sehen Erzähler, einem Mörder aus Eifersucht, in den Mund. So entstand der Leidensbericht über eine wahre Hölle, die Gegen-welt der Strafkolonie mit ihren eigenen Lebensregeln und Menschentypen. »Diesseits lag eine eigene, besondere Welt, die nichts gemein hatte mit irgend etwas anderm; hier galten eigene, besondere Gesetze, hier trug man eine besondere Tracht, hatte eigene Sitten und Gebräuche, es war ein lebendiges Totenhaus, ein Leben wie nirgendwo sonst auf der Welt; auch die Menschen darin waren besondere Menschen.« Vor allem beschäftigte ihn dabei die Psychologie des Verbrechers, des Verbrechens, die Normalität des Anormalen, der unbändige Freiheitsdrang des Menschen, die Frage nach Reue oder Schuldbewußtsein und schließlich nach dem Sinn von Strafen. Die Existenz im Toten Hause, das Abgeschnittensein vom »lebendigen Leben« hatte er als das Schrecklichste empfunden, weshalb ihm die wiederge-wonnene Freiheit, wie er in seinem Buch schreibt, wie eine »Auferstehung von den Toten« erschien.

Nach beinahe zehn Jahren konnte Dostojewskij ins europäi-sche Rußland und bald auch nach Petersburg zurückkehren. Dort empfing ihn eine völlig veränderte Atmosphäre: nach dem verlorenen Krimkrieg und dem Tod des Zaren 1855 hoffte man auf den neuen Zaren, Alexander II., erwartete von ihm Refor-men, eine Liberalisierung des politischen Lebens. Dostojewskij gründete schon nach einem Jahr gemeinsam mit seinem Bruder die Zeitschrift Wremja (Die Zeit) – es galt ja nun, den Lebensun-terhalt zu verdienen. Zugleich aber schuf er sich damit auch das Forum, wo er sich aktiv am kulturellen Leben beteiligen konnte. Wollte er doch mit seinen in schweren Jahren gewonnenen Einsichten zur geistigen Situation Rußlands und seinen Vorstel-lungen von Rußlands künftigem Weg in die öffentliche Diskus-sion eingreifen. Denn in der durch die neue Regierung ausgelö-sten Aufbruchstimmung stand die Zukunft Rußlands im Zen-trum der Auseinandersetzungen, war der alte Streit zwischen Slawophilen und Westlern aufs neue entbrannt. Dostojewskij selbst teilte weder die Ansichten der Westler, die den Anschluß Rußlands an Westeuropa und seine Kultur propagierten, noch die Ideale der Slawophilen, die das wahre Rußland in der vorpe-trinischen Zeit sahen und an diese alten Zeiten anknüpfen woll-

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