Die Tränen der armen, schwindsüchtigen, verlassenen Ka-terina Iwanowna schienen auf die Versammelten einen tiefen Eindruck zu machen. Es lag so viel Erbarmenswertes, so viel Leidendes in diesem schmerzverzerrten, verdorrten, schwind-süchtigen Gesicht, in diesen ausgetrockneten, mit geronnenem Blut verschmierten Lippen, in dieser heiser schreienden Stimme, in diesem schluchzenden Weinen, das dem Weinen eines Kindes glich, in diesem vertrauensvollen, kindlichen und dabei verzweifelten Flehen um Schutz, daß alle mit der Unglücklichen Mitleid zu haben schienen. Wenigstens hatte Pjotr Petrowitsch sogleich Mitleid mit ihr.

»Gnädige Frau! Gnädige Frau!« rief er in eindringlichem Ton, »Sie haben damit doch gar nichts zu schaffen! Niemand wird es wagen, Sie einer bösen Absicht oder auch nur des Einverständnisses zu bezichtigen, um so weniger, als Sie selbst ja die Tat entdeckten, indem Sie ihr die Taschen umdrehten; folglich konnten Sie ja gar keine Ahnung davon haben. Ich bin sofort bereit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, wenn die Armut Sofja Semjonowna zu diesem Schritt bewogen hat; aber weshalb wollten Sie Ihren Diebstahl nicht eingestehen, Mademoiselle? Fürchteten Sie die Schande? War es das erste-mal? Vielleicht hatten Sie den Kopf verloren? Das wäre sehr begreiflich ... Aber weshalb sich schließlich auf so etwas ein-lassen! Meine Herrschaften!« wandte er sich jetzt gleichsam an alle Anwesenden, »meine Herrschaften! Da ich Mitleid und sozusagen Mitgefühl mit Ihnen habe, bin ich bereit, Ihnen selbst jetzt noch zu verzeihen, ungeachtet der persönlichen Beleidigungen, die mir zugefügt wurden. Die heutige Schande soll Ihnen eine Lehre für die Zukunft sein«, wandte er sich an Sonja; »ich lasse das weitere auf sich beruhen und unter-nehme in Gottes Namen nichts mehr. Schluß damit!«

Pjotr Petrowitsch warf einen Seitenblick auf Raskolnikow. Ihre Augen trafen sich. Der flammende Blick Raskolnikows war bereit, ihn zu durchbohren. Indes schien Katerina Iwanow-na nichts mehr gehört zu haben. Wie eine Wahnsinnige um-armte und küßte sie Sonja. Auch die Kinder umfingen Sonja von allen Seiten mit ihren dünnen Armen, und Poljetschka – die übrigens nicht ganz verstand, worum es ging – schien in

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