lange auf ihn gewartet zu haben. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschrocken vom Diwan und richtete sich vor Raskolnikow auf. Ihr Blick, unbeweglich auf ihn gerich-tet, zeigte Entsetzen und untröstliches Leid. An diesem Blick allein schon erkannte er sofort, daß sie alles wußte.

»Darf ich zu dir kommen, oder soll ich weggehen?« fragte er mißtrauisch.

»Ich habe heute den ganzen Tag bei Sofja Semjonowna zugebracht; wir haben auf dich gewartet. Wir glaubten, du würdest unbedingt kommen.«

Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.

»Ich bin ziemlich schwach, Dunja; ich bin sehr müde; und ich möchte mich doch so gerne wenigstens in diesem Augen-blick ganz in der Gewalt haben.«

Mißtrauisch blickte er sie an.

»Wo warst du die letzte Nacht?« fragte sie.

»Ich erinnere mich nicht genau; weißt du, Schwester, ich wollte einen endgültigen Entschluß fassen und ging immer wieder die Newa auf und ab, daran erinnere ich mich. Dort wollte ich allem ein Ende machen, aber .. . ich konnte mich nicht entschließen ...« flüsterte er, während er Dunja aber-mals mißtrauisch ansah.

»Gott sei gelobt! Und wie haben Sofja Semjonowna und ich gerade das befürchtet! Du glaubst also noch ans Leben? Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Raskolnikow lächelte bitter.

»Ich war nie gläubig, aber jetzt haben Mutter und ich mit-einander geweint, und wir haben einander umarmt; ich bin nicht gläubig, aber trotzdem habe ich zu ihr gesagt, sie möge für mich beten. Gott weiß, wie das kommt, Dunjetschka – ich verstehe nichts davon.«

»Du warst bei Mutter? Hast du es ihr gesagt?« rief Dunja entsetzt. »Hast du es wirklich über dich gebracht, es ihr zu sagen?«

»Nein, ich habe ihr nichts gesagt ... nicht mit Worten; doch hat sie vieles begriffen. Sie hat dich heute nacht phan-tasieren hören. Ich bin überzeugt, daß sie die Hälfte schon

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