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2. 11. 1933
Es gibt ein so subtiles, diffuses inneres Leid, daß sich nicht feststellen läßt, ob es von der Seele oder vom Körper herrührt oder ein Unwohlsein ist, weil man die Nichtigkeit des Lebens spürt, oder aber die schlechte Laune, die aus irgendeinem organischen Abgrund aufsteigt – aus Magen, Leber oder Gehirn. Wie oft trübt sich das normale Bewußtsein meiner selbst durch den aufgewühlten Bodensatz einer unruhigen Stagnation! Wie oft schmerzt es mich, mit einem so unbestimmten Gefühl des Ekels existieren zu müssen, daß ich nicht weiß, ob es Überdruß ist oder ein beginnendes Erbrechen! Wie oft …
Meine Seele ist heute traurig bis in den Körper. Mein ganzes Ich schmerzt mich, Erinnerung, Augen, Arme. Es zieht wie ein Rheumaschmerz in allem, was ich bin. Auch die durchsichtige Klarheit des Tages, ein Himmel, groß, rein und blau, eine stehengebliebene Flut verschwommenen Lichts hat auf mein Wesen keinen Einfluß. Er stimmt mich nicht heiterer, der leichte, frische Hauch – herbstlich und doch an den Sommer erinnernd –, der der Luft Persönlichkeit verleiht. Nichts bedeutet mir etwas. Ich bin traurig, aber meine Traurigkeit ist keine bestimmte, geschweige denn eine unbestimmte. Ich bin traurig draußen, auf der von Kisten verstellten Straße.
Diese Worte geben nicht genau wieder, was ich empfinde, da zweifellos keine Empfindung genau wiedergegeben werden kann. Doch irgendwie versuche ich den Eindruck dessen, was ich empfinde, zu vermitteln, eine Mischung verschiedener Arten von Ichs und der fremden Straße, die mir, weil ich sie sehe, ebenfalls auf eine innere Art und Weise, die ich nicht zu analysieren vermag, gehört und ein Teil von mir ist.
Ich hätte als verschiedene Menschen in entfernten Ländern leben wollen. Ich hätte als ein anderer unter unbekannten Bannern sterben wollen. Ich hätte in anderen Epochen zum Imperator ausgerufen werden wollen, Epochen, die mir heute besser erscheinen, da sie nicht von heute sind: schillernd, bunt und mit nie gesehenen Sphinxen. Ich hätte alles gewollt, was den lächerlich machen kann, der ich bin, und weil es lächerlich macht, was ich bin. Ich hätte gewollt, ich hätte gewollt … Aber die Sonne ist immer da, wenn die Sonne scheint, und die Nacht, wenn die Nacht anbricht. Immer ist der Kummer da, wenn der Kummer uns drückt, und der Traum, wenn der Traum uns einwiegt. Immer ist das Vorhandene vorhanden und nie das, was eigentlich vorhanden sein müßte, nicht, weil es besser oder schlechter wäre, sondern weil es etwas anderes ist. Immer ist […]
Die Lastenträger räumen die Kisten von der Straße. Stapeln sie eine um die andere unter Scherzen und Gelächter auf die Fuhrwerke. Oben, von meinem Bürofenster aus, sehe ich ihnen zu, mit langsamen Augen und schlafschweren Lidern. Und etwas Subtiles, Unverständliches verbindet, was ich empfinde, mit den Verladearbeiten, irgendeine unbekannte Empfindung verwandelt all meinen Überdruß, meine Angst, meinen Ekel in eine Kiste und hebt sie auf die Schultern eines Mannes, der laut Witze reißt, auf ein nicht vorhandenes Fuhrwerk. Und das Tageslicht, heiter wie immer, fällt, da die Straße eng ist, schräg auf die Stelle mit den Kisten – doch nicht auf die Kisten, die im Schatten stehen, sondern weiter hinten hin, da, wo die Transportarbeiter mit ihrem Nichtstun beschäftigt sind, und das auf unabsehbare Zeit.