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5. 4. 1930
Der ewig irgendwo krankende Teilhaber der Firma hier wollte während einer Krankheitspause aus einer Laune heraus ein Photo vom gesamten Büropersonal haben. Und so nahmen wir denn vorgestern alle auf Weisung des heiteren Photographen in Reih und Glied Aufstellung vor der schmutzigweißen Trennwand, deren zerbrechliches Holz das allgemeine Büro von Herrn Vasques’ Chefzimmer abtrennt. In der Mitte stand Vasques persönlich; zu beiden Seiten in einer zunächst überlegten, dann unüberlegten Einteilung nach Rang und Würden die übrigen Menschenseelen, die sich hier tagaus, tagein zu kleinen Zwecken zusammenfinden, deren letzte Absicht nur das Geheimnis der Götter kennt.
Als ich heute etwas verspätet und bereits ohne jegliche Erinnerung an das statische Ereignis des zweimal geschossenen Photos ins Büro kam, fand ich den unerwartet früh erschienenen Moreira und einen der Handelsreisenden verstohlen über schwärzliche Dinge gebeugt, in denen ich sogleich erschrocken die ersten Abzüge der Photographien erkannte. Nicht mehr als insgesamt zwei von einem einzigen Photo, dem besten.
Ich erlitt die Wahrheit, als ich mich darauf sah, denn, wie man mit Recht vermuten darf, suchte ich zuallererst nach mir selbst. Nie habe ich mir meine körperliche Präsenz besonders nobel vorgestellt, aber auch noch nie habe ich sie als so null und nichtig empfunden wie im Vergleich mit den anderen, mir so wohlvertrauten Gesichtern bei dieser Aufreihung von Alltagsmenschen. Ich sehe aus wie ein abgewetzter Jesuit. Mein mageres, ausdrucksloses Gesicht strahlt weder Intelligenz noch Intensität noch etwas aus, das es über die Ebbe der übrigen Gesichter erheben könnte. Ebbe, nein, das ist nicht wahr. Wirklich ausdrucksstarke Gesichter sind darunter. Chef Vasques steht da, wie er leibt und lebt – das breite Gesicht hart und doch jovial, energisch der Blick; ein steifer Schnurrbart rundet seine Erscheinung ab. Die Energie, die Schläue dieses Mannes – im Grunde banal und bei vielen tausend Männern auf der ganzen Welt anzutreffen – sind auf dieser Photographie so ausgeprägt festgehalten wie in einem psychologischen Reisepaß. Die beiden Handelsreisenden sind prächtig herausgekommen; auch der örtliche Handelsvertreter ist gut getroffen, wird aber fast verdeckt von einer Schulter des Herrn Moreira. Und erst Moreira selbst! Mein Vorgesetzter Moreira, die Quintessenz der Eintönigkeit und des Beharrungsvermögens, wirkt gleichwohl viel persönlicher, als ich es tue! Sogar dem Laufburschen – ich bemerke das, ohne ein Gefühl unterdrücken zu können, von dem ich anzunehmen versuche, es sei kein Neid – steht eine Sicherheit, eine Unmittelbarkeit ins Gesicht geschrieben, die um ein mehrfaches Lächeln von meiner nichtigen Erloschenheit als Papier-Sphinx entfernt ist.
Was will das heißen? Was ist das für eine Wahrheit, daß ein Film nicht irrt? Was ist das für eine Gewißheit, die eine kalte Linse dokumentarisch festhält? Wer bin ich, daß ich so sein kann? Gleichwohl … Und die Schmach des Gesamtbilds?
»Sie sind wirklich gut getroffen«, sagte plötzlich Moreira. Und dann an den Handelsvertreter gewandt: »Das ist doch genau sein Gesichtchen, nicht wahr?« Der Handelsvertreter stimmte freundlich heiter zu und beförderte mich somit auf den Müll.