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9. 6. 1934
Hält der Sommer Einzug, werde ich traurig. Eigentlich müßte das strahlende, wenn auch grelle Licht der Sommerstunden einem, der nicht weiß, wer er ist, wohltun. Aber nein, mir tut es nicht wohl. Zu stark ist der Kontrast zwischen dem äußeren, überschäumenden Leben und dem, was ich fühle und denke, ohne fühlen oder denken zu können – Leichnam meiner nie begrabenen Empfindungen. Mir ist zumute, als lebte ich in diesem grenzenlosen, Weltall genannten Vaterland unter einer politischen Tyrannei, die, auch wenn sie mich nicht direkt bedrückt, so doch ein verstecktes Prinzip meiner Seele beleidigt. Dann befällt mich langsam und dumpf die Sehnsucht nach einem künftigen, unmöglichen Exil.
Mir ist vor allem nach Schlaf. Nicht nach einem Schlaf, der latent wie jedes Schlafen – selbst krankhaftes – das physische Privileg der Ruhe mit sich bringt. Nicht nach einem Schlaf, der, weil er das Leben vergessen macht und vielleicht Träume schenkt, auf dem Tablett, mit dem er sich unserer Seele nähert, auch die milden Gaben eines großen Verzichts bringt. Nein: Dies ist ein Schlaf, der nicht zu schlafen vermag, der auf den Lidern lastet, ohne sie zu schließen, und mit einem spürbar dummen, angewiderten Ausdruck unsere bitter ungläubigen Mundwinkel verzieht. Dies ist ein Schlaf, wie er bei Ianger Schlaflosigkeit der Seele unnütz auf dem Körper lastet.
Einzig wenn die Nacht kommt, verspüre ich in gewisser Weise, wenn auch nicht Freude, so doch Entspannung, die ich, weil andere Stunden der Entspannung angenehm sind, dank einer Entsprechung der Sinne ebenfalls als angenehm empfinde. Dann verfliegt der Schlaf, und der verwirrende geistige, durch den fehlenden Schlaf verursachte Dämmerzustand läßt nach, klart auf, erhellt sich fast. Für einen Augenblick erwacht die Hoffnung auf anderes. Doch sie ist kurz. Oberhand gewinnt ein hoffnungsloser, müder Überdruß, das böse Erwachen eines Menschen, der keinen Schlaf gefunden hat. Und vom Fenster meines Zimmers aus sehe ich arme, vom Körper müde Seele Sterne; unzählige Sterne, nichts, das Nichts, doch unzählige Sterne ….