit zu dieser Welt, sie war durchtränkt vom Pomp eines vagen Überdrusses, trist, maßlos und pervers wie der Niedergang eines unbekannten Reiches …

Auf den Vorhängen unserer Kammer ist der Morgen ein Lichtschatten. Meine Lippen, die bleich sind, ich weiß es, schmecken füreinander, als wollten sie nicht leben.

Die Atmosphäre unseres unbeteiligten Zimmers ist schwer wie eine Portiere. Unsere schläfrige Aufmerksamkeit für das alles umgebende Geheimnis ist weich wie die schleifende Schleppe einer Robe während einer Zeremonie im Zwielicht.

Keine unserer Sehnsüchte hat eine Daseinsberechtigung. Unsere Aufmerksamkeit ist eine Absurdität, uns zugestanden von unserer beschwingten Trägheit.

Ich weiß nicht, welche schattigen Öle die Vorstellung von unserem Körper salben. Die Müdigkeit, die wir verspüren, ist der Schatten einer Müdigkeit. Sie kommt von weit her, wie die Vorstellung, daß es unser Leben irgendwo gibt …

Keiner von uns hat einen Namen oder eine glaubhafte Existenz. Könnten wir so laut sein, daß wir uns vorstellen könnten zu lachen, lachten wir gewiß darüber, daß wir uns für lebend halten. Die angewärmte Frische des Bettlakens liebkost (dir wie gewiß auch mir) die Füße, die nackt einander spüren.

Lösen wir uns vom Leben und seinen Moden, Liebste! Fliehen wir hin zum Selbst-Sein … Laß uns den Zauberring am Finger behalten, der die Feen der Stille herbeiruft, dreht man ihn, die Elfen der Finsternis und die Zwerge des Vergessens.

Sieh nur, sieh, kaum denken wir daran, von ihm zu sprechen, wird er wieder sichtbar, der Wald, dicht wie eh und je, doch unruhiger durch unsere Unruhe und trauriger durch unsere Traurigkeit. Unsere Vorstellung von der wirklichen Welt flieht seine Gegenwart wie ein sich auflösender Nebel, und ich nehme wieder Besitz von mir in meinem rastlosen Traum, dessen Rahmen dieser geheimnisvolle Wald bildet …

Die Blumen, die Blumen, die ich dort erlebt habe! Blumen, die unser Blick erkannte und in ihre Namen übersetzte, Blumen, deren Duft die Seele pflückte, nicht aus ihnen, sondern aus der Melodie ihrer Namen … Blumen, deren Namen in Sequenzen wiederholt Orchester klingender Düfte waren … Bäume, deren grüne Sinnlichkeit ihren Namen kühlen Schatten spendete … Früchte, deren Namen wie ein Biß in die Seele ihres Fleisches waren … Schatten, die Relikte glücklicher Gestern waren … Lichtungen, lichte Lichtungen, ein offenes Lächeln der Landschaft, die gleich darauf gähnte … O vielfarbige Stunden! … Blumen-Augenblicke, Baum-Minuten, o Zeit, Stillstand im Raum, Zeit, toter Raum und bedeckt mit Blumen und Blumenduft und duftenden Blumennamen! …

Träumerische Verrücktheit in befremdlicher Stille! …

Unser Leben war das ganze Leben … Unsere Liebe war der Duft der Liebe … Wir lebten unmögliche Stunden, angefüllt mit Wir-Sein … Und dies, weil wir wußten, mit jeder Faser unseres Fleisches, daß wir keine Wirklichkeit waren …

Wir waren entpersönlicht, ohne Selbst, etwas anderes … Jene Landschaft, die sich aufgelöst hatte in ihr Bewußtsein von sich selbst … Und so wie sie zwei Landschaften war – Wirklichkeit und Illusion – waren auch wir undeutlich zwei, keiner recht wissend, ob der Andere nicht er selbst war, ob der ungewisse Andere überhaupt lebte …

Als wir uns plötzlich vor den stillstehenden Seen wiederfanden, war uns nach Schluchzen … Der Landschaft dort stand das Wasser in den Augen, starren Augen, voll grenzenlosem Überdruß zu sein … Ja, voll Überdruß zu sein, etwas sein zu müssen, Wirklichkeit oder Illusion – und dieser Überdruß hatte seine Heimat und seine Stimme im stummen Exil dieser Seen … Und wir, wir gingen weiter und weiter, nicht wissend noch wollend, und doch schien es, als verweilten wir am Ufer dieser Seen, so viel von uns war zurückgeblieben bei ihnen, bewohnte sie, symbolisch und in sie versunken …

Und welch erfrischendes, glückliches Erschrecken: Niemand war dort! Nicht einmal wir, die wir dort gingen … Denn wir waren niemand. Wir waren nichts … Hatten kein Leben, nicht einmal für den Tod. Wir waren so durchscheinend, so nichtig, daß der Wind der Zeit uns in unserem Unnützen beließ und die Stunden zärtlich über uns hinwegstrichen wie eine Brise über Palmwipfel.

Wir gehörten keiner Epoche an, noch verfolgten wir ein Ziel. Alle Zweckbestimmtheit von Dingen und Wesen hatten wir zurückgelassen am Tor zu jenem Paradies der Abwesenheit. Damit wir sie fühlend fühlten, hatte sie angehalten, die gefurchte Seele der Stämme, die weite Seele der Blätter, die heiratsfähige der Blumen, die hängende der Früchte …

Und so starben wir unser Leben, so sehr darauf bedacht, es getrennt zu sterben, daß wir uns nicht als nur ein Wesen wahrnahmen, als Illusion des anderen, und nicht bemerkten, daß jeder in sich einzig das Echo seines eigenen Wesens war …

Eine Fliege summt, vage und winzig …

Leise werden sie laut in meiner Aufmerksamkeit, klare, vereinzelte Geräusche, und überschwemmen mein Bewußtsein von unserem Zimmer mit dem anbrechenden Tag … Unser Zimmer? Unser? Meines und wessen noch, wenn ich doch hier allein bin? Ich weiß nicht. Alles verschwimmt, und nur eine flüchtige nebelhafte Wirklichkeit bleibt, in der meine Ungewißheit versinkt und mein Mich-Verstehen in Opiumschlaf fällt …

Der Morgen ist hereingebrochen, als sei er vom bleichen Gipfel der Zeit gestürzt …

Die Scheite unserer Träume, Liebste, sind erloschen im Herdfeuer unseres Lebens.

Lassen wir ab von der Hoffnung, denn sie trügt; von der Liebe, denn sie ermüdet; vom Leben, denn es nährt, aber sättigt nicht; und selbst vom Tod, denn er bringt mehr als gewollt und weniger als erhofft.

Lassen wir ab, o Verschleierte, von unserem Überdruß, denn er verschleißt sich selbst und wagt nicht, all die Angst zu sein, die er ist.

Laß uns nicht weinen, nicht hassen, nicht wünschen …

Bedecken wir, o du Stille, mit feinem Linnen das totenstarre Profil unserer Unzulänglichkeit … (In der Zeitschrift A Águia am 6. Dezember 1913 veröffentlicht)


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