350
23. 5. 1932
Ich weiß nicht, was Zeit ist. Ich kenne ihr wirkliches Maß nicht, falls sie denn eines hat. Ich weiß, die Uhrzeit ist falsch: sie mißt die Zeit in Räumen, von außen. Die empfundene Zeit ist falsch: sie mißt nicht die Zeit, sondern unser Empfinden von ihr. Und ich weiß, auch die geträumte Zeit ist falsch, denn in unseren Träumen streifen wir die Zeit einmal länger und einmal kürzer, und was wir in dieser Zeit erleben, geschieht schnell oder langsam, je nach ihrem Verlauf, dessen Beschaffenheit sich mir entzieht.
Manchmal meine ich, alles sei falsch, und die Zeit sei nur ein Rahmen für etwas, das außerhalb von ihr ist. In der Erinnerung an mein vergangenes Leben sind die Zeiten auf und in absurden Ebenen und Plänen angeordnet, und zu einem bestimmten Zeitpunkt meiner feierlichen fünfzehn Jahre bin ich jünger als zu einem anderen meiner zwischen Spielzeug sitzenden Kindheit.
Mein Bewußtsein gerät durcheinander, wenn ich an diese Dinge denke. Ich ahne einen Fehler in alledem, weiß jedoch nicht, wo er liegt. Es ist, als sähe ich einem Taschenspieler bei seiner Arbeit zu, wohl wissend, daß ich getäuscht werde, aber unfähig, die Technik oder den Mechanismus der Täuschung herauszufinden.
Dann überkommen mich absurde Gedanken, die ich dennoch nicht als gänzlich absurd abtun kann. Ich frage mich, ob ein Mensch, der langsam in einem schnell fahrenden Wagen denkt, sich schnell oder langsam fortbewegt. Ich frage mich, ob der Sturz eines Selbstmörders ins Meer und der eines Fußgängers auf einer Esplanade, obgleich sie gleich schnell geschehen, auch das gleiche sind. Ich frage mich, ob das Rauchen meiner Zigarette, das Niederschreiben dieser Passage und mein dunkles Nachdenken, die alle gleich viel Zeit in Anspruch nehmen, auch wirklich synchron geschehen.
Wir können uns vorstellen, daß eines von zwei Rädern derselben Achse dem anderen immer ein Stück voraus ist, wenn auch nur um den Bruchteil von Millimetern. Unter einem Mikroskop nähme sich diese Verschiebung übertrieben, fast unglaubhaft, ja, unmöglich aus, wäre sie nicht wirklich. Und warum sollte ein Mikroskop einem schlechten, Augenlicht gegenüber nicht recht haben? Unnütze Betrachtungen? Ich weiß. Illusionen der Betrachtung? Einverstanden. Doch was mißt uns da ohne Maß und tötet uns, ohne zu sein? Und in genau diesen Momenten, in denen ich nicht einmal weiß, ob die Zeit existiert, spüre ich sie wie eine Person und möchte schlafen.