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10. 4. 1930
Die gewöhnliche Menschheit, und es gibt keine andere, ekelt mich physisch. Bisweilen überkommt mich die Lust, diesen Ekel zu vertiefen, so wie man ein Erbrechen hervorrufen kann, um den Brechreiz loszuwerden.
Ich liebe es, am frühen Morgen, wenn ich die Banalität des neuen Tages fürchte, wie jemand das Gefängnis fürchtet, vor Öffnung der Läden und Warenhäuser durch die Straßen zu schlendern und mir die Satzfetzen anzuhören, die Gruppen junger Mädchen und junger Männer untereinander und zueinander wie Almosen der Ironie in die unsichtbare Schule meines geöffneten Nachdenkens fallen lassen.
Es ist die immer gleiche Abfolge gleicher Sätze … »Und dann hat sie gesagt …«, und der Tonfall verrät die Intrige. »Wenn er es nicht war, dann du …«, und die antwortende Stimme erhebt sich zu einem Protest, den ich nicht mehr höre. »Das hast du gesagt, jawohl, das hast du gesagt …«, und die Stimme der Näherin versichert schrill: »Meine Mutter sagt, sie will das nicht …« – »Ich?«, und das Staunen des jungen Mannes mit dem in Butterbrotpapier eingewickelten lunch überzeugt mich nicht und wird wohl auch die unflätige Blondine nicht überzeugen. »Vielleicht war es doch …«, und das Gelächter von dreien der vier Mädchen bedrängt obszön mein Ohr. […] »Und dann habe ich mich vor dem Kerl aufgepflanzt und ihm ins Gesicht gesagt, jawohl, ins Gesicht gesagt, oh, du …« – und der arme Teufel schwindelt, denn sein Bürochef – ich höre es an seiner Stimme, daß sein Kontrahent der Chef des mir unbekannten Büros war – hat die Geste dieses Strohhalm-Gladiators niemals in der Schreibtisch-Arena entgegengenommen. »Und dann bin ich zum Rauchen aufs Klosett gegangen«, lacht der Kleine mit dem dunklen Flicken auf dem Hosenboden.
Andere, die allein oder in Gruppen vorbeigehen, sind stumm oder unterhalten sich, und ich verstehe sie nicht, und doch sind mir alle Stimmen dank einer intuitiven, verschlissenen Transparenz klar und vernehmlich. Ich wage nicht auszusprechen – ja, wage nicht einmal, es mir selber schriftlich zu sagen, auch wenn ich es gleich anschließend wieder ausstreichen würde, was ich in zufälligen, schmutzigen und durchbohrenden Blicken alles beobachtet habe. Ich wage es nicht, denn wenn man schon ein Erbrechen herbeiführt, dann nur einmal.
»Der Kerl war so dick, daß er nicht einmal die Treppe sehen konnte.« Ich hebe den Kopf. Dieser junge Bursche kann wenigstens beschreiben. Und wenn die Leute beschreiben, sind sie besser als wenn sie fühlen, denn beim Beschreiben vergessen sie sich selbst. Mein Ekel läßt nach. Ich sehe den Kerl. Ich sehe ihn mit photographischer Klarheit. Sogar der unschuldige umgangssprachliche Ausdruck belebt mich. Gepriesen sei die Luft, die meine Stirn streift – ein Kerl, so dick, daß er nicht einmal sehen konnte, daß die Treppe aus Stufen bestand –, vielleicht war es die Treppe, auf der die Menschheit emporstolpert, sich vorwärts tastet und auf der trügerischen Steigung diesseits des Hinterhofs ins Gedränge gerät.
Intrigen, üble Nachrede, lautstarkes Brüsten mit dem, was man nicht zu tun wagte, die Zufriedenheit jeder armseligen Kreatur, angetan mit dem unbewußten Bewußtsein der eigenen Seele, die schmutzige Sexualität, die Scherze grob wie Affenkitzeln, die schreckliche Unwissenheit bezüglich der eigenen Unwichtigkeit … All das ruft bei mir den Eindruck eines abscheulichen, niederträchtigen Tiers hervor, erschaffen in unfreiwilligen Träumen, aus den feuchten Brotrinden der Begierde, den angebissenen Resten der Empfindungen.