Apokalyptisches Empfinden



Da mich jeder Schritt in meinem Leben mit dem Horror des Neuen in Berührung brachte und jede neue Bekanntschaft ein neues lebendiges Fragment des Unbekannten war, das ich zur erschreckenden täglichen Betrachtung auf meinen Schreibtisch legte, habe ich beschlossen, allem zu entsagen, nichts anzustreben, alles Handeln auf ein Minimum zu reduzieren, mich so weit wie möglich außer Reichweite von Menschen und Geschehnissen zu halten, mich in der Entsagung zu vervollkommnen und Verzicht bis zum Äußersten zu üben. So sehr ängstigt und quält es mich zu leben.

Mich entscheiden, etwas zu Ende führen, den Zweifel ablegen, aus dem Dunkel treten sind verheerende Dinge für mich, universale Katastrophen.

Ja, ich empfinde das Leben als apokalyptisch und verheerend. Und mit jedem Tag bin ich weniger imstande, Gesten auch nur anzudeuten oder mir mich in klaren, wirklichen Situationen auch nur vorzustellen.

Die Gegenwart anderer – unter der meine Seele stets zusammenzuckt – schmerzt und bedrückt mich zusehends. Muß ich mit anderen reden, überläuft es mich kalt. Zeigen sie Interesse für mich, ergreife ich die Flucht. Sehen sie mich an, zucke ich zusammen. […] Ich bin beständig in der Defensive. Ich leide am Leben und an den anderen. Ich kann der Wirklichkeit nicht ins Gesicht blicken. Selbst die Sonne entmutigt und betrübt mich. Nur nachts, nachts und allein mit mir, allem fern, vergessen und verloren, ohne Bezug zur Wirklichkeit noch von Nutzen, finde ich zu mir und spende mir Trost.

Das Leben fröstelt mich. In meinem Leben gibt es nur feuchte Keller und lichtlose Katakomben. Ich bin die große Niederlage der letzten Armee und Stütze des letzten Imperiums. Ich empfinde mich am Ende einer alten, dominanten Zivilisation. Gewohnt, über andere zu befehlen, bin ich nun allein und verlassen. Bin ohne Freund, ohne Führer, ich, dem andere stets den Weg wiesen …

Etwas in mir bittet immerzu um Mitleid und weint über sich selbst wie über einen toten Gott ohne Kult und Altäre, seit die weiße Jugend der Barbaren die Grenzen stürmte, seit das Leben kam und vom Imperium zu wissen verlangte, was mit der Freude geschehen war.

Immer habe ich Angst, man könnte über mich reden. In allem bin ich gescheitert. Nichts habe ich gewagt, nicht einmal ans Sein zu denken, nicht einmal im Traum habe ich daran gedacht, daß ich es gern täte, denn selbst im Traum, im seherischen Zustand des reinen Träumers wußte ich, daß ich lebensunfähig war.

Kein Gefühl hebt meinen Kopf aus diesem Kissen, in das ich ihn vergrabe, weil ich nicht zurechtkomme mit dem Körper, nicht zurechtkomme mit der Vorstellung, daß ich lebe, ja, nicht einmal mit der absoluten Vorstellung von Leben.

Ich spreche nicht die Sprache der Wirklichkeiten und taumle umher zwischen den Dingen des Lebens wie ein Kranker, der sich zum ersten Mal seit langem wieder aus seinem Bett erhoben hat. Nur im Bett ist das Leben für mich normal. In meinem dahingesunkenen Zustand erfreut mich jedes Fieber wie etwas Normales. Ich zittere wie eine Flamme im Wind, bin wie betäubt. Nur in der toten Luft geschlossener Zimmer atme ich die Normalität meines Lebens.

Nicht einmal nach Meeresbrisen empfinde ich noch Sehnsucht. Ich habe mich damit abgefunden, daß meine Seele ein Kloster ist und ich für mich nicht mehr bin als ein Herbst über dürren Feldern, mit einem Leben, weniger lebendig als der Widerschein eines im gewölbten Dunkel der Weiher verlöschenden Lichtes, weniger kraftvoll und farbig als der violette Glanz des Exils der über den Hügeln untergehenden Sonne.

Im Grunde ist mein einziges Vergnügen das Analysieren meines Schmerzes, meine einzige Lust das morbide Tröpfeln der Empfindungen, wenn sie sich auflösen und verflüchtigen – leichte Schritte im ungewissen Schatten, sanft für unser Ohr, und wir sehen uns nicht einmal um, wollen nicht wissen, wem sie gehören, leise, ferne Lieder, deren Worte wir nicht zu fassen suchen und die uns eher mit der Unentschiedenheit ihrer Worte beruhigen als mit der Ungewißheit ihrer Herkunft; zarte Geheimnisse bleicher Gewässer, […] nächtliche Räume mit leichten Fernen füllend; das Bimmeln ferner Straßenbahnen, zurückkehrend woher? und mit ihnen welche Ausgelassenheit?, die man hier nicht hört, schläfriges Bimmeln in der lauen Trägheit dieses Nachmittags, an dem der Sommer sich an den Herbst vergißt … Die Blumen im Garten sind gestorben und welk andere Blumen – älter, nobler, in ihrem verblichenen Gelb näher dem Geheimnis, der Stille, der Verlassenheit. Die Wasserblasen an der Oberfläche der Weiher haben ihren Daseinsgrund in den Träumen. Das ferne Quaken der Frösche! O leblose Landschaft in mir! O traumhaft bukolische Ruhe! O mein Leben, belanglos wie das eines Landstreichers, der müßiggeht, seinen durchscheinend frischen Schlaf am Wegrand schläft, während ihm der Duft der Wiesen wie Nebel in die Seele weht, tiefgehend und voll Ewigkeit wie alles, das nichts an nichts bindet, nächtlich, Nomade und müde unter dem kalten Mitleid der Sterne.

Ich folge dem Lauf meiner Träume, schlage aus den Bildern Treppen zu anderen Bildern, entfalte zufällige Metaphern wie einen Fächer in große inwendig sichtbare Gemälde, löse das Leben von mir, lege es beiseite wie ein zu enges Kleidungsstück. Ich verstecke mich zwischen Bäumen fern der Straßen. Ich verliere mich. Und es gelingt mir, für einige leicht vergehende Augenblicke, meinen Geschmack am Leben zu vergessen, meine Vorstellung von Licht und Geschäftigkeit zu begraben und in all meinen Wahrnehmungen bewußt und absurd mit einem Reich beklemmender Ruinen aufzuräumen und unter Siegesbannern und Trommelwirbeln einzuziehen in eine große letzte Stadt, in der ich nichts beweinte und nichts erbäte, nicht einmal von mir selbst das Sein.


Mich schmerzt die Oberfläche des Wassers der Weiher, die ich träumte. Mein ist die Blässe des Mondes, den ich über Waldlandschaften erschaue. Mein ist die Müdigkeit dieses Herbstes verharrender Himmel, den ich erinnere, nie aber sah. Ich spüre das Gewicht all meines toten Lebens, all meiner armseligen Träume, all dessen, was mein war und mir nicht gehörte im Blau meiner inneren Himmel, im sichtbaren Klingen meiner Seelenflüsse, in der weiten, rastlosen Ruhe der Weizenfelder, die ich sehe und nicht sehe.


Eine Tasse Kaffee, ein wenig Tabak, dessen Aroma einen beim Rauchen durchdringt, die Augen fast geschlossen in einem abgedunkelten Raum … dies und meine Träume, mehr will ich nicht vom Leben … Wenig? Ich weiß nicht. Wie kann ich wissen, was wenig ist und was viel?

Draußen ein Sommernachmittag, wie gerne wäre ich ein anderer … Ich öffne das Fenster. Draußen ist alles sanft, doch setzt es mir zu wie ein unbestimmter Schmerz, wie ein Anflug von Unzufriedenheit.

Und ein Letztes quält mich, zerreißt mich, zerpflückt mir die Seele: Ich, der ich hier und jetzt an diesem Fenster stehend, diese traurigen, sanften Dinge denke, müßte ästhetisch sein, schön, eine Bildgestalt – doch ich bin es nicht, nicht einmal das …

Dieses Hier und Jetzt möge Vergangenheit und Vergessen anheimfallen … Die Nacht möge kommen, groß und größer, sich über alles legen und nie mehr aufstehen. Diese Seele möge für immer mein Grab sein und […] ganz Schatten und ich nie mehr imstande, ohne Gefühle noch Wünsche zu leben.


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