Vorwort



In Lissabon gibt es eine kleine Anzahl Restaurants oder Eßlokale, mit einem schlichten Schankraum und im Stockwerk darüber einem Eßraum, der so gediegen und hausbacken wirkt wie ein Restaurant in einer Ortschaft ohne Bahnanschluß. In diesen, außer an Sonntagen, wenig besuchten Speiseräumen trifft man häufig auf sonderbare Gestalten, ausdruckslose Gesichter, Abseitige des Lebens.

Der Wunsch nach Ruhe und die mäßigen Preise machten mich während einer bestimmten Zeit meines Lebens zum Stammgast eines solchen Lokals. Wenn ich dort gegen sieben zu Abend aß, begegnete ich fast immer einem Menschen, dessen Aussehen mich anfänglich nicht, mit der Zeit aber zusehends interessierte.

Der Mann war ungefähr dreißig Jahre alt, schlank und eher groß als klein, übertrieben nach vorn gebeugt, wenn er saß, weniger wenn er stand, und mit einer gewissen Nachlässigkeit, doch nicht nachlässig gekleidet. Seinem blassen, ausdruckslosen Gesicht konnte auch die Leidensmiene keinen stärkeren Ausdruck verleihen, und es war schwer festzustellen, welche Art Leiden sie verbarg – es schienen ihrer mehrere zu sein, Entbehrungen, Ängste und jenes der Gleichmut entstammende Leid, das wiederum aus einem Übermaß an Leid rührt.

Er aß stets mäßig zu Abend und rauchte anschließend selbstgedrehte Zigaretten. Er beobachtete die anwesenden Gäste überaus aufmerksam, nicht mißtrauisch, sondern mit besonderem Interesse, doch nicht, als suche er sie zu erforschen, sondern als interessiere er sich für sie, ohne sich ihr Verhalten oder ihr Aussehen sonderlich einprägen zu wollen. Erst diese Eigenheit weckte mein Interesse für ihn.

Ich begann, ihn mir genauer anzusehen. Ich bemerkte, daß ein gewisser Ausdruck von Intelligenz in unbestimmt-bestimmter Weise seine Züge belebte. Doch verhüllte Niedergeschlagenheit, die Starre kalter Angst, so konstant seine Miene, daß es schwierig wurde, darüber hinaus einen anderen Wesenszug zu entdecken.

Zufällig hörte ich von einem Kellner des Restaurants, daß er kaufmännischer Angestellter in einem nahe gelegenen Unternehmen war.

Eines Tages kam es auf der Straße unter unseren Fenstern zu einem Zwischenfall: Zwei Kerle prügelten sich. Wer sich gerade im Speiseraum aufhielt, lief an die Fenster, so auch ich und der Mann, von dem ich rede. Ich richtete beiläufig einen Satz an ihn, und er antwortete mir in gleicher Weise. Seine Stimme klang matt und zaghaft, wie die von Menschen, die nichts erwarten, weil es vollkommen nutzlos ist, etwas zu erwarten. Vielleicht aber war es auch gänzlich verfehlt, meinem abendlichen Restaurantgefährten diese Bedeutung beizumessen.

Seither – ich weiß nicht warum – grüßten wir einander. Eines schönen Tages, als wir uns möglicherweise durch den absurden Umstand nähergekommen waren, daß wir beide um halb zehn zum Abendessen erschienen, kamen wir wie nebenbei ins Gespräch. Er fragte mich, ob ich schriftstellerisch tätig sei, was ich bejahte. Ich erzählte ihm von der Zeitschrift Orpheu[1] , die kurz zuvor erschienen war. Er lobte sie, lobte sie ausführlich, was mich zugegebenermaßen erstaunte. Ich erlaubte mir, ihm meine Verwunderung zu bekunden, denn die Kunst derer, die für Orpheu schreiben, erreicht nur wenige. Er erwiderte, vielleicht gehöre er zu diesen wenigen. Im übrigen, fügte er hinzu, habe ihm die Orpheu-Lektüre nichts eigentlich Neues gebracht: Schüchtern deutete er an, da er nicht wisse, wohin er gehen noch was er tun solle, weder Freunde zu besuchen habe noch Interesse am Bücherlesen, pflege er die Abende in seinem Zimmer, in dem er zur Untermiete wohne, ebenfalls schreibend zu verbringen.


*

Er hatte seine zwei[2] Zimmer – und dies ging zwangsläufig auf Kosten einiger unentbehrlicher Dinge – mit einem gewissen fast luxuriösen Stil eingerichtet. Sein Augenmerk galt insbesondere den Stühlen – mit Armlehnen, tief und weich –, Vorhängen und Teppichen. Dieses Interieur habe er sich geschaffen, sagte er, »um die Würde des Überdrusses aufrechtzuerhalten«. In einem modern eingerichteten Zimmer verwandelt sich der Überdruß in Mißbehagen, in körperlichen Schmerz.


Nichts hatte ihn jemals gezwungen, irgend etwas zu tun. Seine Kindheit war einsam gewesen. Er hatte sich nie einer Menschenmenge angeschlossen; nie eine Hochschule[3] besucht; sich nie einer Gruppe zugesellt. Bei ihm war das seltsame Phänomen eingetreten, das bei so manchen – recht besehen vielleicht bei allen eintritt: seine Vorstellungen und Instinkte – allesamt auf Trägheit und Absonderung ausgerichtet – hatten den zufälligen Umständen seines Lebens Form gegeben.

Nie mußte er sich mit den Anforderungen von Staat und Gesellschaft auseinandersetzen. Den Anforderungen seiner eigenen Instinkte wich er aus. Nichts hatte ihn je einem Freund oder gar einer Geliebten zugeführt. Ich war der einzige, mit dem er in gewisser Weise vertraut geworden war. Doch – wenngleich ich immer hinter der Maske einer fremden Persönlichkeit gelebt habe, nämlich der seinen, und vermutete, daß er mich niemals als wahrhaften Freund betrachten würde – war mir stets bewußt, daß er jemanden an sich ziehen würde, um ihm das Buch zu hinterlassen, das er in der Tat hinterließ. Auch wenn es mich anfangs, als ich dessen gewahr wurde, schmerzte, sah ich schließlich alles unter dem einzigen eines Psychologen würdigen Gesichtspunkt und finde Gefallen an dem Gedanken, daß ich auf ebendiese Weise sein Freund wurde und mich nun dem Ziel widme, zu dem er mich an sich gezogen hatte: der Veröffentlichung seines Buches.

Sogar in dieser Hinsicht – die Feststellung ist seltsam – konnten die Umstände, indem sie jemanden meines Charakters seinen Weg kreuzen ließen, ihm helfen und waren zu seinem Vorteil.


Fernando Pessoa


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