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Zwischen dem Häusermeer bricht abwechselnd mit Licht und Schatten – oder genauer mit Licht und weniger Licht – der Morgen über der Stadt an. Es scheint nicht von der Sonne auszugehen, sondern von der Stadt selbst, ja, als löse es sich von den hohen Mauern und Dächern – nicht physisch, sondern weil es sie dort gibt.

Während ich dies wahrnehme, verspüre ich eine große Hoffnung, doch ich muß gestehen, sie ist literarischer Natur. Morgen, Frühling, Hoffnung – sie sind in der Musik durch die gleiche melodische Absicht verbunden und in der Seele durch die gleiche Erinnerung an eine gleiche Absicht. Nein: Beobachte ich mich selbst, wie ich die Stadt beobachte, so erkenne ich, als einzige Hoffnung bleibt mir, daß dieser Tag endet wie alle Tage. Meine Vernunft sieht auch die Morgenröte. Welche Hoffnung ich auch immer in sie setzte, sie war nicht die meine, sondern die Hoffnung all derer, die den Augenblick leben und dessen äußeres Verständnis ich für sie in diesem Augenblick ungewollt verkörperte.

Hoffen? Was sollte ich schon erhoffen? Der Tag verspricht mir nicht mehr als den Tag, und ich weiß, er nimmt seinen Lauf und nimmt sein Ende. Das Licht belebt mich, aber macht es mir nicht leichter, denn ich gehe von hier fort, wie ich hierhergekommen bin – um Stunden älter, eine Wahrnehmung heiterer, einen Gedanken trauriger. In allem, was entsteht, können wir ebensogut das Entstehende wie das Vergehende wahrnehmen. Jetzt, im weiten hohen Licht, wirkt die Stadtlandschaft wie ein Häusermeer – naturhaft, weit und harmonisch. Doch kann ich bei diesem Anblick vergessen, daß ich existiere? Mein Bewußtsein von dieser Stadt ist im Innersten mein Bewußtsein von mir selbst.

Mit einem Mal erinnere ich mich an meine Kindheit, als ich den Morgen über der Stadt aufgehen sah, wie ich ihn heute nicht mehr sehen kann. Damals ging er nicht für mich auf, sondern für das Leben, denn damals war ich, da ich nicht bewußt lebte, das Leben. Ich sah den Morgen und freute mich; heute sehe ich den Morgen, freue mich und werde traurig. Das Kind ist geblieben, aber es ist verstummt. Ich sehe noch immer, wie ich gesehen habe, aber hinter den Augen sehe ich mich sehen; das allein genügt, und die Sonne verschattet sich mir, das Grün der Bäume altert, und die Blumen welken, noch bevor sie erblühen. Ja, früher einmal war ich hier zu Hause; heute stehe ich vor jeder Landschaft, so neu sie für mich auch sein mag, als Fremdling, als Gast und Pilger, allem fremd, was ich höre und sehe, alt an mir selbst.

Ich habe alles gesehen, auch wenn ich es nie gesehen habe noch je sehen werde. In meinem Blut fließt selbst die geringste aller künftigen Landschaften, und die Angst vor dem, was ich erneut sehen muß, hat bereits etwas Monotones für mich.

Und aus dem Fenster gelehnt und den Tag genießend, beherrscht über dem vielfältigen Raum der Stadt nur ein einziger Gedanke meine Seele – der innere Wille zu sterben, zu enden, nicht mehr das Licht über irgendeiner Stadt zu erblicken, nicht zu denken, nicht zu fühlen, den Lauf der Sonne und der Tage wie Einwickelpapier hinter mir zu lassen und wie einen schweren Anzug neben dem großen Bett die unfreiwillige Anstrengung des Seins abzulegen.


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