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Endlich finde ich Ruhe. Alle Spuren, aller Unrat fallen ab von meiner Seele, als hätte es sie nie gegeben. Ich bin allein und ruhig. Diese Stunde ist wie die Stunde, in der ich einen Glauben annehmen könnte. Doch zieht mich nichts nach oben, wenngleich mich auch nichts mehr nach unten zieht. Ich fühle mich frei, als hätte ich aufgehört zu existieren und wäre mir dessen bewußt.
Ruhe, ja, ich finde Ruhe. Eine große Ruhe, sanft wie etwas Nutzloses, kehrt ein in mich bis hinab auf den Grund meines Seins. Die Seiten, die ich gelesen, die Pflichten, die ich erfüllt habe, der Lauf und die Zufälle des Lebens – all dies ist für mich nur noch unbestimmt, schattenhaft, ein kaum sichtbarer Halo, der etwas Ruhiges umgibt, von dem ich nicht weiß, was es ist. Das Bemühen, bei dem ich ab und an die Seele vergessen habe, das Denken, bei dem ich ab und an das Handeln vergessen habe – beide kommen sie zurück zu mir als eine Art gefühllose Zärtlichkeit, ein armselig leeres Mitleid.
Es ist nicht der langsame, milde Tag, bewölkt und lind. Es ist nicht diese schwache, fast nichtige Brise, kaum spürbarer als die stehende Luft. Es ist nicht die namenlose Farbe des hier und da blaßblauen Himmels. Nein, es ist nichts von alledem, weil ich nichts von alledem fühle. Ich sehe, ohne sehen zu wollen, machtlos. Aufmerksam wohne ich einem nicht stattfindenden Schauspiel bei. Nicht Seele spüre ich, nur Ruhe. Die äußeren Dinge, klar und stillstehend, selbst die sich bewegenden, erscheinen mir, wie die Welt Christus erschienen sein muß, als Satan ihn aus der Höhe aller Dinge heraus versuchte. Sie sind nichts, und ich verstehe, warum Christus nicht versucht war. Sie sind nichts, und ich verstehe nicht, warum der so gewitzte alte Satan glaubte, er könne ihn damit versuchen.
Gehe leicht dahin, nicht gespürtes Leben, stiller Fluß unter vergessenen Bäumen! Gehe sanft dahin, unbekannte Seele, sanftes, nicht sichtbares Gemurmel hinter großen sich neigenden Zweigen! Gehe nutzlos dahin, grundlos, bewußtes Bewußtsein von nichts, vager Glanz in der Ferne, zwischen Lichtungen im Blattwerk, von dem niemand weiß, woher er kommt und wohin er strahlt! Gehe dahin, gehe dahin und mach mich vergessen!
Vager Hauch dessen, was nicht zu leben wagte, schwacher Seufzer dessen, was nicht fühlen konnte, unnützes Gemurmel dessen, was nicht denken wollte, gehe langsam dahin, gemächlich, in unumgänglichen Strudeln und auferlegten Gefällen, gehe ein in den Schatten oder das Licht, Bruder der Welt, gehe ein in die himmlische Herrlichkeit oder den Abgrund, Sohn des Chaos und der Nacht, aber erinnere dich in deinem Verborgenen, daß die Götter nach dir kamen und auch sie vergehen.